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Wenn Worte fehlen. Lesen und schreiben musste Torsten B. in den vergangenen vier Jahren komplett neu lernen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Aus dem Koma erwacht: Der schwere Kampf zurück ins Leben

Ihm erging es ähnlich wie dem ehemaligen Formel-1-Fahrer Michael Schumacher: Torsten B. lag wochenlang im Koma. Als er aufwachte, war seine Freundin für ihn eine Fremde. Die Erinnerung an die letzten Jahre, gelöscht. Er hat einen Traum: so zu werden, wie er einmal war.

Von Katrin Schulze

Das mit dem Himmel hat sich für Torsten B. erledigt. Da kommen nur die hin, die im Leben keine schwere Schuld auf sich geladen, die keine schlimmen Dummheiten begangen oder deren Fehler wenigstens nicht so dramatische Folgen haben. Er also nicht! Nach seinem ureigensten Verständnis hat es Torsten B. vermasselt. „Ich kann kein Engel mehr werden“, sagt er. „Weil ich gefallen bin.“

Sein Fall ist jetzt knapp vier Jahre her. „Am Nachmittag des 22.11.2010 ereignete sich ein Verkehrsunfall zwischen Grünow und Prenzlau, bei dem der 24-jährige Fahrer schwer verletzt wurde. Nach einem Überholvorgang hatte der Mann scheinbar die Kontrolle über den Pkw verloren, kam von der Fahrbahn ab und kollidierte mit einem Baum. Der Mann musste aus dem Fahrzeug befreit werden und wurde ins Krankenhaus verbracht.“ So steht es im Polizeibericht.

Es war ungewiss, ob er überlebt

Torsten B. kann davon nicht erzählen. Er hat keine Erinnerungen. Nicht an den Knall, nicht an die Zeit davor und auch nicht an die ersten Monate danach. Bei dem Unfall erlitt er schwerste Hirnverletzungen und lag wochenlang im Koma. Ihm erging es ähnlich wie dem ehemaligen Formel-1-Fahrer Michael Schumacher nach seinem Skiunfall. Es war nicht klar, ob er überhaupt überleben würde. Und wenn doch, wie dieses Leben dann aussehen könnte. Bis wann ist ein Leben eigentlich lebenswert?

Die Hälfte aller Schädel-Hirn-Traumata in der Schwere, wie sie sich Torsten B. oder Michael Schumacher zugezogen haben, endet nach Statistiken von Medizinern tödlich. Weitere 15 Prozent der Menschen können danach nicht mehr eigenständig handeln oder sind vom Hals abwärts gelähmt. „Mit der Schwere der Hirnverletzung steigt das Risiko, später ein sehr eingeschränktes Leben führen zu müssen“, sagt Intensivmediziner Carsten Sanft. Torsten B. kann mittlerweile wieder sprechen, laufen, Auto fahren. „Er hatte Glück“, sagen die Ärzte. Aber es ist nach wie vor ein täglicher Kampf. Wort für Wort. Schrittchen für Schrittchen.

Er tippelt aus seiner Wohnung in der Nähe von Prenzlau. Er lebt allein, Mehrfamilienhaus, dritter Stock. Auf den ersten Blick sieht man Torsten B. nicht an, wie eingeschränkt er ist. Er geht unrund und langsam, seine rechte Hand kann er kaum benutzen, weil sie unkontrollierbar ist, Emotionen vermag sein kantiges Gesicht nur wenige zu zeigen, doch die größten Probleme hat er mit dem Sprechen. An all dem arbeitet er nun schon seit vier Jahren.

Es ist Donnerstag, Therapietag. Die Wege zu den einzelnen Stationen sind lang, aber wenigstens benötigt er mittlerweile keinen Fahrdienst mehr. Seit einer Weile besitzt er wieder ein eigenes Auto, was für jemanden, der einen Verkehrsunfall gerade so überlebt hat, zu einer ziemlichen Zumutung werden kann.

Immer wenn er einsteigt in seinen silberfarbenen Golf, kriecht in ihm die Beklemmung darüber hoch, was er damals an jenem Novembertag alles verloren hat. Seine jugendliche Leichtigkeit, seine Unschuld, ein paar Freunde. Und beinahe auch sein Leben. Torsten B. zwingt sich zu dieser Erinnerung. Um den Schalthebel hat er ein schwarzes Band gewickelt, an dem eine weiße Luzifer-Figur baumelt, der gefallene Engel. „Das ist mein Mahnmal“, erzählt er. „Es soll mich daran erinnern, dass so etwas nie wieder passiert.“ Nein, er verletzte niemand anderen, er saß allein im Wagen. Und trotzdem wirft sich Torsten B. vor, den Gegenverkehr übersehen, beim Überholen das Lenkrad verrissen und das Auto gegen den Baum gesetzt zu haben.

Sprechen, lesen, schreiben, essen, laufen: Alles musste er komplett neu lernen

Neben den Hirnschädigungen führte das auch zu einem Leberriss, einem Milzriss und einer Rückenmarksverletzung. Polytrauma nennen das die Fachleute. Nach ein paar Wochen im Koma zeigte er die ersten Reaktionen, blinzelte mit den Augen. Irgendwann, als er schließlich die Augen öffnete, stand da eine fremde Frau am Bett. „Wer ist das?“, fragte er. „Deine Freundin“, sagten sie ihm. „Nein“, dachte er, „die sieht doch ganz anders aus.“ Torsten B. konnte sich an seine Ex-Freundin erinnern, nicht aber an dieses Mädchen, das die ganze Zeit um ihn gebangt hatte. Er wusste, dass er eine Ausbildung zum Industriemechaniker gemacht hatte, wo er zuletzt gearbeitet hatte, wusste er nicht. An das Koma hat er ebenfalls keine Erinnerung, keine Albträume, keine Halluzinationen, nichts.

Drei Jahre fehlen ihm

Sprechen, lesen, schreiben, essen, laufen: Alles musste er komplett neu lernen. Er hatte viele Kilo verloren, Muskeln. Die Jahre seines Lebens, die er vergessen hat, fehlen ihm. Immer noch. Doch auch mit dem Kurzzeitgedächtnis ist es so eine Sache. Daran üben sie mit ihm bei der Logopädin. Torsten B. sitzt vor einem Computer, auf dem nacheinander verschiedene Symbole aufblinken, die er sich merken soll. „Bürste, Brot, Wasserfarbe, Cola, Mütze“, sagt die Computerstimme. „Bürste“, wiederholt Torsten B. Pause. „Wasserfarbe … Cola ... Mütze … und …. ach, Mist.“

Von den Dingen, die er in den vergangenen Jahren gelernt hat, zählt Geduld zu den wichtigsten. Wieder und wieder zählt er die Sachen auf. „Ganz ruhig, und noch mal“, sagt die Therapeutin. Als sie zufrieden ist, packt sie ein Spiel für Grundschulkinder auf den Tisch, das seine Aussprache verbessern soll. Torsten B. schaut in einen Spiegel, damit er überprüfen kann, wie sein Mund reagiert, wenn er die Buchstaben formt. O, U, S, Z. „Der Zauberkreisel zeigt uns den Zauberhut“, sagt er. Noch mal und noch mal.

Er hat ein Bild im Kopf: von sich selbst

Er redet schnell, verschluckt Silben, stockt oft. Aber es war einmal viel schlimmer. Am Anfang musste er sogar das Schlucken neu erlernen, später suchte er oft lange nach den richtigen Worten. „Du hast riesige Fortschritte gemacht“, sagt seine Therapeutin zu ihm. „Ja?“, fragt Torsten B., als könne er das selbst gar nicht glauben. Für ihn geht es im Prinzip nie gut und schnell genug. Das Problem ist, dass Torsten B. ein Bild von sich im Kopf hat, dem er in diesem Leben nicht mehr gerecht werden wird. Das von einem jungen, aktiven, aufgeweckten Mann, der einst alle anderen beim 100-Meter-Lauf schlug – Torsten B. in der Zeit vor dem 22. November 2010.

„Für den Patienten ist es ein riesiger Erfolg, dass er überhaupt so viel erreicht hat – wenn er nach einem schwersten Schädel-Hirn-Trauma, wieder laufen und beispielsweise Auto fahren kann“, sagt Carsten Sanft vom Unfallkrankenhaus Berlin, wo Torsten B. seine Rehabilitation begann und anderthalb Jahre blieb. „In seiner eigenen Wahrnehmung ist das vielleicht anders, da die Fortschritte im Laufe der Zeit geringer werden.“ Obwohl die Ärzte ihm von Anfang an sagten, dass er nie wieder der Alte sein würde, kann sich Torsten B. immer noch nicht mit sich selbst anfreunden.

Zwar muss er längst nicht mehr im Rollstuhl sitzen und hat nicht mehr so viele Therapiesitzungen wie früher, dennoch „stört mich das Gesamtkonzept“, sagt er. „Ich bin wieder relativ gut hergestellt, aber so möchte man nicht leben. So möchte ich nicht leben.“ Manchmal, wenn er seine Nachbarn beobachtet, wie sie den Müll runterbringen oder im Garten arbeiten, überkommt ihn der Neid auf so viel Bewegungsfreiheit. Dann würde er am liebsten die Körper tauschen.

Groß und schlank ist er, fast schlaksig. Torsten B. trägt Jeans und T-Shirt, und wenn er wie jetzt mit dem Auto zur nächsten Therapiestunde fährt, dann auch eine Brille. Da ist er ganz korrekt. Überhaupt hält er sich penibel an die Geschwindigkeitsbegrenzungen und schaut lieber einmal zu viel nach rechts und links als einmal zu wenig. Er hat seine Lektion gelernt. Gerade zu Beginn hat er sich noch oft die Frage nach dem Warum gestellt. Wie konnte er die Kontrolle verlieren? Wieso ausgerechnet er, der immer so gerne und viel gefahren ist? Inzwischen sind die Fragen weniger geworden, geblieben ist die Angst.

Er hat Angst loszulassen

„Entspannen Sie Ihre Schulter“, sagt die Ergotherapeutin, als sie seine Bewegungen beobachtet. „Lassen Sie mal los.“ Torsten B. atmet tief ein und laut wieder aus, doch es will nichts werden. „Ich habe Angst , was passiert, wenn ich loslasse. Ich will nie wieder an den Punkt kommen, an dem ich die Kontrolle verliere“, sagt er. Also lässt er lieber die Augen auf, als die Therapeutin ihn anweist, sie zu schließen, und versucht mit aller Macht, seinen Körper zu beherrschen. Eine Aufgabe, die nicht funktionieren kann.

Seine rechte Hand hat „ein Eigenleben“ entwickelt, wie er es nennt. Sie zuckt immer wieder völlig unvermittelt. Er trainiert sie bei der Therapie, versucht aus unterschiedlichen Flaschen Wasser in ein Glas einzuschenken. Erst eine große Glasflasche, später eine kleinere aus Plastik. Mit links klappt es besser, weshalb er lieber diese Hand benutzt, auch wenn es die Ergotherapeutin gern anders hätte. Sie wärmt seine Hand, damit sie lockerer wird, dann soll er noch einmal gießen. Torsten B. schnauft. Einen „unwahrscheinlichen Kämpfer“ nennt die Therapeutin ihn, weil er so ehrgeizig ist.

Ihm ist es wichtig, dass er halbwegs eigenständig lebt: „Ich möchte nicht immer nach Hilfe fragen.“ Eine Haushaltshilfe hat er, und manchmal tragen ihm die Nachbarn die Einkäufe nach oben. Wegen seiner Einschränkungen kann er nur einen Automatikwagen fahren, zudem hat er einen speziellen Aufsatz am Lenkrad, mit dem erleichter kurbeln kann. Das kostet weniger Kraft. So geht es jetzt 35 Kilometer Richtung Therme in Templin. Wenn seine Eltern das wüssten!

Verdrängen oder vergessen. Warum er mit seinen Eltern nicht reden kann

Dass er sich wieder hinters Lenkrad setzt, können sie kaum nachvollziehen – nach all dem, was passiert ist. Ja, was denn eigentlich? „Ich weiß es ja nicht“, sagt Torsten B. Wenn er selbst vom Unfallhergang erzählt, klingt das nüchtern, beinahe teilnahmslos; irgendwie ist er das ja auch. „Weil ich keine Erinnerungen habe, kann ich mit all dem unbeschwert umgehen.“ Ganz anders als die Menschen, die wochenlang um sein Leben zitterten, als er im Krankenhaus lag. Die nicht wussten, ob er wieder aufwachen und wie viel dieser Mensch noch mit dem Torsten B. zu tun haben würde, den sie kannten.

Seine Eltern wollen nicht reden. Es geht ihnen noch zu nahe

Seine Eltern und seine Schwester möchten nicht reden. Es ginge ihnen zu nahe, lassen sie über Torsten B. ausrichten, und dass alles schon hart genug gewesen sei. Aus Rücksicht darauf spricht Torsten B. mit ihnen auch nicht mehr über den Unfall. „Für mich ist es merkwürdig, wenn ich höre, wie groß die Sorgen meiner Eltern, meiner Schwester und meiner Freundin waren. Das möchte ich nicht mehr aufrollen.“ Seine Familie habe auch keine Ahnung, dass ihm diese quälende Frage nach dem Warum bis heute zuweilen den Schlaf raube.

Und auf einmal, es ist seine Mittagspause in einer ruhigen Ecke eines Cafés, wirkt er dann doch berührt und nachdenklich. Wie war das mit der Freundin? Torsten B. schaut erst nach rechts, dann nach links und schließlich ins Leere. Ist nicht sein Lieblingsthema. Natürlich freute er sich, dass sie sich um ihn kümmerte. Obwohl er sie gar nicht kannte, „habe ich sie schnell angenommen“, sagt er. „Gut ein Jahr nach dem Unfall hat sie sich aber getrennt, weil sie in eine andere Stadt zog. Schon okay, eine saubere Trennung.“ Torsten B. nimmt sie in Schutz, so wie er es mit allen Verwandten und Freunden macht. Er versucht, ihr Verhalten zu erklären. Ob er es auch wirklich versteht, sagt er nicht.

„Meld dich, wenn etwas ist“, haben die alten Freunde gesagt, als er noch in der Rehaklinik war. Torsten B. fragte sich, warum er sich nur dann melden sollte und wieso sie nicht auch von sich aus anrufen konnten. Der ehemals beste Kumpel ist heute zu einem guten Bekannten geworden, mit dem er manchmal telefoniert und sich hin und wieder schreibt. „Klar schmerzt es, dass es nicht mehr so ist wie früher“, sagt Torsten B. „Aber was kann ich anderes dagegen tun, als es hinzunehmen?!“ Im Internet hat sich Torsten B. neue Freunde gesucht, in einem Forum – für Golf-Besitzer.

Jede Stunde nimmt seine Konzentration ab

Die 35 Kilometer in die Therme nach Templin hat er geschafft. Aber wie. Er fasst sich an die Stirn und seufzt, als er das Auto abstellt. Alles okay? „Ist doch ziemlich anstrengend“, sagt er. So ist das jeden Tag. Von Stunde zu Stunde nimmt seine Aufmerksamkeit, seine Konzentration ab. „Mittags ist ein Punkt erreicht, an dem es nur noch bergab geht“, sagt er. „Das ist frustrierend.“ Und trotzdem macht Torsten B. weiter. Er zieht sich um und steigt ins Wasserbecken. „Wie geht’s denn heute“, fragt der dritte Therapeut des Tages. „Gut“, antwortet Torsten B. reflexartig, nur um dann gleich hinterherzuschieben: „Aber was heißt schon gut?“ Gesundheit ist für ihn sehr relativ geworden. Umso mehr, je geringer seine Fortschritte im Laufe der vergangenen vier Jahre geworden sind.

Nur noch ein paar Übungen, dann hat er es für heute geschafft. Unter Wasser balanciert er einen Ball von einer Hand in die andere, danach hebt er abwechselnd die Beine. Auch der Gleichgewichtssinn hat gelitten. Wenn er könnte, würde er weitermachen. „Ich möchte immer mehr, als ich kann“, sagt er, „die winzigen Fortschritte kann ich nicht akzeptieren.“

Langsam hat Torsten B. einen Weg gefunden, mit seiner Geschichte umzugehen. Nicht mehr jeden Tag zu hadern und sich den Kopf über seinen verhängnisvollen Fehler zu zerbrechen. „Vielleicht wollte mir das Leben etwas zeigen“, sagt er, als er das Auto wieder vor dem Mehrfamilienhaus geparkt hat, und denkt dann lange darüber nach, was es wohl sein könnte. „Dass es so nicht mehr weitergehen kann. Dass ich etwas ändern muss, ruhiger, geduldiger leben muss.“ Wenn er ehrlich ist, hat er die Hoffnung auf den Himmel doch noch nicht ganz aufgegeben.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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