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Gesellschaft: Du brauchst jetzt Übergangskleidung

Von Esther Kogelboom

Einer der zentralen Vorteile des Frauseins besteht darin, dass wir im Sommer nur ein einziges Kleidungsstück brauchen, um angezogen zu sein: ein Kleid. Leider ist noch nicht Sommer. Gleichzeitig ist es deutlich zu warm für den bodenlangen Steppmantel. „Du brauchst eine Übergangsjacke, vielleicht einen leichten Anorak“, sagt meine Oma, die 85 Jahre nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder und deren Puppen eingekleidet und nebenher 10 000 Paar bunte Wollsocken für Kriegs, Hunger,- Aids- und Flutwaisen gestrickt hat. Sie muss es wissen.

Ich suchte also in Mango-, Zara-, Esprit- und H&M-Filialen nach einem leichten Anorak. Was dort auslag: Trenchcoats in allen Farben des Regenbogens (nicht mehr in meiner Größe), Baseball-Blousons in allen Farben des Regenbogens (zu sportiv) und Safari-Jacken mit Schulterklappen (Berlin ist nicht Afrika). Was dort nicht zu finden war: eine Jacke, die mir gefiel, die passte und die ich mir leisten konnte.

In der Übergangszeit 2004 gab es einen Tag, an dem es plötzlich wahnsinnig warm wurde und ich deutlich zu dick angezogen war. Ich erinnere mich gut daran, unter anderem, weil ich an diesem Tag zum ersten Mal meine Augenlider anschwellen zu fühlen glaubte. Ich ging mit rotgeränderten Säuferaugen zu H&M und kaufte für 9,90 Euro ein gestreiftes T-Shirt – damals ahnte ich nicht, dass es in Wirklichkeit Feinstaub war, der sich unter meinen Lidern sammelte.

Nachdem ich das T–Shirt an der Kasse bezahlt hatte, wollte ich es in einer der Umkleidekabinen anziehen, doch die waren alle von anderen aufgequollenen Frauen besetzt. Also positionierte ich mich in einer Ecke in dem Umkleidebereich, streifte den verschwitzten Pullover ab, entfernte das Preisschild mit der vertrauten Reißbewegung und zog das neue T-Shirt über. Dabei beobachtete mich ein fremder Mann, der mit Frau und Kinderwagen in der Schlange wartetete. Gerade, als ich das Geschäft verlassen wollte, baute er sich mit hochrotem Kopf vor mir auf und zischte: „Ich hab genau gesehen, wie du geklaut hast.“ Dann wurde er lauter: „Hallo, hallo, diese Frau hier hat was geklaut. Ich bin Zeuge.“ Dabei blickte er sich Beifall heischend um und deutete mit dem Zeigefinger auf mich.

Die ersten Passanten blieben stehen und verachteten mich ganz offensichtlich. Der Mann war aufgeregt, schien aber stolz zu sein. Wahrscheinlich dachte er an die Snoopy-Boxershorts, die er von H&M als Fangprämie bekommen würde. Die Frau und der Kinderwagen schauten mich ebenfalls sehr streng an.

Ich habe den Mann vor seiner Familie übel beschimpft, bevor die Kassiererin den Fall aufgeklärt hat. Es war so ungerecht! Schließlich habe ich nie geklaut (außer als Kind in Damp 2000 einen Labello und auf dem Höhepunkt einer Party von reichen Leuten zwei Oliven-Schälchen aus Porzellan). In Übergangszeiten bin ich gereizt und oft unpässlich bis hin zur Aggressivität. Ich hab’s lieber konstant warm, von mir aus auch konstant kalt. Plötzliche Klimaveränderung ist wie plötzliche Pubertät oder ein böser Leserbrief. Ehrlich: Ich habe überhaupt keine Lust, die Wechseljahre zu erleben.

Meine Oma hat die Wechseljahre naturgemäß überlebt, und auch sonst einiges. Ich habe sie angerufen, um ihr zu sagen, dass ich keinen leichten Anorak gefunden habe. „Was? In ganz Berlin gibt es keine Jacke für dich? Kind!!“ – „Oma, kein Grund zur Aufregung.“ – „Und Harald Juhnke ist auch tot.“

Jeder von uns bekommt reihenweise gut gemeinte Ratschläge. Unsere Kolumnistin, 29, überprüft alle 14 Tage einen davon auf seinen Wahrheitsgehalt.

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