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Die Grünen-Verteidigungsexpertin Agnieszka Brugger ist zur stellvertretenden Fraktionschefin aufgestiegen

© Christophe Gateau/dpa

Agnieszka Brugger: Die jungen Grünen-Frauen trauen sich nach vorn

Sie ist Ex-Boxerin, heiratet in Weiß, schätzt Heimatliebe. Agnieszka Brugger zählt zum linken Flügel der Grünen. Und in der Partei zu den jungen Frauen, die keine Angst vor der Macht haben und Bedingungen stellen.

Agnieszka Brugger lehnt ab. Es ist ein Abend im Sommer vor der Bundestagswahl, als die junge Grünen-Politikerin sich mit ihrem Parteifreund Anton Hofreiter im „Cavallino Rosso“ trifft, einem kleinen italienischen Restaurant in Berlin-Mitte. Ob sie nicht Parteichefin werden wolle, will der Chef der Bundestagsfraktion wissen. Seit einer Weile sind die Grünen auf der Suche nach einem neuen Gesicht für die Parteispitze, und Brugger würde gut passen: Sie ist jung, klug, eigenwillig.

Das Angebot, Parteivorsitzende zu werden, lehnte sie ab

„Natürlich habe ich mit mir gerungen. Es ist schließlich einer der schönsten Jobs in der Politik“, sagt sie Monate später. Brugger, 33 Jahre alt, Verteidigungsexpertin der Grünen im Bundestag, ist gerade umgezogen und noch im Kistenchaos, wie sie schildert. Bevor im Sommer ihr Baby zur Welt kommt, hat sie mit ihrem Mann ein neues Zuhause im Stadtteil Friedrichshain gefunden. Sie als Parteichefin: Es sei ein schönes Gefühl gewesen, dass es in der Partei offenbar Leute gebe, die ihr das zutrauen, erzählt sie. Aber es passte im Moment einfach nicht zu ihrer privaten Lebensplanung.

Noch vor nicht allzu langer Zeit hieß es, ausgerechnet bei den Grünen trauten sich die jungen Frauen nicht nach vorne. Katrin Göring-Eckardt blieb die einzige Bewerberin um die Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl, auch für Parteichefin Simone Peter war lange keine Nachfolgerin in Sicht. Zu wenig Machtwillen bei den Jüngeren, kritisierten Politikerinnen aus der Generation, die noch gegen Alphatiere wie Joschka Fischer kämpfen mussten.

Agnieszka Brugger ärgert sich, wenn sie so etwas hört. Sie sitzt im Abgeordneten-Restaurant im Reichstag, Zeit für ein kurzes Mittagessen, bevor sie zur Regierungserklärung der Kanzlerin ins Plenum hastet. „Ob junge Frauen in der Politik in die erste Reihe treten wollen, ist doch keine Mutprobe wie bei kleinen Jungs in der Schule“, sagt sie. Parteichefin zu werden, sei eine schwerwiegende Entscheidung, politisch wie privat: „Bin ich bereit, all die Preise zu zahlen, die damit verbunden sind?“ Brugger schüttelt den Kopf: „Keine der jungen Frauen hat doch abgelehnt, weil sie Angst hatte.“

Sie wählte ihren eigenen Weg zur Macht

Sie selbst wählte ihren eigenen Weg zur Macht, den komplizierteren, in ihrem Tempo. Ende letzten Jahres bewarb sie sich als stellvertretende Fraktionsvorsitzende, zuständig für Außen- und Sicherheitspolitik – ein Posten, auf den sie länger hingearbeitet hat. „Das ist auch ein Schritt nach vorne mit deutlich mehr Verantwortung.“ Zumal es um die Führungsposten in der Fraktion Konkurrenz gab, viele Gespräche waren notwendig, bis die Personalie geklärt war. Und das in der Phase, in der Brugger gerade schwanger war, es aber noch niemand offiziell wusste. „Sie hat an keiner Stelle gezuckt oder Nerven gezeigt“, sagt eine, die in diesen Runden dabei war. Manchen bei den Grünen ist sie deswegen schon wieder zu zielstrebig. Sie wisse sehr genau, was sie wolle, sagt einer – es ist nicht als Kompliment gemeint. Bruggers Name fällt jetzt auch, wenn es darum geht, wer künftig Fraktionschefin werden könnte.

Es ist ein warmer Tag Mitte April, Brugger eilt durch die endlos lange Halle des Paul-Löbe-Hauses. Sie hat Besuch von einer Schülergruppe aus Ravensburg, die Neuntklässler warten schon in einem der gekühlten Sitzungssäle.

Brugger ist ein wenig aus der Puste, als sie sich vor die Klasse stellt und anfängt, eine typische Bundestagssitzungswoche zu beschreiben. Sie trägt ein blaues Kleid, unter dem ihr Babybauch zu sehen ist, hohe Absätze. Die langen rot gefärbten Haare sind zum Zopf geflochten, die Piercings an Unterlippe und Nase nicht zu übersehen. Wie eine typische Politikerin sehe sie aber nicht aus, sagt einer der Gymnasiasten: „Ich habe mir die immer anders vorgestellt, altehrwürdig und sehr ernst, wie Frau Merkel.“ Brugger muss lachen.

Mit 24 Jahren war sie 2009 die jüngste Abgeordnete im Bundestag

Als sie im Herbst 2009 erstmals in den Bundestag gewählt wurde, war sie mit 24 Jahren die jüngste Abgeordnete. Neun Jahre später ist sie immer noch die Jüngste in ihrer Fraktion. Sie finde es auch schade, dass im Bundestag viele so aalglatt würden, sagt sie zu den Schülern. Im ersten Parlamentsjahr habe sie angefangen, in komplizierten Sätzen und mit Fremdwörtern zu reden. „Das habe ich mir wieder abtrainiert.“

Im Bundestag hätte sie auf das Jugendticket setzen können, aber sie entschied sich für die Verteidigungspolitik. „Jung, Frau, ungedient und mit Piercing – ich hatte Sorge, dass die mich im Ausschuss nicht ernst nehmen werden“, sagt Brugger. Doch schnell merkte sie, dass die Abgeordneten vor allem darauf achten, ob jemand gut vorbereitet ist oder nicht. Und dass auch sie selbst Vorurteile über Anzug- und Uniformträger abbauen musste. Passiert es noch, dass sie falsch eingeschätzt wird, wenn sie einen Raum betritt? „Ich vermute, dass das häufiger so ist.“

Dem Gymnasiasten muss sie, vor der Schulklasse stehend, dann aber auch widersprechen. Angela Merkel wirke vielleicht ernst. „Aber die Frau hat einen unheimlich coolen, trockenen Humor.“ Brugger hat die Kanzlerin bei den Sondierungen im vergangenen Herbst aus der Nähe erlebt. Sie selbst verhandelte für die Grünen die Außen- und Entwicklungshilfepolitik. Dass die Union bereit gewesen wäre, einen Rüstungsexportstopp nach Saudi-Arabien zu verhängen, hat sie damals überrascht.

Bei einem der informellen Stehtisch-Gespräche in der Parlamentarischen Gesellschaft sagte Merkel, man könne ja wirklich neidisch sein auf die drei jungen Frauen, welche die Grünen mitgebracht hätten.

In der Fraktion ist ein Frauennetzwerk von jüngeren Abgeordneten entstanden

Zu ihnen gehörten neben Brugger auch Annalena Baerbock, 37, die sich im Januar bei den Grünen als Parteichefin durchsetzte, und Katja Dörner, 42, Strippenzieherin des linken Flügels, seit vier Jahren Fraktionsvize für Familienpolitik. Während der Sondierungen tauschten sie sich regelmäßig untereinander aus. Schon seit Längerem ist in der Fraktion ein Frauennetzwerk von jüngeren Abgeordneten entstanden, das flügelübergreifend funktioniert. Als im letzten Sommer die Suche nach einer Parteichefin losging, verabredeten sie, sich nicht in einen Zickenkrieg verwickeln zu lassen.

Es gibt auch noch andere Frauen bei den Grünen, die das Zeug haben, die Partei in den nächsten Jahren zu prägen. Katharina Dröge, 33, und Franziska Brantner, 38, seit dieser Wahlperiode Parlamentarische Geschäftsführerinnen der Bundestagsfraktion. In Bayern trauen viele der Spitzenkandidatin Katharina Schulze, 32, zu, bei der Landtagswahl im Herbst die Grünen zur zweitstärksten Kraft vor der SPD zu machen.

Doch wofür steht die neue Generation der Frauen bei den Grünen? Als Brugger 2009 für den Bundestag kandidierte, wollte sie zeigen, dass die Grünen nicht nur ein 68er-Projekt seien, wie viele damals behaupteten. Fragt man sie heute, wohin die Grünen sich entwickeln müssen, nennt sie zwei Stichworte: Visionen und Pragmatismus. Die großen Fragen wieder radikaler ansprechen, aber dabei nie zu vergessen, die vielen kleinen Schritte dahin zu definieren. Und: „Wir dürfen keine Besserwisser sein“, sagt sie. Besserwisser, mit denen sie es selbst auch zu tun hat.

Hochzeit in Weiß

Vor einigen Jahren heiratete sie, mit weißem Brautkleid in der Kirche, und gab ihren Mädchennamen Malczak ab. „Ich musste mir anhören, dass wir Grüne doch dafür gekämpft haben, dass eine Frau ihren eigenen Namen behalten kann“, sagt sie. Für sie sei aber vor allem wichtig, dass jeder so leben und lieben könne, wie er wolle.

Ihr zu unterstellen, sie sei unemanzipiert, wäre falsch. Als 2013 einige Grüne überlegten, Jürgen Trittin zum alleinigen Spitzenkandidaten zu machen, veröffentlichte sie einen Appell für die Frauenquote.

Agnieszka Brugger, Jahrgang 1985, ist aufgewachsen in Dortmund. Ihre Eltern zogen aus dem polnischen Legnica ins Ruhrgebiet, als sie vier Jahre alt war. Die Mutter war Ökonomin, der Vater Ingenieur, sie hat eine jüngere Schwester. Über ihre Familie will sie nicht allzu viel preisgeben, nur so viel, dass ihre Eltern ihr schon von früh auf mitgegeben hätten, Ungerechtigkeiten nicht hinzunehmen. Sie ging auf eine katholische Schule, im Religionsunterricht zettelte sie Diskussionen über die Rolle der Frau in der katholischen Kirche an. Katholisch und gläubig ist sie immer noch. „Auch wenn ich vieles in der katholischen Kirche sehr kritisch sehe und das auch zum Ausdruck bringe, kann ich meinen Glauben nicht einfach ablegen“, sagt sie.

Politisch richtig aktiv wurde sie in Tübingen, wo sie zum Studieren hinging, Politikwissenschaft, Philosophie und Öffentliches Recht. Im Kreisvorstand der Grünen fiel sie Boris Palmer auf, der damals Landtagsabgeordneter war, bei ihm machte sie ein Traineeprogramm. Heute ist ihr Verhältnis stark abgekühlt. Es enttäuscht Brugger, dass Palmer die Grünen wegen ihrer Haltung in der Flüchtlingskrise als naive Gutmenschen-Partei abtut. Sie hat ihm deswegen einen offenen Brief geschrieben.

Wenn ihr etwas nicht passt, kann sie das nicht auf sich sitzen lassen. An einem Freitag im Februar 2018, der Bundestag debattiert über den Krieg im Jemen, rutscht Brugger unruhig auf ihrem Stuhl in der ersten Reihe vor und zurück, dann erhält sie das Wort. Sie stellt das Mikrofon höher.

Aufrecht steht sie da, ihre Stimme wird energisch, mit den Händen unterstreicht sie jeden Satz. „Wir haben in dem Sondierungspapier an jenem letzten Sonntag vereinbart, dass es einen Rüstungsexportstopp gibt, und zwar ohne jegliche Hintertür“, erklärt sie dem SPD-Abgeordneten Nils Schmid. Der hat gerade behauptet, er habe nichts dergleichen in den Dokumenten gefunden. Sie könne ja verstehen, dass er sich ärgere, setzt Brugger in Richtung des Kollegen nach: Die SPD habe mehr Prozente gehabt als die Grünen, sie habe auch nicht die FDP mit am Tisch gehabt. „Und trotzdem haben Sie weniger mit nach Hause gebracht.“ Jürgen Trittin sitzt auf dem Platz hinter ihr und feixt.

Bei der Bundestagswahl 2017 erhielt Brugger in Ravensburg 20 Prozent Erststimmen

Bruggers Wahlkreis ist mit der Bahn eine Tagesreise von Berlin entfernt. Rund 50 000 Einwohner leben in Ravensburg in der Nähe des Bodensees, eine wohlhabende Gegend. Bei der letzten Bundestagswahl erzielten die Grünen hier 15 Prozent, mehr als die SPD, Brugger kam sogar auf 20 Prozent Erststimmen.

Als sie vor neun Jahren auf der Suche nach einem Wahlkreis war, entschied sie sich für Ravensburg, weil ihr Mann aus der Gegend kommt. Mit ihm, einem selbstständigen Softwareentwickler, lebt sie inzwischen in Berlin. In Ravensburg teilt sie sich in der Altstadt eine Wohnung mit einer Freundin.

Die Woche rund um Christi Himmelfahrt hat Brugger voll mit Terminen gepackt. Bürgersprechstunde im Bioladen, Besuch der Industrie- und Handelskammer, Eröffnung einer Fußgängerbrücke und, nicht zu vergessen, der traditionsreiche Blutritt im benachbarten Weingarten, eine Prozession, an der jedes Jahr bis zu 3000 Reiter teilnehmen.

Natürlich ist sie auch dabei, als auf einer Konferenz in einem alten Museumsinnenhof in Ravensburg 100 Jahre Frauenwahlrecht gefeiert werden. Eine Professorin trägt vor, wie stark der Frauenanteil im Bundestag in dieser Legislaturperiode zurückgegangen ist. Einige Schülerinnen sollen Brugger und drei andere Politikerinnen interviewen. Was sie den jungen Frauen mit auf den Weg geben könne, will die Moderatorin am Ende wissen. Sich auf die Bühne zu wagen, sagt Brugger. Und: die Lust am Spinnen von Netzwerken.

Eine Musikerin spielt bei der Veranstaltung einen alten Blues-Song, „Ain’t nobody’s business if I do“, heißt er. Es geht niemanden etwas an, wenn ich’s mache. Brugger fragt noch einmal nach dem Titel, weil sie ihn für sich so passend findet. Inzwischen wird sie regelmäßig in Frauenrunden eingeladen, sicher auch weil sie sich in eine Männerdomäne gewagt hat.

Brugger findet, wer Ravensburg kennenlernen wolle, müsse in der „Räuberhöhle“ gewesen sein, dem Treffpunkt der linksalternativen Szene. Eine Kneipe, die zwischenzeitlich von der Schließung durch den Hausbesitzer bedroht war. An der Fassade hängen immer noch Transparente mit der Aufschrift: „Die Höhle muss bleiben.“ Im Biergarten ist ein letzter Tisch frei, Brugger empfiehlt die mit Käse gebackenen Seelen und bestellt eine Johannisbeerschorle. Sie ist hier Stammgast, die Wirtin duzt sie. Aber auch mit dem CDU-Bürgermeister saß sie schon hier. Sie gerät ins Schwärmen, wenn sie von ihrem Wahlkreis erzählt: darüber, wie heimatverbunden die Menschen hier seien, was man an den vielen Vereinen merke, aber auch an Festen wie jenem althergebrachten Blutritt, der Reiterprozession zu Ehren einiger Tropfen Blut in einer Kirche des Nachbarorts. Sie sollen von Jesus Christus stammen. „Es gibt kaum noch Orte in unserer Gesellschaft, wo Jung und Alt so zusammenkommen“, sagt Brugger.

Eine Parteilinke, die Heimatverbundenheit und Traditionen gut findet? Bei vielen ihrer Parteifreunde in Berlin-Kreuzberg würde allein der Begriff Heimat Aversionen auslösen.

Doch mit Aversionen kennt sie sich aus. Mit solchen vor allem, die aus eingefahrenen Weltbildern beruhen. Mit 16 Jahren beschloss Brugger, mit dem Boxen anzufangen. Sie war auf der Suche nach einer neuen Herausforderung, geistig wie körperlich. „Als ich in die Halle reinmarschiert bin, musste ich mir anhören, Frauen hätten beim Boxen nichts verloren. Mein Näschen sei zu hübsch.“

Jetzt erst recht, habe sie damals gedacht. Die ersten Wochen seien heftig gewesen, nach ein paar Trainingsstunden hätten die Jungs aber gemerkt, dass sie nicht aufgebe: „Ich habe mir Respekt erarbeitet.“ Später bedankte sich der Vereinsmanager, dass sie drangeblieben sei. Nach ihr kamen andere Mädchen. „Mein erster frauenpolitischer Erfolg.“

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