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Wer es nicht schafft, in der teuren und rauen Hauptstadt Fuß zu fassen, landet oft auf der Straße, in Unterführungen und Kellern.

© Yuri Kadobnov/AFP

Armut in Russland: Wie Moskau Obdachlose unsichtbar macht

Vor der Fußball-WM karrte man Obdachlose letztes Jahr in Bussen aus der Stadt. Die Armut aber wächst im ganzen Land – und der Druck auf Präsident Putin.

Es dämmert schon über der Stadt Moskau, und auf einem Parkplatz hinter den Bahnhofsgleisen, zwischen den geparkten Lastwagen, dem Bauschutt und den grünen Wellblech-Garagen, haben sich Menschengruppen versammelt. Es regnet bereits den ganzen Tag, in den Schlaglöchern hat sich das trübe Wasser gesammelt, die Autos, die sich hierher verirren, müssen sich ihren Weg durch die Pfützen bahnen, langsam wie Boote. Die Menschen, die meisten von ihnen Männer, haben die Hände in ihren Hosentaschen vergraben und sich die Kapuzen tief in das Gesicht gezogen.

Es sind vor allem auch Ältere, die sich für Essen anstellen. Wie auch eine Frau, die hier alle als „Tante Lidija“ kennen. Ihre Kleidung ist akkurat, sie hat Gummistiefel an den Füßen, als eine der wenigen einen Regenschirm über ihren Kopf gespannt und das weiße Haar zu einem ordentlichen, festen Zopf geknotet. Sie sagt, sie sei 69, und zuerst will sie nicht darüber reden, wie sie hier gelandet ist. „Keine schönen Erinnerungen.“ Doch irgendwann beginnt sie doch, zu erzählen: Von ihrem Haus im Moskauer Umland, das abgebrannt ist, von der Zeit, die sie dann bei ihren Nachbarn oder Bekannten untergekommen sei.

Bis eines Tages jemand zu ihr gesagt habe: Geh doch dorthin, zum Platz der drei Bahnhöfe. Seither übernachtet sie hier auf der Straße oder im Bahnhofsgebäude, wenn sie für die Nacht 100 Rubel, umgerechnet 1,40 Euro, zusammenkratzen kann, um damit den Sicherheitsmann zu schmieren, dass er sie nicht wegschickt. Im Schlaf wurden ihr einmal die Schuhe von den Füßen weggestohlen.

Längst kein Randphänomen mehr

Sie mögen extrem sein, die Schicksale, die diese Menschen an diesem verregneten Mittwoch im Juni auf dem Parkplatz zusammengeführt haben. Doch Armut ist in Russland längst kein Randphänomen mehr. Der Russischen Statistikbehörde zufolge lebten 2017 zumindest 13 Prozent der Russen an der Armutsgrenze und mussten mit einem monatlichen Einkommen von rund 10.000 Rubel – umgerechnet 140 Euro – oder weniger auskommen. Das betrifft immerhin 19 Millionen Russen.

Laut einer aktuellen Studie der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst sind sogar 22 Prozent der Russen von Armut betroffen. Die Unzufriedenheit im Land wächst – und damit auch die Kritik an Präsident Wladimir Putin. Der hatte vor den Präsidentschaftswahlen 2018 angekündigt, die Zahl der Armutsgefährdeten bis 2024 zu halbieren.

Jaroslawer, Kasaner und Leningrader Bahnhof: drei Kopfbahnhöfe, ein Ensemble prächtiger Prestigebauten aus der Zarenzeit und der frühen Sowjetunion, von wo die Züge der Transsibirischen Eisenbahn oder nach Sankt Petersburg abfahren. Unweit vom zentralen Gartenring, der das historische Moskauer Stadtzentrum einkreist. Eigentlich eine schicke Gegend, mit Einkaufszentren, Restaurants und Luxushotels.

Vor einem Jahr rüstete sich Moskau für die Fußball-WM. Die russische Hauptstadt wurde herausgeputzt, Gehwege renoviert, Fassaden gestrichen, Steinplatten verlegt. „Satschistki“, der Kehraus, wie das auf Russisch heißt. Am Eröffnungstag der WM am 14. Juni 2018 erstrahlte die Stadt dann in neuem Glanz, und über einen Monat lang verwandelte sich das Moskauer Zentrum in eine bunte Partyzone. Bilder einer modernen, sauberen, sicheren und weltoffenen Stadt gingen um die Welt.

Wie lange er schon auf der Straße lebt, weiß er nicht

Die hunderten Obdachlosen, die sich jeden Tag in einem Zelt hinter den drei großen Bahnhöfen versammelten, passten da nicht ins Bild. Wenige Wochen vor der WM wurde das Zelt abgebaut, die Obdachlosen wurden in Busse gesetzt und das Zelt fernab des Stadtzentrums, im Südosten Moskaus, in Ljublino, wieder aufgebaut. Wie viele Menschen weggeschafft wurden, lässt sich nicht beziffern, doch heute kommt nur noch ein Bruchteil ihrer früheren Zahl zur Essensausgabe.

Andrejs Laune will nicht so recht in die düstere Szenerie passen. Der Mann ist um die 40, speckige Jeans und ein breites Grinsen mit vielen Zahnlücken, ist redselig, lacht viel, tritt von einem Fuß auf den anderen. Vor zwei Jahren ist er aus der weißrussischen Hauptstadt Minsk nach Moskau gekommen, erzählt er. Eigentlich habe er hier das große Geld verdienen wollen, sei aber schnell auf der Straße gelandet. Oder ist seine Ankunft in Moskau doch schon drei Jahre her? So genau weiß er das nicht mehr.

Nur ein Teil der Männer und Frauen, die vor der Fußball-WM weggebracht wurden, sind ins Zentrum von Moskau zurückgekehrt.
Nur ein Teil der Männer und Frauen, die vor der Fußball-WM weggebracht wurden, sind ins Zentrum von Moskau zurückgekehrt.

© picture-alliance / dpa

Die Wochen, Monate und Jahre verschwimmen hier wie das Regenwasser in den braunen Pfützen. Doch eines weiß Andrej noch genau: Bevor die Fußball-WM begann, mussten sie hier nicht im Regen stehen. Nicht wie heute, wenn die freiwilligen Helfer, in zerknitterte Regenhäute gehüllt, ihren Klapptisch am Rande des Parkplatzes aufstellen und das Abendessen für ein paar Dutzend Obdachlose aus großen Kanistern schöpfen. Andrej stellt sich mit einer Plastikschüssel in die Schlange. Buchweizen, Krautsalat, Fischsuppe, Tee und Bananen gibt es an diesem Abend. „Ein Festschmaus“, sagt Andrej und lacht sein fast zahnloses Lachen.

Die Mehrheit kommt von außerhalb

Der Lebensstandard der Russen sinkt seit Jahren, erst vor wenigen Monaten wurde das Eintrittsalter für die Rente um fünf Jahre auf 65 Jahre bei Männern und 60 Jahre bei Frauen erhöht, was zu Protesten quer durch das Land führte. Insgesamt herrscht wegen der andauernden Wirtschaftskrise in Russland großer Unmut in der Bevölkerung. Erst fiel der Ölpreis und mit ihm der Wert des Rubels, Importe wurden teurer, die Kaufkraft sank. Die Steuern wurden erhöht, denn die Staatskassen sind leer. Aufgrund des demografischen Wandels könnte die Staatsverschuldung von derzeit knapp 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2050 auf 116 Prozent steigen, warnt die Weltbank. „Große Pensionen gibt es eben nur dort“, sagt Tante Lidija und weist mit ihrem Plastiklöffel irgendwo in Richtung Bahnhof oder Schienen, „im Ausland.“

Im Zelt hatten Ehrenamtliche seit 2017 eine Infrastruktur aufgebaut, „es sollte der erste Ort werden, am dem umfassende Hilfe für Obdachlose bereitgestellt wird“, sagt die Direktorin der Hilfsorganisation „Haus der Freunde“, Lana Schurkina. Bedürftige wurden hier psychologisch und juristisch betreut, mit Essen und Kleidung versorgt und medizinisch behandelt.

Rund 15.000 Obdachlose gibt es offiziell in der Zwölf-Millionen-Einwohner-Stadt Moskau, Hilfsorganisationen gehen von rund 80.000 aus. Etwa 80 Prozent von ihnen kämen aus anderen Regionen Russlands, um in Moskau nach Arbeit zu suchen, sagt Schurkina. Wer es nicht schafft, in der teuren, schnelllebigen und rauen Hauptstadt Fuß zu fassen, landet oft auf der Straße, in Unterführungen, Kellern, einem der wenigen Obdachlosenheime. Staatliche und kirchliche Einrichtungen stellen 1500 Schlafplätze bereit.

Sie war geschockt von dem, was sie sah

Die gegenwärtige Politik ziele darauf, obdachlose Menschen unsichtbar zu machen, kritisieren Aktivisten. Alles eine Schikane des Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin, ist sich auch Georgina Deiratani sicher. Es ist vier Uhr am Nachmittag, seit drei Stunden steht die 32-Jährige am Herd ihrer Küche und schüttet gerade die dritte Packung Buchweizen in einen Topf mit kochend heißem Wasser.

Ihre Wohnung liegt im elften Stock eines Plattenbaus, vor dem Küchenfenster ziehen sich die anderen Wohnblöcke in den wolkenverhangenen Himmel im Norden Moskaus, in der Ferne sieht man den Fernsehturm. Auf der Fensterbank schnurrt Deiratanis Katze, die ihr zugelaufen ist. Sie heißt „Bomsch“, das ist Arabisch für schwarz, wie das dunkle Fell der Katze, sagt Deiratani. Auf Russisch hat das Wort aber vor allem eine Bedeutung: der „Penner“.

Georgina Deiratani kocht für die Männer und Frauen, die auf der Straße leben, jeden Mittwoch.
Georgina Deiratani kocht für die Männer und Frauen, die auf der Straße leben, jeden Mittwoch.

© Simone Brunner

Geschockt war Deiratani, in Damaskus als Tochter eines syrischen Vaters und einer russischen Mutter geboren und in Moskau aufgewachsen, als sie vor zwei Jahren eine Freundin zur Essensausgabe an Obdachlose begleitet hatte. „Diese Armut, dieser Hunger“, sagt sie. „Ich hatte keine Ahnung, wie schlimm es ist.“ Deiratani ist Zahnärztin, gibt aber hauptsächlich Arabisch-Sprachkurse. Doch jeden Mittwochnachmittag nimmt sie sich frei, um für den Fonds „Gemeinsam gegen die Armut“, für den sich neben ihr noch vier weitere Freiwillige engagieren, zu kochen. „Ich möchte einfach nicht so sein wie alle anderen, die sich um nichts scheren“, sagt sie. „Niemand von uns ist abgesichert, dass das nicht auch uns passiert.“

Bis zu 7.000 Menschen erfrieren jedes Jahr

Später wird sie sich hinter das Lenkrad ihres weißen Kia setzen und das Gaspedal durchtreten, um sechs Kilo Buchweizen, russisch „Gretschka“, und einen Bottich Tee auf den rund 40 Minuten Autofahrt entfernten Parkplatz hinter den Gleisen zu bringen. „Gretschka aus dem Restaurant Georgina“, sagt sie.

Dass das Zelt auf dem Parkplatz bis heute nicht wieder aufgebaut wurde, stelle Freiwillige wie sie vor große Herausforderungen, vor allem im Winter. „Bei minus 20 Grad – da wird einem so kalt, da kann man dann schon mal den Verstand verlieren.“ Im Zelt gab es einen Ofen, um sich zu wärmen. Laut offiziellen Angaben der Stadt sind im Winter 2012/13 in Moskau 102 Menschen, die keinen offiziellen Wohnsitz hatten, erfroren. Die Hilfsorganisation „Notschleschka“ geht indes von 6.000 bis 7.000 Kältetoten unter den Obdachlosen jedes Jahr allein in Moskau aus.

Als das Zelt noch stand, kamen immer rund 250 Leute zur Essensausgabe, schätzt Deiratani. Heute sind es oft nur noch 50 bis 100 Leute. Sie sorgt sich, was wohl mit den anderen passiert ist? „Sie wurden auseinander gejagt, damit die ausländischen Fußballfans nicht diese Armut zu Gesicht bekommen“, ist sie sicher. „Und auch heute wollen sie das Problem der Obdachlosen bloß verstecken.“ Ob sie sich beim Bürgermeister beschwert hätte? „Sinnlos.“

Vor der WM sollen auch in anderen Austragungsorten Personen, die auf der Straße von der Polizei aufgegriffen wurden und keinen gültigen Wohnsitz nachweisen konnten, weggebracht worden sein. Wie in Jekaterinburg, wo Weltmeister Frankreich Gruppenspiele absolvierte. Von dort seien Obdachlose bis in die 200 Kilometer entfernte Stadt Tscheljabinsk gekarrt worden, berichtete die Wochenzeitung „Moskowskij Komsomolez“.

Er sagt: "Mal wohne ich in meinem Penthouse"

Augenzeugen zufolge wurden die Armen in Moskau vor allem nachts weggefahren, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Die Zeitung fühlte sich an die Olympischen Sommerspiele 1980 in der damaligen Sowjetunion erinnert, als Obdachlose ebenso massenweise aus der Stadt entfernt wurden. Zu Sowjetzeiten wurden sie mit speziellen Gesetzen kriminalisiert – das Stigma der selbst verschuldeten Nichtstuer sind sie bis heute nicht ganz losgeworden. „Der Staat sollte sich um die Menschen kümmern, die hier leben“, sagt Georgina Deiratani.

Stattdessen ist sie es, die sich wenig später eine Regenhaut überzieht und auf dem Parkplatz Essen ausgibt. Wadym, ein Mann in den Zwanzigern mit blauen Jeans und zerschlissener, grüner Outdoor-Jacke, isst seine Suppe und erzählt, er habe in einer fernen, russischen Stadt studiert. Dann sei er nach Moskau gekommen, um Arbeit zu suchen und habe seine Dokumente verloren. „Ich bin doch nicht obdachlos“, sagt er und schüttelt empört den Kopf. „Mal wohne ich in meinem Penthouse hier im Stadtzentrum, mal neben der Piste beim Flughafen Scheremetjewo. Mein Zuhause ist überall!“

Auch Andrej, der Mann aus Weißrussland, sagt, er habe seine Dokumente verloren. Aber eigentlich sei er ganz zufrieden. „Das hier ist meine Familie“. Er weist um sich, als würde er vor den verbogenen Wellblech-Garagen gerade seine Gäste willkommen heißen. „Wenn es Sommer ist, so wie jetzt, und das Wetter auch ein bisschen wärmer, dann ist alles gut, dann kannst du nämlich ruhig auf der Straße übernachten“, sagt er augenzwinkernd. „Weil dann erfrierst du nicht, stimmt’s?“

Nur vorübergehend, hieß es

Im Herbst wird in Moskau das Stadtparlament neu gewählt. Mehrere kremlkritische Politiker wurden nicht zur Wahl zugelassen. Die Vertreibung der Obdachlosen aus dem Zentrum, hatte seinerzeit die zuständige Abteilung für Arbeit und Soziales versichert, sei nur vorübergehend. Nach dem Großereignis würde das Zelt wieder aufgebaut.

Doch genau dort, wo es früher stand, steht heute ein gelber Bagger hinter einem Holzzaun. Im Hintergrund sind Container aufgetürmt. Was da gebaut wird, ist nicht ersichtlich. Aber dass das Zelt wieder aufgebaut wird, daran glaubt niemand mehr.

Simone Brunner

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