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Sportler vom russischen Rollstuhlbasketballclub „Falcon“ beim Training.

© Nastja Arinushkina

Paralympics 2014: Leben und trainieren nach Sotschi

Bei den Paralympics 2014 in Sotschi hat die russische Mannschaft in der Gesamtwertung gewonnen und ganz Russland feierte seine Helden. Hat sich seitdem das Verhältnis zu Sportlern mit Behinderungen dort verändert? Ein Besuch.

Ein trüber Morgen am Rande Moskaus. Hier neben der U-Bahn Station Jassenewo befindet sich der Sportkomplex „Sodruschestwo“, wo der Rollstuhlbasketballclub „Falcon“ trainiert. Der Sportkomplex wird besonders geschützt. Um hineingehen zu können, muss man einige Schwierigkeiten überwinden. Dazu gehören ein paar Wächter mit Metallsuchgerät, eine Garderobenfrau, die auf eigene Initiative die Augen offen hält und am Ende noch eine Wächterin, die für die Videoüberwachung verantwortlich ist. Diese Frau ist der Meinung, dass man sich für Rollstuhlbasketballer gar nicht interessieren darf, zumindest nicht ohne speziellen Erlaubnis. Allerdings weiß die Wächterin nicht, von wem die Erlaubnis kommen soll.

Auch die Sportler selber zweifeln, ob sie mit Journalisten sprechen dürfen: „Man muss zuerst das Sportministerium anrufen, damit sie es erlauben. Ah, das ist für eine deutsche Zeitung? Dann geht es so... aber doch, dann ist es noch schlimmer!“, brummt Basketballer Sergej. Danach wird er aber wieder freundlich und lächelt: „Möchtest du Bonbons?“

Licht und Schatten - nur nicht in der U-Bahn

Der Sportverband der Rollstuhlbasketballer „Falcon“ wurde 1990 in Moskau gegründet - der erste Club in diesem Bereich. Danach wurden noch acht Clubs in Russland gegründet, darunter ein Frauenverband. Dennoch ist es verfrüht, hier von einem Erfolg zu sprechen. Rollstuhlbasketball ist ein teurer Sport: die Sportrollstühle kosten tausend Dollar, aber man kann sie nicht mit dem Sport finanzieren. Die professionellen Sportler, die ihre ganze Zeit beim Training verbringen, verdienen damit kein Geld.

Aber womit verdient man Geld, wenn man im Rollstuhl sitzt und in Russland wohnt? Viele Gehbehinderte haben ein Auto. Es ersetzt ihnen nicht nur die Beine, sondern auch das Büro, denn sie arbeiten als Taxifahrer. Die Invalidenrente ist winzig, eine Arbeit lässt sich kaum finden. Und als professionelle Sportler wäre man zudem hin und wieder für die Wettbewerbe abwesend - keinem Arbeitgeber dürfte das gefallen. Laut russischem Statistikamt wurden im Jahr 2014 3387 Menschen mit Behinderung auf einen Arbeitsplatz vermittelt. Allerdings gab es zu dieser Zeit in Russland insgesamt rund 13 Millionen Menschen mit Behinderung.

Einige positive Entwicklungen lassen sich jedoch in Hinblick auf die Barrierefreiheit erkennen - zumindest in Moskau. In „Sodruschestwo“ zum Beispiel gibt es Rollstuhlrampen, breite Durchgänge und Fahrstühle. Allerdings ist die U-Bahn-Station nicht barrierefrei. „In der Moskauer U-Bahn gibt es nur ein oder zwei Stationen auf der jeweiligen Linie, die mit Fahrstühlen ausgestattet sind. Man kann zum Spaß auf der Linie hin und her fahren, weil man nur auf derselben Station, wo man eingestiegen ist, wieder raus kann“, beschwert sich Basketballer Wladimir Pominow. Auch da, wo die Aufzüge vorhanden sind, kann man sie kaum benutzen. Normalerweise sind sie geschlossen und man muss erstmal einen U-Bahn Mitarbeiter rufen, der den Fahrstuhl öffnet. Allerdings befinden sich alle Mitarbeiter unten, wohin man eben mit dem Aufzug muss. „Es sieht so aus, als ob die Regierung sich um die Barrierefreiheit kümmert, aber praktisch haben wir nichts davon“, sagt Wladimir.

Dies sieht auch sein Kollege Iwan Parfeljuk so. Seiner Meinung nach gibt es momentan in der Stadt viel Initiative für die Barrierefreiheit, aber praktisch funktionieren sie nicht. „In meinem Haus gibt es ein Hubwerk, das kostete etwa 46000 Dollar und ich kann es nicht benutzen", sagt Iwan. „Glücklicherweise wohne ich im ersten Stock und habe gelernt, ohne das Hubwerk die Treppe hinauf zu kommen. Mit dem Gerät dauert es eine Ewigkeit und außerdem geht es immer wieder kaputt“. Doch was die beiden als besser als früher empfinden, ist die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Nun nimmt man sie als richtige Sportler wahr: „Nach den Spielen hat sich die Lage stark verbessert. Auch wenn man es uns trotzdem nicht immer glaubt, dass wir professionelle Sportler sind und nicht nur hilflose Behinderte“.

Kleine Rente statt Lohn

Nach Angaben des russischen Statistikamtes wohnten 2015 in Russland rund 12,45 Millionen Menschen mit Behinderung – eine halbe Millionen weniger als 2014. Diese Veränderung ist mit einer Weisung des Ministeriums für Arbeit und Sozialschutz verbunden. Infolgedessen verloren viele Menschen den Behindertenstatus und die Rente, die 2016 bei durchschnittlich 185 Dollar monatlich liegt. Das sind rund 17 Dollar mehr als im Jahr zuvor. Die Rente ist für Menschen mit Behinderung oft die einzige Geldquelle. Sie kann sich je nach Region und Behinderung unterscheiden. Iwan Parfeljuk beispielsweise bekommt 292 Dollar, was in Moskau eigentlich keine riesige Summe ist. „Ich wünschte, dass ich mit dem Sport Geld verdienen würde. Ich denke, so wäre es fair“, erzählt Iwan abends nach dem Training. „Auf unserer Kleidung steht „Mannschaft Russlands“ und wenn du sie anziehst, fühlst du dich unwohl. Man fragt uns, wie viel wir in der Mannschaft verdienen. Ja, gar nichts! Man glaubt es uns nicht, es kann doch nicht wahr sein! Aber so ist es und das finde ich schlecht“.

Wir sitzen bei dem jungen Sportler zu Hause. Obst auf dem Tisch, der Tee ist heiß - ein Kater namens Wassermelone schnurrt auf Iwans Knien, während er den Tisch deckt. Die Möbel in der Küche haben keine Ecken, damit man mit dem Rollstuhl überall durch kann. Aber besonders stolz ist Iwan auf sein eigenes Zimmer: Er hat es selbst ausgestattet, alle Möbel sind nach seinen Bedürfnissen konstruiert. Als Hobby macht ihm das Schreinern am meisten Spaß, neben dem Sport natürlich: „Ich mache nicht nur Basketball, sondern auch noch Radsport. In dem Bereich habe ich sogar noch mehr Erfolg und hoffe, dass ich es bis 2020 zu den Paralympics schaffe. Mit dem Rollstuhlbasketball habe ich eher wenige Chancen, die Mannschaft hat es bislang nur auf Platz vier in der Division B geschafft. Im Basketball hängt vieles vom Team ab, während man sich im Radsport auf sich selbst verlassen kann. Daher ist mir der Radsport näher“.

Ungünstige Bedingungen - große Erfolge

Hat der paralympische Sport in Russland eine Chance auf Popularität? Durchaus ja, aber der Prozess wird länger dauern: „Der Sport - nicht nur der paralympische - ist in unserem Land in einem Übergangsstadium“, erklärt Maksim Babjuk, Lehrer für Sportjournalistik der journalistischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität. „Auf der sozialökonomischen Ebene sind wir Jahrzehnte im Rückstand, was auch den Sport betrifft. Daher kann man die russischen Sportler nicht mit den westlichen vergleichen. Die haben diesen Weg etwa fünfzig Jahre früher begonnen und günstigere Bedingungen“.

Tatsächlich beginnt die Geschichte des paralympischen Sports in Russland erst mit dem Zerfall der UdSSR. Von diesem Standpunkt aus kann man durchaus positive Entwicklungen beobachten: In wenigen Jahren wurde eine ganze Infrastruktur geschaffen und die Sportler vorbereitet. Bei den Paralympischen Spielen erreicht die russische Mannschaft ständig erste oder zweite Plätze in der Gesamtwertung.

„Ich habe die Theorie, dass die Gewinne russischer paralympischer Sportler nicht durch Infrastrukturqualität oder Coachtalent bedingt sind, sondern durch Lebensumstände. Das ist natürlich nur eine reine Vermutung, aber man kann schon merken, dass die Menschen mit Behinderung in Russland viel mehr Schwierigkeiten in ihrem alltäglichen Leben haben, als die Menschen im Westen. Auch in Moskau oder Sotschi gibt es nicht überall den barrierefreien Raum, im übrigen Russland ist es noch schlimmer. Aber dadurch werden die russischen Sportler rein psychologisch besser auf Schwierigkeiten vorbereit“, sagt Babjuk.

Ich erzähle Iwan von dieser Idee und frage ihn, ob er die Theorie bestätigen kann. Der Basketballspieler streichelt seinen Kater Wassermelone und lächelt: „Alles kommt auf den Mensch an. Am Anfang einer Behinderung kann man noch gar nichts, außer im Rollstuhl zu sitzen. Aber dann begreift man, dass man entweder ein ganz normales Leben unter den gegebenen Umständen führen kann, oder nichts macht und sich nur beklagt“, sagt Iwan. Und gibt es etwas, was er als Mensch mit Behinderung nicht kann? „Hm, gute Frage... vielleicht die Decke waschen? Doch, dafür nehme ich den Wischmopp. Na dann, keine Ahnung: Ich kann ja alles!“

Die Autorin war Reporterin der Paralympics Zeitung bei den Winterspielen in Sotschi 2014.

Nastja Arinushkina

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