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© Mike Wolff

Zu Hause: VEB - Vatis eigener Betrieb

Kiefern zu Wandregalen – mit dieser Parole wuchs unser Autor Ulf Lippitz auf. Denn das Ikea seines Vaters war der Mecklenburger Wald. Ein Kindheitstrauma.

Plötzlich hörte das Kreischen auf, wie bei einem Baby, das mit einem Mal nicht mehr schreit. Die Stille schien unendlich. Ich spürte, dass etwas passiert war – und als ich das Blut sah, wie es über die Hand meines Vaters floss, war aus dem Gefühl Gewissheit geworden.

Die Kreissäge hatte ihn am rechten Zeigefinger erwischt, die Blätter hatten tief ins Fleisch geschnitten, rotierten noch lautlos, bis mein Vater die Höllenmaschine ausschaltete, er selbst wie auf Autopilot geschaltet. Er schrie nicht, fluchte nicht, heulte nicht. Ich weiß noch, dass er mit einem entschuldigenden Lächeln zu meiner Mutter in den Garten lief, sie kurz aufseufzte – und dann gingen sie in den Keller, wo der Verbandskasten und eine Tetanus-Spritze lagen. Meine Eltern: Zwei Ärzte, ausgestattet mit einem ausgeprägten Sinn für Pragmatismus und Heimarbeit.

Nach dem ersten Schock beschlichen mich Schuldgefühle. Denn ich frohlockte. Weil ich wusste, der Möbelbauwahn meiner Eltern würde heute ruhen müssen. Ich würde keine Minute mehr mit dem verdammten Kiefernholz verbringen, das mein Vater zuschneiden wollte.

Wahn ist ein starkes, ungerechtes Wort, aber nur in der ignoranten Übertreibung hielt ein 11-Jähriger die stumpfen Nachmittage am Samstag aus. Wenn mein Vater es wieder geschafft hatte, einen Anhänger Holz zu organisieren, der aus den reichen Wäldern Mecklenburgs kam, wenn er gellend in der Einfahrt pfiff – dann war das das Zeichen, jetzt den braunen ASV-Trainingsanzug, einen alten Pullover und die Gummistiefel anzuziehen. Kiefernholz riecht seitdem für mich nach dem Ende der Kindheit, als man nicht mehr jung genug fürs Spielen, aber noch nicht alt genug für rebellisches Aufbäumen war – und genau richtig für den ersten Geschmack der Arbeitsfron in der elterlichen Garage.

Für meine Eltern war der Wald ihr Ikea; der Stoff, aus dem ihre Wohnträume, aus dem Regale und Schränke, Treppen, Betten, Zäune und Deckentäfelungen gemacht wurden.

Dieser „Wahn“ hatte seinen Ursprung in einem für die DDR typischen Mangel. Auch Mitte der 80er Jahre waren Möbel noch knapp und teuer. Um sie zu bekommen, brauchte man Geduld und Beziehungen. Kannte man jemanden in einer Produktionswerkstatt oder einem Möbelgeschäft, besaß man eine größere Chance, an eine neue Schrankwand zu kommen. Und die DDR war das Land der Schrankwände. Nur: In ordentlicher Zahl wurden sie nie produziert. In meiner Erinnerung schien es im Überfluss nur Torten-Sets, Vasen und Untersetzer aus durchsichtigem Plastik zu geben. Das reichte nicht für eine Inneneinrichtung.

Es war dieser Mangel und ein latent schlummernder Gestaltungswille, der eine flächendeckende Heimwerker-Kultur förderte – selbst unter Akademikern. Die Wochenend-Zimmerei war eine Form der Improvisationsgesellschaft.

Wenn es etwas nicht gab, behalf man sich selbst. Menschen kellerten Apfelsaft ein, nähten sich Kleider oder bauten Spielzeug. Meine Großmutter lehrte uns, die dreilagigen Servietten aus dem Westen mit Spucke und Fingerspitzengefühl in drei einlagige zu trennen. So hatten wir länger was davon. Es herrschte ein Gefühl des „Wir können es selbst besser“ – und deshalb tauschte man am Samstag ganz selbstverständlich den Doktorkittel gegen wattierte Arbeitskleidung ein.

Mein Vater war ein leidenschaftlicher Handwerker. Er hämmerte, schraubte und sägte, was das Material hergab. Unser Eigenheim wuchs langsam zu einer Ausstellungsfläche seiner Fertigkeiten heran. In den Herbstferien 1985 überraschte er mich zum Beispiel mit der Ankündigung, mein gesamtes Zimmer neu zu gestalten. Raus mit den klapprigen Furniermöbeln aus den 70er Jahren, rein mit den ehrlich geleimten Regalen.

Ich war bereits abgebrüht genug, um zu wissen: Meine Ferien waren hinüber. Und tatsächlich verbrachte ich öde Stunden damit, Holz aus dem Gartenschuppen in die Garage zu tragen, es mit genauem Maß an die Kreissäge zu legen, die zurechtgeschnittenen Bretter zu halten, während mein Vater sie geduldig zusammenschraubte oder leimte, sie schließlich zwei Treppen hinauf zu tragen, wo wir sie zu einer Regalwand montierten. Ich hätte lieber West-Fernsehen gesehen oder Karl-May-Bücher gelesen. Mein stummer Aufschrei bestand in einem wahrscheinlich gelangweilten Gesichtsausdruck und einer nicht übermäßig schnellen Auffassungsgabe.

Ich hatte einen unerwarteten Verbündeten im Arbeitslager, pardon: in der Garagen-Werkstatt. Mein älterer Bruder hasste dieses ständige Herumtragen von Holzlatten genauso inbrünstig wie ich (bald gab es drei Möglichkeiten, Holz zu lagern und damit drei Möglichkeiten, Holz nach Belieben umzustapeln). Das war vielleicht der einzige Punkt, an dem wir übereinstimmten. Und wir waren beide keine begnadeten Handwerker. Was meine Eltern vielleicht als ein Stück persönliches Versagen interpretierten – wie sollen die Kinder denn später mal überleben? –, war für uns ein Triumph. Wir konnten unseren Eltern die Stirn bieten: mit purem Dilettantismus. Wir waren zu blöd, Nägel richtig in Holzpaneele zu hämmern. Wir waren zu sorglos, um den Leim richtig trocknen zu lassen. Und von Bohrern ließen wir früh die Hände. Ich habe bis heute einen Heidenrespekt vor Maschinen, die plötzlich in meiner Hand aufheulen wie ein unberechenbares Jaguar-Baby.

Nur einmal habe ich versucht, mich dem Do-It-Yourself-Druck zu beugen. Zwei Häuser weiter lebte der Kreisarzt, seinem Sohn schenkte er einmal eine Drehermaschine, an der ich mich unter Anleitung selbst ausprobierte. Aus einem gehackten Stück Holz drehte ich einen klobigen Kerzenständer, die Rillen waren unterschiedlich groß und dick, am Ende sah das Ding aus wie ein kunstvoll verwachsener Baumstumpf. Aber für einen Moment war ich stolz. Ich schenkte das Ding meiner Mutter. Sie freute sich – so wie sich Mütter über jedes Kritzekrakeln des eigenen Kindes freuen.

Als ich mit 18 Jahren auszog, stellte sie es wortlos in mein Zimmer – es war schwer auszumachen, ob das eine Hommage oder eine Mahnung war.

Ich verstand bereits früh, dass mein Gestaltungswillen nicht ausreichte, um Talent zu entwickeln. Ich war nicht penibel genug. Und diese Fähigkeit brauchte man, um mit Perfektion ein haltbares Möbelstück zu bauen. Meinem Vater gelang das: Seine Regale, das Bett und der Schrank sahen besser aus als alles, was es in DDR-Möbelgeschäften gab. Das helle Holz, die relativ dünnen Streben, die kunstvoll geschliffenen Paneele, all das gab seinem Entwurf für mein Kinderzimmer eine gewisse Leichtigkeit, die ich später erst wieder bei Ikea entdeckte.

Und ich muss zugeben, dass die Möbel meines Vaters gerade und aufrecht im Raum stehen, mit der Wasserwaage perfekt austariert (einen Prozess, den ich hasste, weil er bedeuten konnte, alles noch einmal zu beginnen, sollte diese Blase nicht genau in der Mitte liegen). Dagegen habe ich viele Ikea-Regale in meinem Leben gesehen, die sich wie Trauerweiden bedenklich neigten.

Mein Vater war ein Samstagnachmittags-Profi – und ist es bis heute. Wenn ich zu meinen Eltern fahre, sehe ich ihn auf dem Grundstück herumstromern, mit alter Kleidung, irgendeine Holzlatte auf dem Arm. Er ist glücklich, wenn er etwas bauen kann. Als ich in meine Wohnung in Berlin einzog, inspizierte er die Küche, hörte sich meine Ideen an – und stand mit meiner Mutter unter einem kollektiven Schock, als ich verkündete, keine Hängeschränke haben zu wollen. „Keine Hängeschränke?“, rief meine Mutter, als hätte ich ihr eröffnet, ich sei drogenabhängig. Mein Vater bot sich an, welche zu bauen. Ich musste hartnäckig darauf bestehen, in meiner Wohnung meine Vorstellungen durchzusetzen. Immerhin eine dringend benötigte Garderobe zimmerte er mir. Ich half ihm wie üblich, hielt die Dübel, Schrauben und Bleistifte und reichte ihm alles im richtigen Moment. Dann stand mein Vater wieder in der Küche, sah die Lücke zwischen zwei Wänden und brummte vor sich hin: „Hier könnte ich dir noch ein Regal einbauen.“

Plötzlich hörte ich dieses Kreischen der Säge, sah das Blut – und schüttelte lächelnd den Kopf.

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