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Spricht aus Boris Palmer am Ende die enttäuschte Liebe eines Freigeistes, der dem kleingeistigen Muff seiner Heimat gern schon mit 18 nach Berlin entflohen wäre?

© imago/photothek

Antwort an Boris Palmer: A Henn, wo viel gaggerd, legd wenig Oier

Tübingens grüner Bürgermeister Boris Palmer will nicht, dass seine Stadt wird wie Berlin. Eine Replik aus der Hauptstadt.

Nur um mal die Größenordnung zu klären: Mariendorf und Marienfelde, die beiden bürgerlichen Ortsteile im Süden des Bezirks Tempelhof-Schöneberg, haben zusammen etwa 85.000 Einwohner; einen eigenen Bürgermeister haben sie nicht. Tübingen, das beschauliche schwäbische Universitätstädtchen, hat rund 88.000 Einwohner und einen Bürgermeister. Und was für einen! Wenn der Grüne Boris Palmer in den bundesdeutschen Medien seine Stimme erhebt, dann fühlt sich das immer viel größer an, er steht schließlich auf den Schultern von Tübinger Geistesriesen wie Melanchthon, Hegel und Hölderlin, die Mariendorf und Marienfelde allenfalls als saure Wiesen kannten. Der Berliner Süden kann da nur betreten schweigen.

Palmer mag Tübingen, Berlin mag er nicht. Das haben wir jetzt schriftlich, weil er es den Zeitungen der Funke-Mediengruppe klar gesagt hat. „Wenn ich dort ankomme, denke ich immer: Vorsicht, Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands“, sagte er dort, und weiter: „Ich komme mit dieser Mischung aus Kriminalität, Drogenhandel und bitterer Armut auf der Straße als spießbürgerliche baden-württembergische Grünen-Pflanze schlicht nicht klar. Ich will diese Verhältnisse in Tübingen nicht.“

Ramona Pop twittert: "Zelebriere woanders die Kehrwoche"

Dass das Aufsehen erregt hat, ist klar. Vor allem auch deshalb, weil Berlin unter maßgeblicher Beteiligung von Palmers Parteifreunden regiert wird. Das Zentrum des Berliner Drogenhandels, der Görlitzer Park, steht sogar unter der Aufsicht einer grünen Bezirksbürgermeisterin, die allein gut dreimal so viel Einwohner zu verwalten hat wie Palmer. Also knurrte Berlins Top-Grüne Ramona Pop umgehend per Twitter: „Lieber #BorisPalmer, niemand zwingt Dich, nach #Berlin zu kommen. Wenn Du Metropole, Vielfalt, Tempo und Lebenslust nicht erträgst, kannst Du woanders die Kehrwoche zelebrieren und Dich als Hilfssheriff blamieren.“ Von Renate Künast hören wir: „Was hier anders werden muss, wissen wir selber. Immerhin wird man hier nicht nachts von hyperventilierenden Bürgermeistern angemacht. Das steigert das Sicherheitsgefühl erheblich.“ Und Jürgen Trittin sagt: „Das Bild, das Boris Palmer von Berlin zeichnet, ist genauso falsch wie das Bild, das der Prenzlauer Berg von den Schwaben hat, nur weil es solch einen schwäbischen Wutbürgermeister gibt.“

Das klingt irgendwie nach Parteiausschluss light, nicht wahr? Pops Seitenhieb auf den „Hilfssheriff“ zielt natürlich darauf, dass Palmer kürzlich auf einer Tübinger Straße mit einem Studenten in Streit geriet und als oberster Chef des kommunalen Ordnungsdienstes dessen Personalien feststellen wollte – eine Idee, auf die selbst der Berliner Hardliner-Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky seinerzeit wohl nicht gekommen wäre.

Der Hauptbahnhof würde auch Tübingen schmücken

Aber was wird Palmer von Berlin wirklich mitbekommen? Wenn er anreist, was ein Grüner natürlich per Bahn tut, dann kommt er garantiert zu spät, was Berlin aber nicht anzulasten ist. Der Hauptbahnhof selbst ist so weit okay, er würde auch Tübingen schmücken und liegt funktionsmäßig wie architektonisch glatt im oberen deutschen Drittel, kein Grund zur Beanstandung.

Dahinter breitet sich, zugegeben, die Stadt mit ihren teils müffelnden Biotopen aus. Dort könnten ein paar Bettler auftauchen, die vielleicht als Schüler mal vor der Tübinger Kehrwoche geflohen sind, es könnte auch ein wenig länger dauern als dort, ein Taxi oder Leihfahrrad zu bekommen. Aber selbst wenn sich Palmer entschließt, zu Fuß zur Zentrale seiner Partei oder gleich zum Bundestag zu gehen, ist auf diesem kurzen Weg ein Kontakt zu Drogenhandel, Kriminalität und Armut eher unwahrscheinlich. Mag sein, er zieht nachts mal um die Berliner Häuser – aber wozu, wenn er doch die hochgeklappten Tübinger Bürgersteige lieber mag? Stimmt: Er wurde kürzlich von einem Radler fast umgefahren. Aber in Ulm.

Solche Warteschlangen kriegt eine Stadt mit 88.000 Einwohnern nicht hin

Es spricht also einiges dafür, dass Palmer weniger aus eigener Erfahrung spricht als auf der Basis ausführlicher Zeitungslektüre. Ja doch! Es gibt all das in Berlin, wer nur eine Woche lang den Tagesspiegel-Checkpoint-Newsletter liest, der kennt Interna einer komplett gescheiterten Verwaltung, die Tübingen schon deswegen nicht besitzen kann, weil es dafür einfach zu klein ist – solche Warteschlangen kriegt eine Stadt mit 88.000 Einwohnern schlicht nicht hin. Michael Müller, als Chef der Metropole quasi persönlich angegriffen, spricht deshalb am Dienstag auch nur leicht ironisch von einem „Generalangriff“; er weist entspannt darauf hin, eine Vier-Millionen-Stadt sei nicht vergleichbar mit „dörflichen Strukturen“, in denen Palmer lebe.

Diesen Schuh zieht sich der Wutbürgermeister selbst an, indem er sich ausdrücklich als Ba-Wü-Spießbürger zu erkennen gibt. Allerdings deutet einiges darauf hin, dass es sich dabei um einen Fall uneigentlicher Rede handelt, wie er selbst Hegel aufgefallen wäre. Spricht daraus am Ende die enttäuschte Liebe eines Freigeistes, der dem kleingeistigen Muff seiner Heimat gern schon mit 18 nach Berlin entflohen wäre, aber dann doch bleiben musste, gefangen in einer ewigen Kehrwoche, gegrüßt nur vom südwestdeutschen Murmeltier?  

Am 26. Mai übrigens ist Kommunalwahl im Ländle. Ob das Draufhauen auf Berlin ein paar Stimmen bringt? Andererseits wissen sie in Schwaben: „A Henn, wo viel gaggerd, legd wenig Oier.“ Es könnte also sein, dass Palmer selbst im funktionierenden Teil Deutschlands nicht mehr so wichtig ist, wie er denkt.

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