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Jerzy Zmijewski und seine Tochter Olga haben den Bauernhof zur Pension umgebaut

© Hreczuk

10 Jahre EU-Osterweiterung: Viele Polen kehren in die alte Heimat zurück - mit neuem Schwung

Nach dem EU-Beitritt sind zwei Millionen Polen ausgewandert - jetzt kommen viele von ihnen zurück. Weil sie genug Geld für einen Neustart verdient oder das Heimweh nicht ausgehalten haben. Mit ihnen zieht ein frischer Wind in Dörfer und Städte ein.

Vor dem Schlafzimmerfenster soll eine Linde wachsen. „Damit es schön riecht“, sagt Olga Zmijewska. „Und dort Tannen, Kiefern, Buchen, Vogelbeerbäume und Jasmin.“ Sie zeigt mit dem Finger ins Gelände. Die meisten Bäume sind noch zarte Pflanzen, doch Olga weiß genau, wo jede einzelne wächst. „Im Wohnzimmer werden wir ein großes Fenster haben, damit die Sonne das Haus erwärmt“, sagt sie und zeichnet mit den Händen einen Umriss in die Luft vor einer frisch errichteten Wand. Bald soll ihr eigenes Haus fertig sein. „Unten werden unsere Büroräume sein, und ganz oben, im dritten Stock, wollen wir mal eine Sauna bauen."

Die Nachbarn schauen skeptisch

1000 Bäume hat Olga Zmijewska auf dem Grundstück in Idzbark gepflanzt. Eine Wärmepumpe wurde schon bestellt, ein eigenes Windrad ist geplant. Ökologisch und solide muss alles sein. Die Nachbarn im Dorf schauen skeptisch auf den Bauplatz. Zu groß scheint ihnen das Gebäude zu sein, zu modern, zu teuer. Sie zweifeln, ob das alles tatsächlich funktionieren wird. So ein Haus hat es hier noch nie gegeben, in Idzbark, mitten in den Masuren.

Skeptisch waren die Dorfbewohner schon, als Olga Zmijewska 2013 mit ihren Eltern zurück nach Idzbark kam – aus Deutschland.

Am 1. Mai 2004 wurde Polen Mitglied der Europäischen Union. Fast zwei Millionen Menschen sind seitdem ausgewandert. Bislang sind rund 500 000 zurückgekehrt. Sie beginnen ihr Land zu verändern, ihre Dörfer und Städte. So wie die Familie Zmijewski.

Idzbark ist ein ruhiges Dorf mit 500 Einwohnern. Die meisten Touristen ziehen vorbei, weiter in die nahe Stadt Ostroda, oder nach Stare Jablonki, bekannt für seine Spa-Hotels und Beachvolleyball-Meisterschaften. Etwa 20 Prozent der Menschen hier sind arbeitslos, die Rate ist eine der höchsten im Land. Ein Laden, eine Kirche, eine Schule, eine Bushaltestelle. Ein Haus, über dessen Tür die Jahreszahl 1912 eingraviert ist. In Idzbark ist wenig los. Die Vögel singen, der Wind bringt frische Luft von den Wäldern, Elche traben durch ein Feld.

„Ich wusste, dass ich zurückkehre“, sagt die zierliche, dunkelhaarige Olga Zmijewska. „Hier bin ich einfach glücklich.“ Die 32-jährige Übersetzerin wurde in Idzbark geboren, hier lebten ihre Großeltern und Eltern auf einem Bauernhof. Zmijewskas Lieblingsort war damals der alte Stall, in dem Kühe, Pferde, Hühner und Gänse zusammenlebten. Heute ist der alte Hof die Pension Zapiecek, ein wahrgewordener Traum von Jerzy Zmijewski, Olgas Vater, ein 59 Jahre alter Mann mit sonnengebräuntem Gesicht. Er war es auch, der damals entschied, nach Deutschland auszuwandern. Der Kfz-Mechaniker wollte kein Bauer sein, sondern selbst etwas aufbauen. Dafür brauchte er Geld und Erfahrung. Und Bedingungen, die er damals in Polen nicht hatte.„Wir waren Pioniere“, so sieht heute Jerzy Zmijewski seine damalige Entscheidung. Sie waren die Ersten aus dem Dorf, die auswanderten. Die Nachbarn schauten sie damals schief an. Und dazu noch nach Deutschland! „Verräter“, nannte ihn ein Bekannter.

Sie zogen nach Wuppertal, später lebten sie in Düsseldorf. „Ich war acht, und mich hat niemand gefragt. Ich wurde einfach mitgenommen“, sagt Olga. Doch die Spur eines alten Protests hört man in ihrer Stimme. „Seit dem ersten Tag in Deutschland habe ich mich auf die Rückkehr eingestellt.“

Am 1. Mai 2004 schüttelten sich die Außenminister feierlich die Hände

Auch Jerzy Zmijewski wollte nicht in Deutschland bleiben. Nicht, dass er sich dort unwohl fühlte. Er hatte einen guten Job, fand Freunde und lernte die Sprache. Doch auch er vermisste sein Dorf, seine Heimat. „Wir wollten eine andere Welt sehen. Aber ich wollte vor allem Geld verdienen, um zu Hause etwas aufzubauen.“ Genau zehn Jahre hat sich Jerzy Zmijewski damals gegeben.

Aus zehn Jahren wurden 17. Doch Zmijewski kam immer häufiger mit Ersparnissen nach Polen. Während eines Urlaubs zeigte ihm ein alter Bekannter eine Pension auf einem Bauernhof. Agrotourismus, ein neuer Trend. Jerzy Zmijewski gefiel das. Von dem Zeitpunkt an baute er den Bauernhof seiner Eltern um. „Eine Garagenreihe, ein Haus, ein Teich.“ Alles nacheinander, mit eigenen Händen und der Hilfe von Freunden. Zwei Wochen in Polen, dann zurück nach Deutschland. Andere Pensionsbesitzer in der Gegend kratzten sich am Kopf – anstatt vieler kleiner Zimmer, um möglichst viele Gäste unterzubringen, baute Zmijewski große Familienzimmer mit einem Gemeinschaftsraum. Das würde nie funktionierten, meinten die anderen.

Es kommen immer mehr Deutsche

Jerzy Zmijewski aber hatte gesehen, dass die Deutschen im Urlaub abends nicht nur im Zimmer bleiben. Für ihn gehörten ein Gemeinschaftsraum und eine große Küche mit einem altmodischen Kachelofen dazu. Damit die Gäste sich mit dem Besitzer hinsetzen und unterhalten können, auch auf Deutsch. „Als EU-Land scheint Polen für viele kein exotischer Ort mehr zu sein“, sagt Zmijewski. Seine Pension ist der einzige Hof im Ort, wo fließend Deutsch gesprochen wird. „Hätten wir die Sprache nicht gelernt, hätten wir nun weniger Gäste“, sagt er.

„Ich bin zweisprachig aufgewachsen“, sagt Olga Zmijewska. „Eine enorme Bereicherung.“ Bis zum Ende ihres Studiums blieb sie in Deutschland, in Frankfurt an der Oder. Neben Deutsch und Polnisch spricht sie heute auch Englisch und Französisch. Noch während des Studiums bekam sie nach einem Praktikum ein Jobangebot im Europäischen Parlament. Ein Traumberuf. Und doch entschied sie sich dagegen. Zur Erleichterung ihres Vaters. „Idzbark ist ja auch schöner als Luxemburg“, sagt Jerzy Zmijewski und lacht.

Am 1. Mai 2004, als die damaligen Außenminister Joschka Fischer und Wlodzimierz Cimoszewicz sich feierlich die Hände schüttelten, stand Olga Zmijewska auf der Brücke über der Oder, zwischen Frankfurt/Oder und Slubice und freute sich, dass nun Polen in der EU war. Ihr Vater freute sich, dass er an der Grenze nicht mehr anhalten musste. Agnieszka Banasiuk aus Idzbark hingegen war die EU egal. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich deshalb etwas ändern würde.

Agnieszka Banasiuk ist Olga Zmijewskas Cousine. In der Hand hält sie das Foto einer Schulkasse, es ist alt und schon etwas verfärbt. „Das ist Rafal, hier Maja, Ada, Emilia, Wioletta, Ania, Agnieszka, Krzysiek, du, Olga, und ich“, sagt sie und zeigt auf die Kinder. „Rafal lebt hier, Maja ist nach London gegangen, aber wieder zurückgekehrt. Ada ist ausgewandert, Emilia geblieben, Wioletta nach Gdansk umgezogen, Ania nach Irland und Agnieszka nach England …“

Agnieszka Banasiuk ist die Einzige in der Familie, die nie emigrieren wollte, sie gründete eine Familie und scheute das Risiko. Nun wohnt sie mit ihrem Lebensgefährten und zwei Kindern in Idzbark. Ihre beiden Brüder und ihre Schwester leben in England. Die zwei Jahre jüngere Sylwia schickt ihren Eltern Geld, damit die für sie ein Haus im Dorf bauen. „Sie sagt, dass sie zurückkommt, sobald das Haus fertig ist“, sagt Agnieszka Banasiuk. Ihre Geschwister sind der Grund, warum sie nie bereut hat, im Dorf zu bleiben. „Wenn ich auf meine Schulkameraden schaue, dann beneide ich sie manchmal. Sie können sich mehr leisten als ich“, sagt sie. „Aber wenn Sylwia weint, weil sie so Heimweh hat, dann weiß ich, dass ich richtig entschieden habe.“

Die EU, ein Erfolg? Für so ein Urteil sei es noch zu früh.

Was nicht heißt, dass sie ihre eigenen Kinder davon abhalten würde. Die würden es leichter haben als sie, glaubt Agnieszka Banasiuk. Sie selbst spricht kein Englisch, ihr elfjähriger Sohn hingegen hat schon seit Jahren Englischunterricht. Sogar ihre kleine Tochter, vier Jahre alt, lernt Englisch in der Dorfschule.

Zehn Jahre nach dem EU-Beitritt Polens hat sich Agnieszka zu einem Europa-Fan entwickelt. „Bessere Chance für die Kinder“ ist das, was sie mit der EU assoziiert. „Und neue Straßen, Kanalisation, aber vor allem die renovierte Schule hat Idzbark der EU zu verdanken.“ Das alte Backsteingebäude steht in der Mitte des Dorfes, gegenüber der Kirche und dem Dorfladen.

Grzegorz Kastrau, der Direktor, zeigt Fotos. In den Klassenzimmern standen riesige Kachelöfen, der Fußboden bestand aus Holzbrettern, im Hof lag Schutt, die Toiletten standen draußen. „Es ist nicht zu fassen, aber so sah es noch 2008 aus“, sagt Kastrau. Weil der Gemeinde das Geld fehlte, sollte die Dorfschule geschlossen werden.

Kastrau, einem kräftigen, energischen 40-Jährigen aus Ostroda, wurde damals eine Stelle als Leiter angeboten, in der Schule, die eigentlich nicht mehr existierte. Als sie schließen sollte, meldete sich die Ortsvorsteherin bei Jerzy Zmijewski und seine Tochter Olga . Vielleicht dachte sie, wenn jemand etwas bewegen könnte, dann sie. „Sie wussten, dass man anders leben kann. Dass man sich nicht nur um sein eigenes Haus und Hof kümmern, sondern auch etwas für die ganze Gemeinde machen sollte“, sagt Kastrau.

Es halfen nur wenige Eltern

Gemeinsam gründeten sie einen Verein, unter dem die Schule als eine genossenschaftliche Einrichtung funktionieren sollte. Einfach sei es nicht gewesen, sagt Jerzy Zmijewski. „Meine Frau hat mit jedem gesprochen, damit er mitmacht.“ Wieder stießen sie auf Skepsis. Als die Zmijewskis mit ein paar Bekannten die Schule renovierten, halfen nur wenige Eltern.

Die Zmijewskis fragten bei Sponsoren an. Olga Zmijewska war beruflich oft in Warschau, wo sie für das EU-Parlament dolmetscht, für polnische Behörden und auch für den Bundestag. Wann immer es ging, nutzte sie die Gelegenheit. Als Microsoft Windows 8 auf den Markt brachte, startete Olga die Aktion Windows 42. Denn 42 neue Fenster brauchte die Schule. Wer sich finanziell beteiligt, sollte eine Namensplakette in der Schule bekommen. Die ersten beiden erhielten Jolanta und Aleksander Kwasniewskis, das ehemalige polnische Präsidentenpaar. Sie machten Urlaub in der Gegend und ihre Bodyguards übernachteten in der Pension der Zmijewskis.

Heute befindet sich hinter der Schule ein Spielplatz mit bunten Gerüsten. Dort, wo einst Toiletten standen, stehen nun Holzbänke. In jedem Klassenraum gibt es Internet und Computer, Tische und Stühle stiftete die Partnerstadt von Osteroda, Osterode im Harz. „Musik, Logopädie, Schultheater, Besuche im Schwimmbad in der Stadt“, zählt Schulleiter Kastrau auf. Dank der EU-Gelder. Viele Stunden verbringt er in seiner Freizeit mit dem Schreiben von Anträgen. Langsam, sagt Grzegorz Kastrau, bewege sich etwas im Dorf.

Das sieht auch Jerzy Zmijewski. „Die alte Generation, der vieles egal war, stirbt aus. Es kommen junge Leute – die, die früher ausgewandert sind, oder aus der Stadt“, sagt er. Landwirtschaft wird nur noch auf zwei Höfen betrieben. Das Dorf entwickle sich langsam zur Vorstadt von Ostroda.

Die EU, eine Erfolgsgeschichte? Für so ein Urteil sei es noch zu früh, sagt Jerzy Zmijewski. „20 Jahre, schätze ich, müssen vergehen. Jetzt sind sie in der Mitte des Weges.“ Er ist sicher, dass noch viele Polen zurückkehren werden. „Als wir ausgewandert sind, war die Situation anders“, sagt Jerzy Zmijewski. „Die Preisunterschiede waren groß, es war einfacher, mit dem im Westen verdienten Geld hier etwas anzufangen.“ Jetzt haben sich die Unterschiede angeglichen. Zurückgekommen seien bislang entweder gut ausgebildete Menschen, die Sprachkenntnisse und Qualifikationen im Ausland erworben haben, oder diejenigen, die im Ausland nicht klarkamen. „Ich musste damals auswandern, damit ich jetzt nicht auswandern muss, sondern hier gut leben kann“, sagt Olga Zmijewska.

Der 1. Mai, also der zehnte Jahrestag des EU-Beitritts, wurde in Ostroda groß gefeiert. Viele Gäste kamen auch aus Deutschland. Die Pension der Zmijewskis in Idzbark war schon lange vorher ausgebucht.

Agnieszka Hreczuk

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