zum Hauptinhalt
Die Kita "Schnatterenten" in Schwedt/Oder.

© Schulze

24-Stunden-Kita in Schwedt: Böse Mutti, armes Kind?

Madleen Sprengel kennt die Vorurteile. Und die Sprüche. 24-Stunden-Kita? Wie im Osten! Geht gar nicht! Doch sie wäre ohne die „Schnatterenten“ in Schwedt/Oder aufgeschmissen. Ein Besuch.

Von Katrin Schulze

Emilia kann es gar nicht schnell genug gehen. „Mamaaaa“, schreit sie über den halben Spielplatz hinweg, läuft dann zum Gartentor und fällt Mamaaaa um den Hals. Bei Maximilian ist die Angelegenheit komplizierter. Dreimal muss der Papa ihn bitten, bis sich der Kleine von den Spielsachen trennt und Hand in Hand mit Papa aus der Kita trottet. So geht es weiter. Mit Florian, Nora, Malte, Lilly und den anderen. Jeder auf seine Weise; so lange, bis alle verschwunden sind. Alle, außer Oskar.

Ab 16.30 Uhr ist er mit Erzieherin Elke in der Kita „Schnatterenten“ allein. Oskar, der Übernachtungsgast. Natürlich bekommt der Kleine es mit, wenn die anderen Kinder am Nachmittag nach und nach von ihren Eltern abgeholt werden. Er ist inzwischen fast drei Jahre. Aber sollte es ihn wirklich irgendwie stören, dann lässt er es sich nicht anmerken. Es gibt ja auch genug zu tun, ob mit dem Feuerwehrauto hier oder dem Bagger da drüben. Oskar kennt es nicht anders. Seit er vier Monate jung ist, verbringt er hin und wieder die Nacht in der, nun ja, Kindertagesstätte in Schwedt/Oder. Immer, wenn die Mama ihren Schichtdienst antritt. Für Oskar und Madleen Sprengel ist seit Langem Normalität, worüber sich Politik und Gesellschaft gerade in der Theorie fetzen.

Marlies Helsing will davon am liebsten nichts mehr hören. 24-Stunden-Kita. „Sagen Sie das bloß nicht!“, entfährt es der Leiterin der Schwedter Kita. Allzu wörtlich wurde das von einigen verstanden, nachdem Familienministerin Manuela Schwesig damit hausieren gegangen war, diese Kitas künftig kräftig fördern und deutschlandweit institutionalisieren zu wollen. Bis zu 100 Millionen Euro will sie in den Jahren 2016 bis 2018 ausgeben, damit die Einrichtungen länger und auch über Nacht offen bleiben. Vor allem Schichtarbeiter und Alleinerziehende sollen davon profitieren. Menschen wie die 30 Jahre alte Madleen Sprengel.

Anderen treibt Schwesigs Idee die Zornesröte ins Gesicht. Staatlich verordnete 24-Stunden-Kitas! Wie im Osten! Geht gar nicht! Zischte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer aus Bayern Richtung Berlin. Die Hüter der traditionellen Familie befürchten Schlimmstes: Kinder, die ihre Eltern nur noch in Ausnahmefällen sehen, weil sie die meiste Zeit woanders betreut werden. Wo kommen wir da hin? Die Union kündigte jedenfalls an, keine Betreuung zu unterstützen, die begünstigt, dass Kinder regelmäßig in Kitas übernachten.

„Als ob ein Kind sieben Tage in der Woche 24 Stunden am Tag in die Kita abgeschoben würde“, sagt Frau Helsing. „Totaler Quatsch.“ Traurig findet sie es, dass Eltern abgestempelt würden, sobald sie sich nicht an die konventionellen Betreuungszeiten halten können. Böse Mutti, armes Kind, heiße es dann.

Sehen so eine herzlose Mutter und ihr vernachlässigtes Kind aus? Madleen Sprengel schlendert mit Oskar den kleinen Kopfsteinpflasterweg hinunter Richtung Kita. Sie groß und schlank, die dunklen langen Haare am Hinterkopf zusammengebunden. Er lässig mit einem grauen T-Shirt und passendem Basecap, das er heute verkehrt herum trägt. „Hallo Oskar, geht es dir gut?“, fragt Kitachefin Marlies Helsing zur Begrüßung. Oskar nickt verlegen. Alles bestens, bestätigt die Mutter. Dann tauscht sie seine Straßen-  gegen Hausschuhe, hängt einen Beutel mit frischen Sachen an Oskars Platz und nimmt ihm die Mütze vom Kopf. Ein Kuss und schon ist Oskar untergetaucht, in seiner Gruppe, die gerade den Mittagsschlaf beendet hat. Kein Murren, keine Tränen, kein Quengeln. „Das geht immer völlig problemlos“, sagt Madleen Sprengel. „Wir haben da ja schon Routine.“ Und was für eine.

Was machen die anderen Schichtarbeiter?

30 Stunden hat der Arbeitstag von Madleen Sprengel, mindestens. Sie schiebt 24-Stunden-Dienste beim Kindernotdienst in Schwedt, wohnt aber in Berlin-Charlottenburg. Das heißt, dass sie je zwei Stunden für die An- und Abfahrt benötigt. Sie will es so. Zwar ist sie in Schwedt groß geworden, doch Madleen Sprengel braucht den Abstand zur Arbeit, und sie mag das Leben in der großen Stadt, in der sie später auch mal arbeiten möchte. Von Beginn an hat sie Oskar allein großgezogen, ihren Job wollte sie aber nicht aufgeben.

Also pendeln beide, meistens zweimal in der Woche. Den Rest ist sie ganz für Oskar da, fast fünf Tage. „Im Prinzip verbringe ich mehr Zeit mit meinem Sohn als Eltern, die jeden Tag acht Stunden arbeiten“, sagt Madleen Sprengel. „Das vergessen viele.“ Vor allem diejenigen, die sie schief anschauen. Ein Kind, alleinerziehend und dann noch so einen Job: Wie soll das gehen? Und was ist das eigentlich für ein Mensch, der sein Kind so früh abgibt? Böse Mutti mit armem Kind?

Auf Madleen Sprengel und ihren Sohn passt das zumindest nicht. Oskar, der jetzt mit den anderen Kindern im Sandkasten spielt, scheint viel von Mamas Ruhe, Milde und Ausgeglichenheit abbekommen zu haben. Und die Mutter wirkt so, als habe sie sich das alles ganz genau überlegt. Überhaupt, was wäre denn die Alternative? Bei Verwandten kann sie Oskar nicht lassen. „Da gibt es wenig Kontakt.“ Und auf staatlicher Unterstützung allein will sie sich nicht ausruhen.

Schicht für Schicht, Tag für Tag

Kein Murren, keine Tränen. Zweimal pro Woche schläft der fast drei Jahre alte Oskar in der 24-Stunden-Kita „Schnatterenten“.
Kein Murren, keine Tränen. Zweimal pro Woche schläft der fast drei Jahre alte Oskar in der 24-Stunden-Kita „Schnatterenten“.

© Schulze

Tatsächlich wäre Madleen Sprengel ohne die „Schnatterenten“ aufgeschmissen, das sagt sie selbst. Sie fragt sich immer wieder, wie die anderen Eltern das hinbekommen, die auch im Schichtdienst arbeiten, aber keine derartige Kita in der Nähe haben. Ärzte, Krankenschwestern, Feuerwehrmänner, Köche, Kellner, Polizisten, Busfahrer, Lokführer und bald vielleicht auch alle anderen. Erst kürzlich haben die Arbeitgeber vorgeschlagen, den Acht-Stunden-Tag abzuschaffen. Flexiblere Arbeitszeiten sind gewünscht und noch flexiblere Arbeitnehmer, überall. Nur Kitas mit flexiblen Öffnungszeiten und Eltern, die diese nutzen, die sind umstritten – und rar.

Bisher gibt es im ganzen Land Brandenburg gerade mal eine Handvoll solcher Einrichtungen. In Berlin, der Hauptstadt der Alleinerziehenden und Schichtarbeiter, existiert keine einzige. Versucht haben es einige hier, doch halten konnten sie sich nicht lange, weil das Geld nicht langte und das Übernachtungsangebot zudem nicht übermäßig gefragt war. Marlies Helsing wundert das nicht. „Es braucht viel Energie und Ausdauer“, sagt sie. Noch heute muss sie aufstöhnen, wenn sie an die Anfangszeit ihrer „Schnatterenten“ zurückdenkt

13 Jahre ist es her. Sie war entlassen worden als Erzieherin einer anderen Kita, ließ sich im Bereich Management weiterbilden und gründete nur ein paar Monate später einen Verein und die neue Kita in Schwedt. Damals war die 24-Stunden-Einrichtung für sie wirklich gleichzusetzen mit einem 24-Stunden-Job. „Ich stand kurz vorm Burn-out“, sagt die heute 57-Jährige. Und kurz vor dem Aus. Die Kita warf nichts ab, da die Schichtbetreuung nicht vom Staat gefördert wird. Permanent musste Marlies Helsing bei Unternehmen um Unterstützung betteln, und über Nacht wollte sein Kind auch keiner da lassen. „Das galt als Sünde.“ Verstehen kann sie es nicht. Acht Stunden am Tag: kein Problem. Acht Stunden über Nacht: böse Mutti, armes Kind.

Abends kommt die Oma

Eine Krankenschwester war dann die erste, die leise bei Marlies Helsing nachfragte, weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Und plötzlich trauten sich immer mehr, das Nachtangebot zu nutzen. Seither hat die Leiterin einen für Außenstehende schwer durchschaubaren Plan in ihrem Büro hängen. Eine Liste mit den Namen der Kinder und vielen Kreuzchen dahinter. Immer mittwochs müssen die Eltern angeben, ob und wann ihr Kind in der kommenden Woche in der Kita übernachten wird. Manchmal bleibt gar keiner über Nacht, manchmal drei oder vier Kinder und manchmal wie heute nur eines.

Saß Oskar am Nachmittag bei Tee und Waffeln noch mit acht anderen Kindern am Tisch, kann sich Erzieherin Elke jetzt ganz auf ihn konzentrieren. Die beiden hocken auf den winzigen Stühlchen am Tisch und schieben bedruckte Holzplättchen in dazugehörige Formen. Bananen, Erdbeeren, Birnen. Oskar lernt Obstsorten. Apropos, langsam wird’s Zeit fürs Abendessen. „Na, welche Wurst hättest du gerne?“, fragt Elke und hält dem Kleinen die Tupperdose unter die Nase. Oskar zeigt auf die Salami. Eine Szene, die sich so in jeder Familie abspielen könnte. Und das hat Marlies Helsing bezweckt mit ihrer Kita und ihren kleinen Ritualen: „Der Ablauf ist im Prinzip wie zu Hause. Es gibt Abendbrot, wir schauen das ,Sandmännchen’, baden die Kinder und lesen ihnen eine Geschichte vor, bevor sie ins Bett gehen.“

Selbst eine richtige Großmutter leisten sich die „Schnatterenten“. Sie kommt am Abend den Kopfsteinpflasterweg hinab und winkt Oskar schon von Weitem zu. Die beiden sind vertraut, Oma Ilse hat ihn schon oft abends betreut. Sie ist neben den sieben fest angestellten Erzieherinnen eine von zwei Rentnerinnen, die in der Kita auf 450-Euro-Basis beschäftigt werden und vor allem in den Nachtschichten einspringen. Immer wenn Oma Ilse oder Oma Marianne da sind, weiß Oskar, dass er gleich umziehen muss. Von der Tageseinrichtung geht es in das Gebäude nebenan, wo die Kinder die Nächte verbringen.

Früher in der DDR gab es riesige Schlafsäle, die Marlies Helsing als „grauenvoll“ in Erinnerung hat. Ihr Schlafsaal gleicht eher einer kleinen Wohnung. Ein Zimmer mit Couch, ein Bad und ein weiteres Zimmer mit Kinderbettchen und Spielecke. Anfangs, da hatte auch Madleen Sprengel so ihre Bedenken, ob es denn alles gut gehen würde mit der Übernachtung. Schließlich sei die Nacht eine besonders sensible Phase, sagt sie. „Da wünscht sich jeder, sein Kind bei sich zu haben.“

Aber Oskar machte keine Anstalten, als er das erste Mal über Nacht bleiben sollte. „Die Eingewöhnung fällt Kindern leichter, wenn sie mit ein paar Monaten schon kommen“, sagt die Kitaleiterin. Sind sie ein Jahr oder älter, könne es schwieriger werden. Dann hilft nur, langsam das Vertrauen aufzubauen und alles so ähnlich zu gestalten, wie es die Kleinen von ihrem Zuhause kennen. Das Plüschtier, mit dem das Kind nachts kuschelt, kommt einfach mit ins Kitabett – manchmal reicht das schon.

Die Kita ist bekannt - auch über Brandenburg hinaus

Nur einmal, vor einem halben Jahr muss es gewesen sein, da war auch Oskar schlecht drauf. Gerade hatte er mit Mama einen längeren Urlaub verbracht und sträubte sich zunächst, in der Kita zu bleiben. Ein paar Minuten dauerte das Drama, das Madleen Sprengel von ihrem Sohn so nicht kannte und das sie auf ihrem Weg zum Job noch beschäftigte. Ansonsten ist sie ihre Sorgen mittlerweile los: „Ich kann ruhigen Gewissens zur Arbeit fahren, weil Oskar hier voll seinen Gewohnheiten nachgehen kann.“ Am Abend bekommt sie dann einen Anruf von Oma Ilse, die berichtet, was Oskar so treibt.

Wie Oskar ergeht es etwa der Hälfte der 30 Kinder hier – regelmäßig bleiben sie über Nacht. Bezahlen müssen für das Angebot jedoch alle gleichermaßen, was unter den Eltern durchaus umstritten ist. 280 Euro im Monat kostet der Platz in der Kita, zuzüglich 50 Euro Pauschale für die nächtlichen Zusatzstunden der Betreuer. Außerdem lässt sich Marlies Helsing einen Arbeitsnachweis vorlegen, um sicherzugehen, dass ihr System nicht ausgenutzt wird. „Wir wollen, dass die Eltern bequem alles regeln können“, sagt sie. „Wir wollen aber nicht, dass sie bequem werden.“ Trotzdem kann die Leiterin inzwischen nicht so viele aufnehmen wie gerne einen Platz hätten.

Das Konzept der „Schnatterenten“ hat sich herumgesprochen, auch über Schwedt/Oder und Brandenburg hinaus. Andere, wie zum Beispiel eine Schweriner Kita, haben das Prinzip übernommen. Und inzwischen muss Marlies Helsing auch nicht mehr betteln gehen. Die Unternehmen rufen jetzt sie an und fragen, wie man am besten helfen könne.

Einige Firmen wie die Erdölraffinerie PCK, ein Callcenter, eine Papierfabrik und das Klinikum der Stadt kooperieren mit der Kita und vermitteln ihre Arbeitnehmer mit Kindern zu den „Schnatterenten“. Schichtarbeiterkinder werden bevorzugt. Die Kita ist so gefragt, dass sie ab 16 Uhr, wenn die anderen Einrichtungen schließen, sogenannte Gastkinder aufnimmt. Ein von einem Sponsor gestifteter Kleinbus fährt dann durch Schwedt, sammelt die Kleinen ein und bringt sie zu den „Schnatterenten“, wo sie dann je nach Bedarf bis 18 oder 19 Uhr bleiben. „Man muss Durchhaltevermögen haben, wenn man so etwas aufzieht wie wir“, sagt Marlies Helsing. „Aber die Entwicklung scheint mir recht zu geben.“

Oskar scheint ihr auch recht zu geben. Er schaut Oma Ilse mit zufriedenen dunklen Augen an, als sie mit ihm Abendbrot isst und aus einem Buch vorliest, bevor er ins Bett muss. Um 5 Uhr in der Früh, Oskar schläft noch, nimmt sie die ersten Kinder schon wieder in der Kita auf. Lilly, Florian, Maximilian, Emilia und die anderen kommen nach und nach zurück. Spielen, essen und schlafen. Wie jeden Tag. Madleen Sprengel holt Oskar um 14.30 Uhr ab. Diesmal ist er der Erste.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false