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Holocaust-Gedenken im Bundestag: Die KZ-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch spricht zu den Parlamentariern.

© AFP/John Mcdougall

Auschwitz-Überlebende im Bundestag: Lehrstunde einer deutschen Zeugin

Vielleicht ist Anita Lasker-Wallfisch eine der letzten Überlebenden von Auschwitz, die noch im Bundestag sprechen kann. Und die erste, die ihre Rede vor Abgeordneten der AfD halten muss.

Alexander Gauland zögert kurz, als in den anderen Fraktionen im Bundestag schon alle klatschen. Auch aus den hinteren Reihen seiner AfD ist Applaus zu hören. Dann klatscht der Partei- und Fraktionschef zwei Mal in die Hände, um gleich wieder damit aufzuhören. Gerade hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gesagt, man müsse sich einsetzen gegen jede Art von Ausgrenzung, „bevor es zu spät ist“.

Vor dem Reichstagsgebäude und auf den vier Türmen wehen die Flaggen auf Halbmast, im Plenarsaal ist es ungewöhnlich still. Der Bundestag gedenkt an diesem Mittwoch der Opfer des Nationalsozialismus. „An Auschwitz scheitert jede Gewissheit“, sagt Schäuble. Gleich zu Beginn hat er deutlich gemacht, dass es an einem solchen Tag nicht nur um das Erinnern geht und auch nicht nur um das Entsetzen angesichts der deutschen Vergangenheit. Der Bundestagspräsident stellt die Frage nach den Lehren aus der Vergangenheit an den Anfang der Gedenkstunde. Seit im Parlament auch eine rechtspopulistische Fraktion sitzt, gibt es im Plenarsaal durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber, wie diese Lehren aussehen sollten.

Schäuble erwähnt die Partei nicht. Doch er gibt ihr eine Mahnung mit

Doch Schäuble spricht an diesem Tag nicht nur vom Antisemitismus, sondern von allen Straftaten, die aus Hass auf andere Menschen begangen werden. Es müsse beunruhigen, wenn Angriffe auf Menschen, die anders aussähen, und auf Flüchtlinge „stillschweigend oder gar laut gebilligt werden“. Wieder wird die Rede von Applaus unterbrochen, doch in den Reihen der AfD klatschen viele an dieser Stelle nicht. Dagegen ist ein AfD-Abgeordneter der Erste, der mit Beifall reagiert, als Schäuble die Anfeindungen gegen Juden in Deutschland kritisiert. Dass Verbrennen israelischer Flaggen sei inakzeptabel, sagt er.

„Hetze und Gewalt dürfen in unserer Gesellschaft keinen Raum haben“, mahnt Schäuble. Und ohne die AfD zu erwähnen, gibt er der neuen Fraktion im Bundestag eine Mahnung mit auf den Weg: „Wer von Volk spricht, aber nur bestimmte Teile der Bevölkerung meint, legt Hand an unsere Ordnung.“ Die Botschaft ist angekommen, kein einziger Abgeordneter der AfD klatscht.

Doch Schäubles Rede gibt nur den äußeren Rahmen für die Gedenkstunde. Denn 73 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz spricht an diesem Tag noch einmal eine Überlebende des Massenmordes an den europäischen Juden im deutschen Bundestag. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier geleitet Anita Lasker-Wallfisch in den Plenarsaal, ihre Schwester Renate Lasker-Harpprecht hat sich bei Bundeskanzlerin Angela Merkel untergehakt.

Die beiden Schwestern haben das nationalsozialistische Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Die Zahl derjenigen, die diesen Ort des nahezu unvorstellbaren Verbrechens mit eigenen Augen gesehen haben, wird von Jahr zu Jahr kleiner. So wird die Gedenkveranstaltung zu einer selten gewordenen Lehrstunde deutscher Geschichte, als die 92-jährige Anita Lasker-Wallfisch am Rednerpult ihre Lebensgeschichte skizziert.

Die Auschwitz-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch bekommt von allen Fraktionen Applaus.
Die Auschwitz-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch bekommt von allen Fraktionen Applaus.

© AFP/John Mcdougall

Als sie 16 ist, werden die Eltern deportiert

Anita wächst als jüngste von drei Schwestern in einer bildungsbürgerlichen Familie in Breslau auf, der Vater ist Rechtsanwalt, die Liebe zur Musik kommt von der Mutter, einer Geigerin. Alle drei Töchter lernen ein Instrument, Anita spielt Cello. Samstags werden zu Hause die Klassiker deutscher Literatur gelesen, sonntags spricht die Familie Französisch. Als Anita sieben Jahre alt ist, wird Adolf Hitler in Berlin zum Reichskanzler ernannt. „Plötzlich war alles zu Ende, die Idylle war zu Ende.“ Die „radikale Ausgrenzung“ der Juden beginnt.

Die Familie muss ihre Wohnung räumen, alle tragen den gelben Stern. Der Vater, ein mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichneter Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, glaubt immer noch, so schlimm werde es schon nicht werden, die Deutschen würden diesen Wahnsinn nicht mitmachen. Als am 9. November 1938 die Synagogen brennen, ist es zu spät. „Wir waren gefangen.“ Nur die älteste Schwester findet einen rettenden Ausweg, sie begleitet nach Kriegsbeginn einen Kindertransport nach England.

Anita Lasker ist 16 Jahre alt, als ihre Eltern deportiert werden. Sie und ihre Schwester Renate wollen mitfahren, damit die Familie zusammenbleibt. Doch der Vater sagt: „Da, wo wir hingehen, kommt man zeitig genug hin.“ Anita und Renate sehen die Eltern nie wieder. Alfons und Edith Lasker werden wahrscheinlich im Ghetto von Isbica erschossen.

Die Schwestern gelten jetzt als Kriminelle. Zum Glück

Die Schwestern, die nun im Waisenhaus leben, müssen in einer Breslauer Papierfabrik Zwangsarbeit leisten. „Wir waren fest entschlossen, uns nicht unterkriegen zu lassen. Wir wollten nicht warten, bis wir abgeholt werden.“ In der Fabrik helfen sie französischen Kriegsgefangenen, Ausweise zu fälschen, damit sie fliehen können. Doch nach einiger Zeit droht ihr heimlicher Widerstand aufzufliegen. Deshalb stellen die Schwestern nun falsche Papiere für sich selbst her und planen ihre Flucht in den freien Teil Frankreichs. Doch die Reise endet schon am Breslauer Bahnhof. Die Gestapo nimmt sie fest. Im Gefängnis warten sie monatelang auf ihren Prozess, sie werden wegen Urkundenfälschung zu Haftstrafen verurteilt. Die Tatsache, dass beide nun als Kriminelle gelten, ist für die Schwestern in der absurden Welt der NS-Bürokratie sogar ein Vorteil. Während Hunderttausende andere in Viehwaggons nach Auschwitz deportiert wurden und die meisten von der Rampe des Vernichtungslagers direkt in die Gaskammern geschickt werden, kommt Anita Lasker im Dezember 1943 in einem Gefangenenzug in Auschwitz an.

Dort ist es die Musik, die ihr das Leben rettet. Sie wird Cellistin im Mädchenorchester von Auschwitz. Die meisten Mädchen in dem Orchester beherrschen ihr Instrument kaum. Doch wer im Lager eine Aufgabe hat, erhöht dadurch seine Überlebenschancen. Deshalb nimmt die Leiterin des Orchesters so viele Mädchen wie möglich auf, auch wenn sie ihr Instrument kaum beherrschen. Sie spielen Märsche, wenn andere Häftlinge morgens das Lager zur Zwangsarbeit bei der IG Farben oder anderswo verlassen, und abends, wenn sie völlig erschöpft zurückkehren.

Für Josef Mengele spielte sie die "Träumerei"

Auch Sonntagskonzerte gibt es in Auschwitz, mitten in der Hölle. Wenn offizieller Besuch kommt, muss das Orchester spielen und dem Besuch eine Normalität vorgaukeln, die es unweit der Gaskammern und in Zeiten des fortwährenden Massenmordes nicht gibt. Manchmal wollen auch die SS-Offiziere im Lager ein bisschen Musik hören. Für den SS-Arzt Josef Mengele, der in Auschwitz Zwillinge entsetzlichen Versuchen aussetzt, muss Anita Lasker die „Träumerei“ von Robert Schumann spielen.

Ein wenig später als Anita kommt Renate Lasker in Auschwitz an, wie durch ein Wunder finden sich die Schwestern wieder. Und wie durch ein Wunder überlebt Renate eine schwere Typhus-Erkrankung. Im November 1944 werden beide in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert. Obwohl sie dieses Mal doch in einen Viehwaggon gezwängt werden, sind sie erleichtert, den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau entkommen zu sein. „Wer hätte gedacht, dass wir Auschwitz lebendig und nicht als Rauch verlassen würden?“, sagt Anita Lasker-Wallfisch im Bundestag. Ihren Tag der Befreiung erleben sie am 15. April 1945 in Bergen-Belsen.

Wenn Anita Lasker-Wallfisch heute in Schulen über ihr Leben spricht, wird sie an dieser Stelle oft gefragt, ob sie dann nach Hause gefahren sei. Doch ihr Zuhause gibt es nicht mehr. Über Belgien wandert sie nach Großbritannien aus. Sie gründet das London Chamber Orchestra mit, heiratet den Pianisten Peter Wallfisch und spielt bis ins hohe Alter Cello. Die Liebe zur Musik gibt sie an ihre Kinder und Enkel weiter. So ist es ihr Sohn Raphael, der in der Gedenkstunde im Bundestag Cello spielt.

Eigentlich wollte sie nie nach Deutschland zurück. Aber Hass ist Gift

Bis Anita Lasker-Wallfisch wieder nach Deutschland fahren kann, vergehen fast fünf Jahrzehnte. Eigentlich hat sie sich geschworen, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Alles Deutsche habe sie gehasst, sagt sie im Bundestag. „Aber Hass ist ganz einfach ein Gift. Und letzten Endes vergiftet man sich selbst.“ Für ihre ergreifende Rede erhält Anita Lasker-Wallfisch stehenden Applaus, von allen Abgeordneten und auch von den Gästen und Journalisten auf den Tribünen.

Auch ihr sind die Lehren aus der Vergangenheit wichtig. So lobt sie in ihrer Rede die Aufnahme der Flüchtlinge in Deutschland als „unglaublich generöse, menschliche und mutige Geste“. Dem Applaus der anderen Fraktionen hören die AfD-Abgeordneten mit unbewegten Gesichtern zu.

Auf der Besuchertribüne sitzen Schülerinnen und Schüler aus mehreren europäischen Ländern und aus Israel, die die sich im Rahmen einer vom Bundestag organisierten Jugendbegegnung mit der deutschen Geschichte und vor allem mit den Möglichkeiten des Widerstands beschäftigen. Anita Lasker-Wallfisch wird sich gemeinsam mit ihrer Schwester und mit Schäuble später noch mit den Jugendlichen treffen. Solche Treffen empfindet sie heute als eine Art Pflicht. Weil es ihr wichtig ist, „dass so etwas nie wieder geschehen kann“, spricht sie nach den Jahrzehnten des Schweigens regelmäßig in Schulen.

Das, was geschehen sei, könne nicht einfach mit einen Schlussstrich ausgelöscht werden, mahnt die Auschwitz-Überlebende. Wie zerbrechlich die Freiheit sei und wie fragil die zivile Gesellschaft, das sei die Lehre aus der deutschen Geschichte, hat Schäuble zuvor gesagt. „Die Menschenwürde ist verletzlich.“

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