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Grenzenlos: Der Traum vom Surfbrett

Die 12-jährige Tochter von Tagesspiegel-Leserin Heide Binner verfolgte am frühen Morgen des 10. November schlaftrunken die Nachricht vom Fall der Mauer und hatte nur einen Gedanken. Das Mädchen aus Rudow wollte endlich ein Surfbrett. Denn die Gewässer von Grünau rückten in greifbare Nähe.

„Is’ ja geil, dann krieg’ ich ja bald `nen Surfbrett!“ Mit vom Schlaf noch plierigen Augen, den Rücken Wärme suchend an den Ofen gekuschelt, saß unsere zwölfjährige Henriette früh um halb sechs vor dem Fernsehapparat. Ich hatte sie geweckt. Das musste sie sehen! Weltgeschichte war passiert und wir hatten sie verschlafen. Ein Anruf hatte mich ein paar Minuten zuvor aus dem Bett gerissen. “Machen Sie den Fernseher an!“, rief mir eine fremde Stimme eilig zu. Es war kurz nach fünf Uhr am Morgen!

„Ein Irrer”, war mein erster Gedanke. Kopfschüttelnd stieg ich zurück ins warme Bett. Friedel war seit einer viertel Stunde auf dem Weg zum Dienst im Schlosspark, was sollte der Anruf? Tschernobyl und andere Katastrophen gingen mir durch den Kopf. „Doch kein Irrer, sondern eine Form nationaler Notruf ?“ An Einschlafen war nicht mehr zu denken, lohnte kaum, in einer halben Stunde musste ich ohnehin aufstehen – warum nicht sicherheitshalber mal gucken?

Ich ging hinunter ins Wohnzimmer, schaltete den Apparat ein und konnte nicht glauben, was es da zu sehen gab. Jubelnde, weinende, irritierte und lachende Menschen allen Alters strömten durch die Übergänge der Berliner Mauer, Trabi-Karawanen auf dem Ku'damm, hilflose Vopos an den Grenzübergängen.  Nun empfand ich auch, was in meinem unbekannten Anrufer vorgegangen war. Das konnte man nicht alleine genießen! Das Wissen nicht für sich behalten. Zwar riss ich nicht wildfremde Menschen vor Begeisterung aus dem Schlaf, aber Jette, die musste das unbedingt jetzt gleich und sofort sehen! Und da saß sie nun, fror, kämpfte noch um den klaren Blick, aber hatte die Situation erfasst und freute sich auf ein Surfbrett – reduzierte das deutsche Wunder auf den weltpolitisch kleinstmöglichen Punkt: ihren Wunsch,  im nahen Grünau Surfen zu lernen.

Im geteilten Westberlin wäre das natürlich auch möglich gewesen, Wasserflächen gibt es reichlich, aber alle waren nur mit vielen Kilometern Anfahrtsweg für uns Rudower zu erreichen.  Bei einer der häufigen Diskussionen des vergangenen Sommers zu diesem Thema, hatte ich meine Weigerung, für sie und mit ihr, immer bis zum Wannsee oder nach Tegel fahren zu sollen, mit den Worten abgemildert „Ja, wenn wir nur nach Grünau fahren könnten..., das liegt fast um die Ecke...“ und nun würde ich also können!

Heide Binner

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