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Auf dem Plostad Makedonija reckt Alexander der Große sein Schwert in den Himmel.

© imago/Gerhard Leber

Angela Merkel in Griechenland: Nord-Mazedonien hofft auf den EU-Beitritt

Die „Colorful Revolution“ gab vielen Mazedoniern Hoffnung. Heute ist Gorazd Ordanoski ernüchtert. Dabei hat sein Land erstmals Chancen, der EU beizutreten.

Widerlich, schrecklich, der Horror! Gorazd Ordanoski spuckt die Worte verächtlich aus. Der 18-Jährige steht vor dem Nationalen Archäologiemuseum von Skopje. Auf den ersten Blick ein prächtiger Säulenbau im Pantheonstil, an der Flussuferpromenade der mazedonischen Hauptstadt gelegen. Mit den Fingerknöcheln klopft Gorazd gegen die weiße Außenwand. Es klingt hohl. „Gipskarton“, erklärt er, „da kann man mit dem Taschenmesser reinschneiden.“

Europa hat genügend Anlass, in diesen Tagen in Richtung Balkan zu schauen, dahin, wo viele sich so sehr nach der kriselnden EU sehnen, dass sie – hier in Mazedonien – sogar bereit sind, den Namen ihres Landes zu ändern. Ab dem 15. Januar soll das kleine Land, das auf dem internationalen Parkett umständlich „Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien“ genannt wird, englische Abkürzung: FYROM, nach einer Verfassungsänderung offiziell „Republik Nord-Mazedonien“ heißen. Laut griechischen Medien wird die deutsche Bundeskanzlerin das Thema bei ihrem an diesem Donnerstag beginnenden Besuch im benachbarten Griechenland ebenfalls ansprechen.

Wenn auch das griechische Parlament die Namensänderung ratifiziert, ist der seit 1991 andauernde Streit darüber, ob sich der ex-jugoslawische Nachbarstaat Mazedonien nennen darf – so wie die namensgleiche Region im Norden Griechenlands – endgültig beigelegt.

Für Nord-Mazedonien wäre damit der Weg Richtung Nato und EU frei. Griechenland hatte wegen des Streits und angeblich befürchteter Gebietsansprüche bei Namensgleicheit dagegen immer ein Veto eingelegt. Doch was von weitem wie ein kraftvoller politischer Aufbruch wirkt, wie der enorme Etappensieg einer jungen Demokratie, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ebenso instabil wie die Fassaden in der Innenstadt von Skopje. Was ist los in Nord-Mazedonien?

Gorazd Ordanoski – groß, laute Stimme, fließendes Englisch – will an diesem Tag ein paar Antworten darauf geben. Der Politikwissenschaftsstudent ist in Skopje aufgewachsen und macht gerade ein Praktikum bei einer kleinen Nichtregierungsorganisation. Eher zufällig entstand dabei die Idee seiner „Reality Tour“ für ausländische Journalisten. Ordanoski will kein unbeschwertes Sightseeing anbieten, sondern einen ehrlichen Einblick in die verwundete Seele seiner Heimat geben. Mazedonien mit seinen zwei Millionen Einwohnern auf einer Fläche knapp so groß wie Brandenburg steckt in einer tiefen Krise.

Durchgeknallte Architektur

Das Land, das viele Deutsche wohl nur mit dramatischen Flüchtlingsszenen auf der Balkanroute im Jahr 2015 in Verbindung bringen, ist eines der ärmsten Europas. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug 2017 laut der World Bank Group knapp 4800 Euro. In Deutschland waren es 39 650 Euro. Die Arbeitslosenquote liegt zwischen 20 und 25 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 50 Prozent.

Eine stärkere Anbindung an die Europäische Union könnte die wirtschaftliche Situation verbessern. Doch wer sich in Skopje umhört, trifft wenige EU-Beitritts-Optimisten. Kaum jemand glaubt daran, dass das Land zügig den radikalen Reformprozess stemmen kann, der im Rahmen von Beitrittsverhandlungen nötig wäre. Zu fragil ist die Demokratie, zu vielfältig sind die innenpolitischen Baustellen, zu gespalten ist die multiethnische Bevölkerung.

Ein anhaltender Braindrain schwächt das Land. 2016 gaben mehr als 80 Prozent der jungen Mazedonier in einer Umfrage an, ihre Heimat verlassen zu wollen. Belastbare aktuelle Zahlen zur Emigration gibt es nicht – die letzte Volkszählung liegt 16 Jahre zurück –, aber schätzungsweise die Hälfte der jungen Mazedonier setzt den Plan in die Tat um. Auch Ordanoskis Freundin hat sich gerade für ein Studium in Slowenien entschlossen. Ob sie zurückkehren wird? Er zuckt mit den Schultern: „Vermutlich nicht.“

Gorazd Ordanoski schwänzte 2016 wochenlang die Schule, um an den regierungskritischen Demonstrationen teilnehmen zu können.
Gorazd Ordanoski schwänzte 2016 wochenlang die Schule, um an den regierungskritischen Demonstrationen teilnehmen zu können.

© Astrid Herbold

Der Weg führt nun am Wasser entlang. Mit ausgestrecktem Arm zeigt der Student zum Fluss Vardar, der sich durch die Innenstadt schlängelt. „Früher haben die Leute hier gebadet. Jetzt ist alles verdreckt und verseucht.“ Auffällig ist die Bauruine, die über den Fluss führt. „Das sollte eine London-Bridge-Kopie werden.“

Skopje ist architektonisch die vielleicht durchgeknallteste Hauptstadt der Welt. Als habe ein größenwahnsinniger Diktator in der Innenstadt eine Mischung aus Paris, London und Washington D. C. nachbauen lassen. So ähnlich war es auch. Von 2010 bis 2016 haben der damalige Ministerpräsident Nikola Gruevski und seine nationalkonservative Partei VMRO-DPMNE das Zentrum in ein neoklassizistisches Disneyland verwandelt. Auf dem zentralen Platz, dem Plostad Makedonija, reckt Alexander der Große als über 20 Meter hohe Statue sein Schwert in den Himmel. Ein nationalistisches Statement – und ein ausgestreckter Mittelfinger in Richtung der benachbarten Griechen, die den siegreichen Feldherrn historisch ebenfalls für sich beanspruchen.

Es begann euphorisch: ein Volk erhebt sich friedlich

600 bis 700 Millionen Euro hat die Stadterneuerung gekostet. Doch ein Großteil des Geldes sei versickert, erklärt Gorazd Ordanoski. Die Folge: Nach wenigen Jahren blättern die Billigbronzen, bröckelt der Pseudomarmor, schimmeln Fassaden. Gorazd Ordanoski hasst das Projekt „Skopje 2014“, so der offizielle Titel, hält es aber trotzdem nicht für das drängendste Problem. „Wir können ja schlecht Benzin drüber gießen und alles anzünden.“ Viel wichtiger sei, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen würden. Dass ihnen der Prozess gemacht werde. Dass sie im Gefängnis landeten.

Doch obwohl die Verbrechen offensichtlich sind und das vergiftete Erbe der Vorgängerregierung auf dem Land lastet, konnte sich Ex-Regierungschef Gruevski im November ins Ausland absetzen. „Ausgerechnet nach Ungarn!“, ruft Gorazd Ordanoski. Das EU-Mitglied hatte nicht nur Diplomatenfahrzeuge geschickt, sondern dem Flüchtigen auch im Eilverfahren Asyl gewährt.

Gruevski gilt als Freund von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán. „Das hat mir und vielen meiner Freunde den Rest gegeben“, sagt Ordanoski. „Wofür haben wir damals überhaupt demonstriert?“ Seitdem bröckelt in Mazedonien nicht nur der Glaube an die neue Regierung, sondern auch der an die EU.

Dabei hatte vor knapp drei Jahren alles so euphorisch angefangen: ein Volk, das sich friedlich erhebt. Dass um seine Demokratie kämpft. Im Frühling 2016 lehnten sich vor allem junge Mazedonier gegen das autoritäre und mafiös organisierte Regime von Gruevski auf und warfen mit Farbe gefüllte Luftballons an Regierungsgebäude. Sie nannten es die „Colorful Revolution“.

Regierungskritische Proteste in Skopje 2016.
Regierungskritische Proteste in Skopje 2016.

© dpa / Georgi Licovski

Die bunten Flecken an den Fassaden sind teilweise noch zu sehen. Gorazd Ordanoski zeigt sie mit Stolz. Wochenlang habe er damals die Schule geschwänzt, um bei den Demonstrationen dabei zu sein. Der Umsturz gelang schließlich; nach Parlamentstumulten und Neuwahlen wurde Anfang 2017 der Sozialdemokrat Zoran Zaev neuer Ministerpräsident.

Seitdem hat sich durchaus etwas bewegt. „Skopje 2014“ wurde gestoppt, teilweise werden die angeklebten Fassaden zurückgebaut. Im Sommer 2018 hat die neue Regierung die bahnbrechende Namensvereinbarung mit Griechenland unterzeichnet. Doch der innenpolitische Preis, den Zaev für den außenpolitischen Durchbruch zahlen musste, war hoch.

Die Jungen gehen nach Deutschland

Nicht nur Gruevskis verdächtig reibungsloser Abgang nach Ungarn überschattet seine bisherige Amtszeit. Außerdem hat der Ministerpräsident den Anhängern der VMRO-DPMNE-Partei, die 2017 an gewalttätigen Angriffen auf die damalige Opposition im Parlament beteiligt waren, kürzlich Amnestie garantiert. Im Gegenzug sollen die Abgeordneten kommende Woche der Verfassungsänderung zustimmen, für die eine Zweidrittelmehrheit nötig ist. Zaevs Plan geht wohl auf – aber das Gerechtigkeitsempfinden seiner Wähler hat er damit massiv strapaziert. Was Gorazd Ordanoski von dem Amnestie-Deal hält, muss man gar nicht erst fragen: Er schäumt.

„Das politische Klima hat sich verändert, die Menschen dürfen sich endlich kritisch äußern und tun das auch“, erklärt Eva Ellereit, Leiterin der Niederlassung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Skopje. Man spüre die wachsende Ungeduld der Menschen, viele sähen keine Zukunftsperspektive für sich. „Von Zaevs Kurswechsel kommt bei der Bevölkerung noch zu wenig an.“ Deutschland erscheint da als attraktive Alternative. „Wir beobachten zunehmend, dass junge Mazedonier ihre Studienfachwahl am deutschen Arbeitsmarkt ausrichten.“

Ingenieurwissenschaften, IT und Medizin sind beliebt, weil damit die Aussichten auf ein Arbeitsvisum steigen. „Für den deutschen Arbeitsmarkt macht es durchaus Sinn, diese Menschen ins Land zu lassen.“ Für den Westbalkan aber sei es hochproblematisch. Denn die Jungen fehlen nicht nur als Ärztinnen und Ärzte, sondern auch im Handwerk und bei den Unternehmensgründungen. Sie fehlen intellektuell, demografisch, politisch.

Die Jungen gehen nach Deutschland, dafür könnten bald Autos den umgekehrten Weg nehmen. Er steuert seinen roten Polo raus aus der Innenstadt. Ordanoski – aus privilegierten Verhältnissen stammend, der Vater ist Fernsehjournalist, die Mutter arbeitet in der Deutschen Botschaft, dem Sohn können sie das Studium an einer Privatuniversität finanzieren – schwärmt von deutschen Automarken, sie seien beliebt im Land. Zynisch sagt er: „Wenn die alten Diesel in Deutschland demnächst verboten werden, landen die auch alle hier.“ Skopje ist laut einer gerade veröffentlichten Studie der Europäischen Umweltagentur eine der Städte mit der höchsten Luftverschmutzung in Europa.

Ein Studentenwohnheim erhebt sich vor uns, ein imposantes Sichtbeton-Ensemble aus den 1970ern. „Die leben da drin wie die Schweine“, sagt Ordanoski. Nasse Wände, schimmelndes Inventar, kein warmes Wasser. Für Studenten vom Land sei es trotzdem oft die einzige bezahlbare Möglichkeit, in der Hauptstadt unterzukommen. „Und die Regierung tut nichts für sie!“

Stimmt das? Ivana Tufegdzik trägt ein seidenes Halstuch und einen schwarzen Blazer. Die 25-Jährige hat vor drei Jahren ebenfalls gegen Gruevskis Regime demonstriert, jetzt empfängt sie als parteilose Abgeordnete in einem holzgetäfelten Sitzungssaal im Parlamentsgebäude. Bei der Frage, was die Regierung gegen die Perspektivlosigkeit und die anhaltende Auswanderung unternehme, verzieht sie das Gesicht. „Schmerzhaftes Thema.“ Tufegdzik holt tief Luft und sagt: „Wir haben keine Strategie.“

"Ich gebe noch nicht auf"

Ministerpräsident Zoran Zaev und sein Team sind damit angetreten, alles anders machen zu wollen. Transparenter regieren. Die Wahrheit sagen. Das merkt man auch der jungen Abgeordneten an. Der Fokus habe in den vergangenen zwei Jahren auf dem Abkommen mit Griechenland gelegen. „Jetzt müssen wir den Menschen erklären, dass das nur ein erster Schritt war.“ Dann erläutert Tufegdzik einige ihrer Ideen für die zukünftige Jugendpolitik: mehr Wohnheime, mehr politische Partizipation, mehr städtebauliche Gestaltungsmöglichkeiten. Doch die Staatskassen sind leer, die Korruption ist noch immer weit verbreitet. Bildungssektor, Gesundheitssystem, Infrastruktur – überall brennt es gleichermaßen.

Auf dem Berg Vodno bläst ein scharfer Wind. Nach gut drei Stunden ist Gorazd Ordanoski mit seiner Tour am Ende. Zu sehen gab es ein neugebautes Krankenhaus, „für Privatpatienten“. Ordanoski zeigte die ärmlichen Viertel der albanischen Bevölkerung und die trostlosen der Roma. Er erzählte von Roma-Kindern, die weder krankenversichert sind noch eine Schule besuchen. Sein letzter Programmpunkt war eines der größten antiken Aquädukte auf dem Balkan.

Grau liegt die Stadt dort unten, deren Vororte sich weit durchs Vardartal ziehen. Wo sieht Ordanoski persönlich seine Zukunft? Er muss nicht lange überlegen: „Ich gebe noch nicht auf.“ Aus Mazedonien weggehen, nein, das komme nicht in Frage. „Ich weiß, wie Skopje aussehen sollte“, sagt er. Zurzeit sei seine Heimatstadt nur ein Mix aus Scheußlichkeiten. Warum nicht ein paar Bäume pflanzen? Die Dächer der Neubauten begrünen. Fahrradwege anlegen. „Auch wenn uns die EU vielleicht am Ende doch nicht will – wir könnten trotzdem versuchen, ein bisschen mehr wie Europa zu sein.“ Für Gorazd Ordanoski heißt das: Einfach mal irgendwo anfangen. Und dann in die richtige Richtung weitergehen.

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