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Geh du voran. Kapitän Philipp Lahm (links).

© dapd

Führungsspielerdebatte: Die Sehnsucht der Nationalelf nach Typen wie Effenberg

Seit der EM wird die Nationalmannschaft von einer Debatte um Hierarchie und Führungsspieler verfolgt. Das Thema wird auch innerhalb des Teams diskutiert. Und es wird deutlich, dass die Atmosphäre bei der Meisterschaft keineswegs so harmonisch war, wie sie dargestellt wurde.

Als Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft reicht es offensichtlich nicht, nur im Hier und Jetzt zu leben; von ihm wird schon qua Amt erwartet, sich zeitig mit Themen zu beschäftigen, selbst wenn sie in einer noch so fernen Zukunft liegen. Also wurde Philipp Lahm am Sonntag gefragt, ob er eigentlich traurig sei, dass er definitiv kein Abschiedsspiel bekommen werde. Lahm feiert im kommenden Monat seinen 29. Geburtstag; bisher ist nichts davon bekannt, dass der Münchner ein baldiges Ende seiner Karriere plant. Aber immerhin wird ihm im deutschen Fußball eine abschiedsspielwürdige Bedeutung zuerkannt.

Seit zwei Jahren ist Lahm Kapitän der Nationalmannschaft, die am morgigen Dienstag im Berliner Olympiastadion in der WM-Qualifikation auf Schweden trifft. In Lahms Verantwortung als Spielführer fallen eine rauschhafte Weltmeisterschaft in Südafrika und eine nicht besonders erbauliche Europameisterschaft in diesem Sommer. Das erste Turnier wird weniger mit Lahm und seinem Wirken in Verbindung gebracht, das zweite dafür umso mehr. Seit der EM begleitet das Team eine hartnäckige Führungsspielerdebatte, in der immer wieder eine tiefe Sehnsucht nach Typen wie Stefan Effenberg durchbricht. Philipp Lahm vertritt eine eindeutig konträre Ansicht. Er taugt nicht zum Stinkstiefel – und will auch keiner sein.

Doch das Thema ist nicht kleinzukriegen. Erst Anfang voriger Woche hat Karl-Heinz Rummenigge, der Vorstandschef des FC Bayern München, in einem Interview mit dem „Kicker“ verkündet: „Ich halte nichts von flachen Hierarchien.“ Für Lahm ist diese Aussage doppelt brisant: weil er auch bei den Bayern Kapitän und Rummenigge dort sein oberster Vorgesetzter ist. Muss er seine Ansicht in dieser Angelegenheit nun also sozusagen auf höheren Befehl hin überdenken? „Es ändert sich überhaupt nichts“, antwortet der Kapitän. „Flache Hierarchie bedeutet für mich, dass es eine klare Hierarchie gibt, aber alle Spieler sich auf Augenhöhe begegnen. Heutzutage ist das ganz normal.“

Die herrschende Meinung im Nationalteam wird sich auch weiterhin von den populistischen Forderungen vieler Veteranen unterscheiden. Von einer basisdemokratischen Vereinigung namens Nationalelf kann zwar keine Rede sein, und auch die Existenz einer Hierarchie wird zumindest nicht generell infrage gestellt. Aber: „Hierarchie wird heute anders gelebt“, sagt Manager Oliver Bierhoff. „Es gibt nicht mehr die ganz harte Hackordnung: Du trägst das Tor, ich mache nichts.“ Dahinter steckt auch die Idee, dass sich alle für den Gesamterfolg verantwortlich fühlen sollen und sich im Zweifel nicht hinter dem breiten Rücken eines Führungsspielers wegducken. „Wir haben genügend Spieler, die Verantwortung übernehmen und führen wollen“, sagt Lahm.

Gerangel um Führungspositionen

Die Debatte fügt sich in ein Gesamtbild von der Nationalmannschaft, das aus mehreren Schichten besteht. Es geht nicht nur um die Frage, ob es überhaupt noch eine Hierarchie gibt. Es geht auch darum, wie diese Hierarchie jetzt eigentlich aussieht. Während der EM ist einiges in Bewegung geraten, vielleicht sogar ins Rutschen. Gerade Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um positiv in die Mannschaft hineinzustrahlen. An ihrer Stelle sind andere – Mats Hummels und Sami Khedira – stärker in den Fokus gerückt. Die Auswirkungen sind bis heute zu spüren.

Seit dem deprimierenden EM-Aus gegen Italien wabern einige Themen im Hintergrund, die noch niemand offen ausgesprochen hat, die aber immer wieder zwischen den Zeilen durchscheinen. Dass Schweinsteiger zum Beispiel zunehmend eifersüchtiger auf den offen ausgelebten Führungsanspruch seines Nebenmannes Khedira reagiert. Seine Rückkehr auf die große Bühne hat der Münchner entsprechend werbewirksam inszeniert.

Mit dem Hinweis auf mangelnden Teamgeist habe er die Mannschaft aber nicht kritisieren wollen, sagte der Münchner, „ich will sie besser machen. Wir müssen den einen Schritt noch mehr gehen, um Titel zu holen“. Schweinsteiger – so lautete die eigentliche Botschaft – sorgt sich ums große Ganze, während andere nur an ihr Ego denken. Lahm jedenfalls hat seinen Vereinskollegen ausdrücklich dafür gelobt: „Wenn jemand wie Bastian Schweinsteiger sich kritisch äußert, ist das sehr positiv. Da sollten alle die Ohren aufmachen und sich mal hinterfragen.“

Schweinsteiger hat aber eben auch ein Thema auf die Agenda gebracht, über das bisher nur geraunt wurde: dass die Atmosphäre bei der EM keineswegs so harmonisch war, wie sie dargestellt wurde. Die neue Rivalität zwischen Bayern und Dortmundern hat wohl doch tief in die Nationalmannschaft hineingewirkt. Es geht auch da um Einfluss. Jemand wie Mats Hummels ist schon von seinem Typus her alles andere als ein Duckmäuser. Und die Erfolge mit dem BVB haben sein Selbstbewusstsein ganz sicher nicht geschmälert. Entsprechend forsch ist Hummels im Nationalteam aufgetreten – nicht unbedingt zur Freude des alten Adels aus München, der nun um seine Vormachtstellung kämpft. Philipp Lahm sagt, es sei ganz normal, dass die Mannschaft sich nach einem großen Turnier neu finde. „Aber es gibt keine neue Hierarchie. Die Hierarchie ist klar. Es ist die alte.“

Ein bisschen Wunsch spricht wohl auch aus dieser Aussage.

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