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Sir Simon Rattle dirigiert die Berliner Philharmoniker beim Musikfest Berlin.

© Kai Bienert

Berliner Philharmoniker beim Musikfest: Simon Rattles strenges Paradies

Sir Simon Rattle dirigiert beim Musikfest Berlin in der Philharmonie Lutoslawski, Mahler und Janacek - und in England schwirren die Gerüchte um seine Zukunft.

Selbstverständlich gehören zum Musikfest auch die vielen kleinen und kleinsten Nachrichten aus der weiten Klassikwelt, die hier im Foyer der Philharmonie zusammenrückt. Wie sehr der verehrte Bariton in Salzburg zu kämpfen hatte, wie dieses Jahr die Stimmung bei den Proms in London war – und natürlich immer wieder die Frage: Wer wird auf Simon Rattle folgen, wenn er 2018 seinen Stab als Chef der Berliner Philharmoniker weiterreicht?

Darauf gibt es beim Musikfest bislang keinerlei Hinweise. Doch pünktlich zum heillos ausverkauften Auftritt von Rattle und seinem Orchester zur Festivalhalbzeit wehen Berichte aus England herüber, die zu wissen glauben, was Rattle für seine Zukunft plant. Der Maestro wolle zurück in die Heimat, da man in Deutschland seine geliebte englische Musik nicht wirklich schätze, heißt es da. Und: Rattle solle Valery Gergiev als Chef des London Symphony Orchestra ablösen. Der Russe, der 2014 die Münchner Philharmoniker übernimmt, will 2015 seinen Posten räumen. Wie das mit London genau funktionieren kann, darüber schweigen sich Times und Guardian aus. In Berlin jedenfalls plant man fest bis 2018 mit Rattle - und darüber hinaus. Es gilt als abgemacht, dass Sir Simon auch nach seinem Rücktritt regelmäßig Konzerte mit den Philharmonikern dirigieren wird.

An diesem Abend muss er am Pult zunächst nicht viel tun. Witold Lutoslawskis 2. Symphonie spielt vor allem im ersten Satz stark mit der von ihm entwickelten „begrenzten Aleatorik“. Sie lässt den Musikern genau definierte Räume, in denen sie vorgegebene Phrasen beliebig oft und in selbst gewähltem Tempo wiederholen können. Der Dirigent zeigt lediglich den Beginn des nächsten gemeinsamen Abschnitts an. Lutoslawski, der auch Mathematik studiert hatte, schuf dieses Verfahren als Reaktion auf John Cage, dessen herausforderndem Freiheits- und Kunstbegriff er klare Strukturen geben wollte. Ebenso mit seiner zweistufigen Dramaturgie, die zunächst neugierig, aber nicht satt machen soll, um dann auf einen Höhepunkt zuzueilen. Die Philharmoniker nehmen Lutoslawskis Einladung zum Schnarren, Schnattern und Flirren zunächst freudig auf. Dann drängen sie so entschlossen nach vorne, dass der skrupulös einkomponierte Trugschluss mit seinen vergeblichen Anläufen zu einem Finale in der allgemeinen Kraftentladung glatt verpufft.

Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ korrigieren diesen Eindruck nachträglich, denn hier dringt Bariton Christian Gerhaher in zarteste Gefühlsregionen vor – und Rattle und seine Musiker lassen sich in eine kammermusikalische Welt der stillen Erschütterung locken. Es kümmert den Sänger nicht, ob seine Stimme auch den allerletzten Winkel der Philharmonie druckvoll beschallt, weil er weiß, dass die Intensität seines Erlebens niemanden im Saal unberührt lassen wird. Ja, es liegt auch Schmerz im Wechsel in die Höhe, und man hofft, er sei so sehr sublime Kunst, wie Gerhahers gesamter Vortrag. Als Artist in Residence der Philharmoniker wird man ihn noch oft in dieser Saison hören können.

Rattle komplettiert seinen Musikfestbeitrag mit einem Werk, das er zuletzt vor dreizehn Jahren bei den Philharmonikern dirigiert hat, damals noch im Rahmen der Berliner Festwochen. Leos Janacek will mit seiner „Glagolitische Messe“ nicht in die Düsternis mittelalterlicher Klosterverliese führen, sondern ein fröhliches Bekenntnis zu Mensch, Natur und Leben feiern. Das liegt Rattle ebenso wie die vertrackten rhythmischen Rückungen der Partitur. Doch erscheint seine Interpretation nach intensiver Beschäftigung mit Strawinsky und Rachmaninow auch etwas fest und klanglich hochgeschlossen. Das böhmische Paradies, ein Ort strammer Emphase.

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