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Mauerfall in England: Auf die Sowjetunion tippen, heißt auf Loser tippen

Im November 1989 hatte Stephen Bench-Capon, Engländer und damals drei Jahre alt, wenig Sinn für weltverändernde Ereignisse. Hier erzählt er, wie er sich dennoch vor dem Sozialismus gerettet fühlt.

Ich tanzte nicht auf der Mauer. Ich war nicht mal am 4. November aufm Alexanderplatz. 1989 hatte ich ehrlich gesagt kein Interesse an den Ereignissen in der DDR. Ich bin nicht blöd. Ich war halt damals drei Jahre alt und wohnte in einem kleinen Städtchen unweit von Liverpool. Da wuchs ich auf.

In England aufwachsen heißt den Underdog lieben. Eddie "The Eagle", der Skispringer der späten 80er, der wiederholt bei WM und Olympischen Spielen nicht vom Fleck kam, ist genau so ein Folkhero wie Jimmy White, siebenmaliger Snookerweltvizemeister. Ist auch klar. Es gäbe nicht an jeder Ecke ein Wettbüro, wenn nicht tausende Leute bereit wären, ihr Geld auf Loser zu setzen.

Deswegen bin ich auch Tottenham-Fan. Der (damals alleinige) Rekordmeister und Lokalverein FC Liverpool wäre eine logischere Wahl gewesen, aber Tottenham samt Klinsmann hat 1995 bei einer 1:4-Niederlage im F.A.-Cup-Halbfinale gegen den FC Everton mein Herz gewonnen. Wer verliert ist sympatisch. Und es hat auch einen bestimmten Charme, einen Wettzettel zu zerreißen.

Was hat das denn mit dem Mauerfall zu tun? Im Kalten Krieg waren die Underdogs offensichtlich die Sowjetunion, die DDR und das ganze sozialistische System. Das hätte also seinen Anreiz gehabt. Dazu prägen ja die Geschichten von Robin Hood jedes englische Kind damit, dass es, naja, heldenhaft ist, von den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben. Also nicht schlecht dieser Sozialismus, hätte man gedacht.

Auch jetzt kommt es nicht selten vor, dass ich mich nach einer von mir nur im Traum erreichbaren Welt sehne, wo man keine Riesenauswahl bei allem hat, wo man nicht zwischen Iod-Fluor- und Chlorsalz zu entscheiden hat - wo es irgendeine Behörde gibt, vielleicht gar ein Salz-Experten-Department, die sich für mich um diese Entscheidung kümmert.

Warum bin ich denn froh, nie die Chance gehabt zu haben, diese Traumwelt zu sehen, wenn ich für deren Ideen so anfällig bin? Weil ich gefallen wäre. Und zwar direkt auf die Nase. Ich hätte ohnehin Russisch in Cambridge studiert und da stünden die Türen der Spionagenwelt weit offen. Klingt cool, ist aber wohl nicht so easy, wie es bei James Bond immer aussieht. Und schon gar nicht auf der anderen Seite.

Denn der Kalte Krieg war kein Fußballspiel. Wenn es dir schlecht ging, brachte dich eine Runde Buhrufe nicht so weit. Außer in den Knast. Auch wenn ich nicht Spion, bloß normaler Überläufer wäre, wäre es wohl mit dem Mangelstaat und dem ganzen Unrecht dann doch nicht so hervorragend gewesen, vor allem weil man aus englischen Höflichkeitsgründen nicht mal hätte sagen können, dass man doch lieber zurückgehen würde. Unsere Tories werden ja auch im Lissabon-Europa bleiben.

Es gäbe übrigens keinen Lissabon-Vertrag ohne die Wiedervereinigung - noch eine Leistung. Vor allem aber ist das Dümmste, was ich jetzt machen kann, mein Geld für CCCP-Trikots und Trabi-Safaris wegzuschmeißen. Der Mauerfall hat Millionen befreit und mich persönlich vor mir selbst geschützt. Also bin ich den friedlichen Revolutionären unendlich dankbar, dass sie das Ganze rechtzeitig zu Ende brachten, ehe ich alt genug war, mein Leben aufs falsche Pferd zu setzen.

Stephen Bench-Capon

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