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Radrennen "Velo Classico" mit historischen Fahrrädern auf Landstrassen und Waldwegen rund um Ludwigslust.

© Thilo Rückeis

Retrotreffen: Ältesten-Rad in Ludwigslust

Der eine kommt in Tweed gekleidet, die andere fährt das gleiche Rad seit 1957: Einmal im Jahr reisen Fans alter Räder zur Velo Classico

Sie sind mindestens 30 Jahre alt, das ist Voraussetzung. Andere kommen aber schon auf 50, 70 oder gar 108 Jahre. Allesamt sind es Fahrräder, die Geschichten erlebt haben. Einige von ihnen sind in den ersten deutschen Fahrradfabriken überhaupt entstanden. Damals, als alles Handarbeit und das Fließband noch gar nicht erfunden war.

Heute und hier aber, in einer anderen Welt und einer anderen Zeit, werden diese Prachtstücke, manche von ihnen mit Holzreifen, wieder hervorgeholt. Sie werden stolz und fast schon verliebt herumgezeigt, zärtlich mit Blicken bedacht, vorsichtig berührt, ausführlich bewundert und dann wirklich auch gefahren. Willkommen auf der Velo Classico 2018, dem Radtreffen für Retro-Begeisterte!

Wirklich gefahren heißt auch wirklich gefahren. Da geht es einmal rum um Ludwigslust und durch den Mecklenburger Wald, auf gemütlichen Landstraßen, über ärgerliche Huckelpisten oder durch mühselige Sandwege. Die längste der Radrennstrecken, die Heldenrunde, ist 150 Kilometer lang. Wer daran teilnimmt, muss sein Fahrrad einer Prüfung unterziehen lassen. Denn auf der Heldenrunde sind nur klassische Rennräder bis zum Baujahr 1989 erlaubt, ausgestattet mit Riemenpedalen, Rahmenschaltung, offenen Bremszügen. Nicht zugelassen sind Klickpedale und Brems-Schalthebel-Kombinationen. Das passende Outfit ist Pflicht, doch dazu später mehr.

Mehr Tradition an einem Wochenende geht kaum

Um Schnelligkeit geht es bei dem Rennen nicht, keiner misst die Zeit, keiner fragt nach einem Platz. Das Einzige, was zählt, ist die Freude dabei. Ja, die Velo Classico macht richtig Spaß. Denn hier geht es um die Strecke und ihre vielen kleineren und größeren Zwischenstopps. Da warten echte Landfrauen in Traditionskleidern, die Schmalzstullen schmieren. Oder Förster, die Wildbret servieren, und Heimatvereine, die mit selbstgemachten Trüffeln und Blasmusik aufwarten. Mehr Land- und Heimatfeeling, mehr Tradition und Geschichte gehen an einem Wochenende nicht.

Jeden September fallen sie also ein, in das stolze Städtchen Ludwigslust in Mecklenburg-Vorpommern. Menschen, die die Markennamen und Jahrgänge ihrer alten Räder genauso schnell parat haben wie andere die aktuellen Fußball-nationalspieler: Diamant 1956, Mifa 1910, Peugeot 1972. Doch noch wichtiger als die Markennamen, das Alter der Sättel, die Herkunft der Lichtanlagen, ob die in der DDR oder noch in der Kaiserzeit hergestellt wurden, noch wichtiger sind die Lebensläufe dieser Räder und damit auch die ihrer Besitzer. Wo man mit ihnen nicht schon alles war. In Kanada, am Nordkap, in Syrien. Welcher Großvater sie welchem Händler abgeluchst hatte. Wie sie durch den Krieg gekommen sind. Diese Geschichten werden hier erzählt, in kleinen und großen Runden vor dem Startschuss.

Der Velo Classico Gründer Detlef Koepke
Der Velo Classico Gründer Detlef Koepke

© Thilo Rückeis

Blank geputzte Räder und Swing-Musik

Und dazu gibt es einen, man könnte ihn als Vater dieser Geschichten bezeichnen, weil er sie alle kennt. Detlef Koepke ist sein Name, herzliche Ausstrahlung, 58 Jahre. Er schüttelt Hände, er umarmt, er begrüßt, er bewundert. Koepke hat sich die Velo Classico ausgedacht, sie nach Ludwigslust gebracht. Und weil er begeistern kann, machen so viele mit. Polizei, Feuerwehr, Bürgermeister und Ortsvorsteher, die Streckenhelfer, die vielen anderen Ehrenamtlichen. Jahr für Jahr lockt er so mehr und mehr Menschen aus allen Ecken Deutschlands aufs Mecklenburger Land. Die alten Räder sind dabei nur Teil der Scharade. Karierte Tweed-Jackets, schicke Schirmmützen, Hosenträger, Knickerbocker, Lederschuhe, all das gehört auch noch dazu. 1920er-Jahre-Feeling.

Die Leute lachen. Die blank geputzten Fahrräder blitzen. Zur Swing-Musik stehen Menschen beieinander. Eine von ihnen ist Gudrun Berkholz. Wie sie unter ihrem Stroh-Sonnenhut hervorschaut, wirkt sie wie eine Lehrerin aus einem Astrid-Lindgren-Roman, mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Schule in Bullerbü. Auf dem Rücken trägt sie einen Lederrucksack, auf dem Gepäckträger eine Ledertasche, dazu hat sie einen karierten Rock und ein Jackett an, Kniestrümpfe und Lederschuhe. Berkholz ist 76 Jahre alt. Dieses eine Fahrrad, auf dem sie Zeit ihres Lebens fährt, stammt aus dem Jahr 1957. Ein Diamant-Rad mit einem Vorderlicht, in dem noch ein Tacho eingelassen ist, hergestellt vom Volkseigenen Betrieb Geräte und Regler Werke Teltow, aktueller Kilometerstand 3492,9. Obwohl sich der ja immer wieder nullt, wenn man bei der 9999,9 angekommen ist, wie sie sagt.

Ein Paar fürs Leben: Gudrun Berkholz fährt ihr Diamant-Rad seit 1957
Ein Paar fürs Leben: Gudrun Berkholz fährt ihr Diamant-Rad seit 1957

© Thilo Rückeis

Gudrun, so soll man sie hier nennen, kommt aus dem Vogtland in Sachsen, und Gudrun erinnert sich genau. Damals. Elfte Klasse. Im Fenster des Ladens steht dieses Fahrrad, dieses eine, das jetzt neben ihr lehnt, das sie durch ihr Leben begleitet hat, wie andere vielleicht der Ehemann. Tagein, tagaus schleicht sie damals am Schaufenster vorbei. Jedes Mal hat sie Angst, dass es nicht mehr da sein könnte. Doch es war noch da. Und es war das schönste Rad überhaupt. Gudrun spart, macht Ferienjobs, bis sie die 450 Ostmark zusammen hat. Dann kauft sie es. Das war ein Gefühl, als sie damit aus dem Laden trat! So, als ob ihr die Welt gehören würde. Heute, ein Leben später, fährt sie die sogenannte Genießerrunde mit: 45 Kilometer. Gestern war sie auch schon dabei, 90 Kilometer. Sie und ihr Fahrrad.

Hineinradeln in den Sonnensonntag

Detlef Koepke steht vorne, an der Startlinie, dahinter warten die Radler, dass es endlich losgeht. Doch Detlef muss auf seine bescheidene Art noch ausdrücken, wie sehr er sich freut, dass so viele da sind, dass so viele mitmachen. Wenn man später mit Detlef spricht, merkt man ihm an, dass diese Veranstaltung für ihn eine größere Bedeutung hat. "In unserer heutigen Zeit geht es viel um schnellen Konsum. Was wir hier machen, ist das Gegenteil davon", sagt er. Die langsame Fahrt durch das Land, die Ruhe, der Genuss auf Rädern, die teilweise noch von Hand gemacht sind. All das sei ein Gegenpol. Das Besondere aber seien die Leute, denn ohne ihre Verkleidung und ohne ihren guten Willen wäre die Veranstaltung nichts, sagt Detlef.

Dann gibt er den Startschuss, und 100 alte Räder machen sich auf zur gemütlichen Genießerrunde, 45 Kilometer entspanntes Radfahren: Vom Stadtzentrum am Schloss vorbei geht es erst durch den Schlosspark, dann raus aus der Stadt und schnell in den Wald. Und während man in den Sonnensonntag hineinradelt, hört man links und rechts in die Geschichten der Menschen hinein.

Manche Teilnehmer sehen aus wie aus einem Film

Da ist der Schneider Oliver Sinz zusammen mit seiner Familie. Bei ihm im Geschäft in Berlin-Mitte gibt es Maßgeschneidertes aus Tweed. Er, seine Frau und seine Kinder sind heute komplett in Tweed ausgerüstet, passend zu ihren alten Retro-Rädern, "ein tolles Lebensgefühl", sagt der Edelschneider. Er und seine Familie sehen aus, als seien sie aus einem alten Film gehüpft. In Berlin arbeitet der Schneider an speziellen Fahrradhosen, die mit einem reflektierenden Stoff gemacht werden. Tagsüber sehen sie normal aus, nachts und wenn ein Autoscheinwerfer leuchtet, reflektieren sie wie verrückt.

Der Tweed-Schneider Oliver Sinz aus Berlin reist mit Familie an.
Der Tweed-Schneider Oliver Sinz aus Berlin reist mit Familie an.

© Thilo Rückeis

Dann ist da noch Manfred Gallonski aus Celle, 65 Jahre alt und heute mit seinem alten roten Pinarello-Rennrad dabei. Das sei nur eines von vielen Retro-Rädern, die er besitzt. Gestern fuhr er schon die 150-Kilometer-Tour. "Ehrensache", sagt er. Sein Rad stammt aus den 1970er-Jahren. Ausgestattet ist es mit einer zweimal siebenfachen Rahmenschaltung. Gar nicht so schlecht, wenn man bedenkt, dass andere hier nur einen Gang haben. Gallonski kommt jedes Jahr und ist so begeistert, dass er sich den Slogan "Velo Classico" auf seinen Unterarm hat tätowieren lassen.

Wer kein altes Rad hat, kommt einfach mit einem neuen

Dann ist da noch Andreas Thiel, 54, aus Schleswig-Holstein. Sein handgefertigtes Gazelle-Rad sieht aus wie neu, wie eine Mischung aus Museumsstück und Schaufensterdekoration. Das Rad hat ganze zwei Gänge. "Einmal die Pedale kurz nach hinten, dann schaltet es um, das ist ein Freilaufsystem. Ich wollte keine Schalthebel und keine Bowdenzüge haben", erklärt er. Das Rad hat er 1984 gekauft, also nur knapp ein Vintage-Rad. Doch mit ihm hat Thiel die Welt gesehen. Er ist zum Nordkap gefahren, einmal durch Kanada, rund um Irland. Irgendwann hat er sich hölzerne Schutzbleche dazugekauft und das Rad so richtig als Vintage-Racer-Schmuckstück ausgebaut, wie er sagt. "Das stell ich mir ins Wohnzimmer, so schön ist das."

Die Retro-Vintage-Fahrrad-Schiene hat ihre begeisterten Anhänger gefunden. Basteln, Ersatzteile jagen und dabei gut aussehen. Die Velo Classico ist nur eine von mehreren Veranstaltungen dieser Art in Deutschland. Nach 45 Kilometern durch die Natur, an Windmühlen vorbei, beköstigt von Landdamen und begrüßt von Vertretern der örtlichen Heimatvereine, sind die Vintage-Radfans endlich am Ziel angelangt. Hier noch ein paar Swingschritte, und dann ist es gut für 2018.

2019 geht es weiter, am 14. und 15 September, wieder in Ludwigslust, wieder auf alten Rädern. Und wer kein altes hat, kommt einfach mit seinem neuen. Nur auf der Heldenrunde, da muss es 100 Prozent Vintage sein.

Dieser Artikel stammt aus dem neuen Magazin „Tagesspiegel Radfahren 2019/20“.

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