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Besucher in Auschwitz.

© Joel Saget/AFP

Auschwitz-Überlebender: Natan Grossmann stellt sich 70 Jahre später der Erinnerung

Natan Grossmann ist dem Tod entkommen, dem Verhungern, Erfrieren, Vergastwerden. Im Ghetto von Lodz. In Auschwitz. Zum 70. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung fährt er noch einmal in das Lager. „Ich bin verpflichtet“, sagt er.

In Auschwitz hat er jeden Tag die Nacht herbeigesehnt. „Nachts habe ich mich immer satt gegessen“, sagt Natan Grossmann. „Ich habe geträumt von Essen, das meine Mutter gekocht hat, gefilte Fisch und Tscholent.“ Am Tag drehten sich im Lager alle Gespräche des Jugendlichen ums Essen. „Es kann sich keiner vorstellen, was es bedeutet, dauerhaft Hunger zu haben.“ Die Häftlinge waren in einer Baracke in Auschwitz-Birkenau untergebracht, nicht weit von den Gaskammern. Im Lager sagt ihm jemand, die Abkürzung KL stehe nicht nur für Konzentrationslager, sondern für: kein Leben.

Doch Natan Grossmann hat den Holocaust überlebt. Am heutigen Dienstag wird er mit mehr als 300 anderen Überlebenden noch einmal nach Auschwitz fahren, zum 70. Jahrestag der Befreiung des Lagers. Vielleicht, im besten Fall, hält die Welt für einen Moment den Atem an und hört ihren Geschichten zu. Denn oft wird das nicht mehr möglich sein.

Eine vergessene Welt

Grossmanns Geschichte beginnt in einer Welt, die fast in Vergessenheit geraten ist. Aufgewachsen ist er in einem jüdischen Schtetl in Polen, in Zgierz, zehn Kilometer nördlich von Lodz. Noch heute klingt in seiner Stimme das Jiddische mit, seine Muttersprache. „Was mechten Sie von mir heren?“, fragt er beim ersten Treffen in München, wo er seit 56 Jahren lebt.Wie alt er ist, kann er nicht genau sagen. In seinem Ausweis steht das Geburtsjahr 1928. Aber ob das stimmt? Es könnte auch 1927 gewesen sein, sagt er. Vielleicht hat der Vater ihn später im Ghetto ein Jahr älter gemacht, damit der Junge Arbeit bekam und nicht deportiert wurde.

Doch sein Alter merkt man ihm ohnehin kaum an. Drei Stunden lang erzählt er, ohne auch nur einmal eine längere Pause machen zu müssen. Den Faden verliert der lebenskluge Mann dabei nie, selbst wenn er zwischendurch jüdische Witze, etwas aus dem Alten Testament oder Überlegungen zur Geschichte der osteuropäischen Juden einfließen lässt.

Grossmanns Vater ist Schuster, die Familie der Mutter hat eine koschere Metzgerei. Natan und sein älterer Bruder gehen in die Schule und zum Religionsunterricht, wo sie die Thora und den Talmud kennenlernen. Die Familie ist arm. „In Polen war damals das Elend sehr groß, besonders bei der jüdischen Bevölkerung.“

Wer hätte sich das Unvorstellbare ausmalen können?

Natan Grossmann wächst mit nicht jüdischen Kindern auf, die Grossmanns wohnen zur Untermiete bei einer katholischen Familie. „Wir haben zusammen gespielt. Nur wenn Ostern kam, am Karfreitag, hat meine Mutter gesagt: ‚Geh nicht raus, man wird dich schlagen.‘ Wir wurden ja der Kreuzigung Christi beschuldigt.“ In der Religion sieht Natan Grossmann bis heute die eigentliche Ursache für die Verfolgung der Juden, von den Pogromen bis zur Schoah. Er selbst sei Atheist, betont er. „Diejenigen, die diese Hölle überlebt haben, teilen sich in zwei Gruppen. Die einen sagen: Gott hat mir geholfen, und deshalb habe ich überlebt. Die anderen sagen: Gott hat das zugelassen. Ich gehöre zu der zweiten Gruppe.“

Als die Wehrmacht 1939 in Zgierz einmarschiert, sagt der Kolonialwarenhändler von gegenüber, ein Deutscher, zu Natans Vater: „Avram, wenn du kannst, hau’ ab. Das ist nicht gut für euch.“ Doch die Mutter denkt, der Ladenbesitzer habe es auf ihren Besitz abgesehen. Auch der Vater glaubt nicht an eine Gefahr: „Ach, die Deutschen wissen doch, dass wir arme Menschen sind, bei uns gibt es nichts zu holen. Was sollen die schon mit uns machen?“ Wer hätte auch wissen können, was passieren würde? Wer hätte sich das Unvorstellbare ausmalen können?

"Das Hungern ist der schlimmste Tod. Man stirbt jeden Tag ein Stückchen"

Schon 1940 müssen alle Juden Zgierz verlassen. Das Schtetl gibt es nicht mehr. Die Grossmanns ziehen zu einer Tante nach Lodz. Wenig später wird dort ein Ghetto für die Juden errichtet. Natan bekommt Arbeit in einer Schmiede. Das ist sein Glück: Dort ist es im Winter warm, und es gibt eine Suppe zusätzlich wegen der harten Arbeit. 200 000 Juden sind damals im Ghetto von Lodz eingesperrt. Das Kriegsende erleben nur zwischen 7000 und 10 000.

Der Alltag ist geprägt von Hunger und Krankheiten. Immer wieder werden Juden in die Vernichtungslager deportiert. Im März 1942 verschwindet Natans großer Bruder. Erst kürzlich hat Natan herausgefunden, dass er im Vernichtungslager Chelmno in einem Lastwagen vergast wurde. Der Vater stirbt wenige Monate später im Roten Haus von Lodz, dem Sitz der Kriminalpolizei. „Die haben systematisch Menschen geholt und gefoltert, sie wollten von ihnen das Gold und die Diamanten haben.“ Damals habe man geglaubt, alle Juden seien reich. „Mein Vater hat seinen Ring gehabt, das war sein ganzes Gold. Er war ja ein armer Schuster.“ Avram Grossmann wird totgeschlagen und in ein Massengrab gelegt. „Die Mutter ist zu mir gekommen und hat gesagt: Du hast kejn tatn (keinen Vater) mehr.“ Er konnte für seinen Vater nicht einmal das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sagen.

Das Essen reicht nicht für zwei

Natan bleibt mit seiner Mutter allein. Doch das Essen, das sie haben, reicht nicht für zwei, das muss die Mutter gemerkt haben, glaubt Natan heute. „Sie hat von ihrem Essen noch mir etwas gegeben. Ich habe das nicht gewusst, ich war ein Kind.“ Am 16. September 1942 stirbt Bluma Grossmann, sie ist verhungert. „Nur du bist mir schade“ (nur um dich tut es mir leid), sind ihre letzten Worte an Natan. Als er das erzählt, mehr als 72 Jahre später, bricht seine Stimme. Er setzt die Brille ab, wischt sich schnell die Tränen aus den Augen. Und redet weiter.

„In Lodz haben sie uns nicht erschossen, sie haben uns nicht vergast. Sie haben uns sterben lassen vor Hunger. Wenn man jemanden erschießt, dauert es nicht lange, dann ist er tot. Viele Menschen wünschen sich einen schnellen Tod. Aber das Hungern ist der schlimmste Tod. Man stirbt jeden Tag ein Stückchen. Das Schlimmste, was kann nur sein.“

Plötzlich ist Natan mit 14 oder 15 Jahren ganz allein. Er schläft nun in einem Keller. Im Winter wird es entsetzlich kalt, er zieht sich Erfrierungen zu, deren Folgen ihn bis heute plagen. Später wohnt er bei einem Bekannten, der den Widerstand im Ghetto organisiert. In der Schmiede fertigen sie Brechstangen für die deutsche Wehrmacht – und aus den Reststücken schmiedet Natan heimlich Waffen, Bajonette. Anders als im Warschauer Ghetto gab es in Lodz jedoch keinen Aufstand.

Eines Tages im August 1944 kommt der Leiter des Ghettos und sagt: „Ihr werdet jetzt ins (Deutsche) Reich geschickt. Dort wird es euch gut gehen. Nehmt alles mit, was ihr habt.“ Natan und die anderen Juden, die für diesen Transport bestimmt sind, schöpfen Hoffnung. Sie versammeln sich am Bahnhof Radegast in Lodz. Doch der Zug fährt nicht nach Westen. Er fährt nach Auschwitz-Birkenau.

Im August 1944 verlassen 67 000 Männer, Frauen und Kinder das Ghetto Lodz Richtung Auschwitz. 45 000 Menschen werden in den Gaskammern ermordet.

Von der Baracke waren die Krematorien nicht weit

Der Zug kommt auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau an, Natan Grossmann sieht Häftlinge in gestreifter Kleidung. Ihre Aufgabe ist es, sich um das Gepäck derer zu kümmern, die in den Tod geschickt werden. Aber das begreift Natan erst viel später. SS-Leute entscheiden, wer sterben und wer als Arbeitssklave noch etwas weiterleben soll. Natan Grossmann, der Schmied, ist kräftiger als viele andere. „Dann hat mich diese Gruppe um den Dr. Mengele geschickt zur Arbeit.“ Er und die anderen müssen ihre Kleidung abgeben – „die haben doch gedacht, wir hätten da Gold und Diamanten eingenäht“ –, sie werden kahl geschoren und erhalten Häftlingskleidung. Eine Nummer wird ihnen nicht eintätowiert, weil sie bald zur Zwangsarbeit weggebracht werden sollen.

Eigentlich könne er nicht viel über Auschwitz erzählen, hat Natan Grossmann vor der Begegnung fast entschuldigend am Telefon gesagt. Er sei doch nur drei oder vier Wochen dort gewesen. Tatsächlich wird er wortkarg, wenn es um die Gaskammern geht. Doch von seiner Baracke im ehemaligen „Zigeunerlager“ waren die Krematorien nicht weit.

Jeden Tag bekommen die Häftlinge Schläge von den Wachleuten. „Sie sind reingekommen und haben zugeschlagen. Die, die groß waren, haben die Schläge bekommen. Ich war ja klein. Ich wusste schon, wie ich mich verstecken musste.“

Endlich kann er für etwas kämpfen, an das er glaubt: den Staat Israel

An einem Septembertag kommt zum Morgenappell der Kommandoführer mit Zivilisten in ihre Baracke. Der Blockälteste schreit: Metallarbeiter drei Schritte vortreten! Natan Grossmann tritt vor. Eine Autofabrik in Braunschweig sucht Arbeiter. „Wir waren ja Sklaven, die SS hat uns verkauft.“ Jeder bekommt eine Tasche, darin sind Brot und Marmelade. „Ich dachte nur: Wie komme ich an das Brot? Doch die älteren Häftlinge haben gesagt: Das ist unsere Henkersmahlzeit. Jetzt werden sie uns vergasen. Sagt das Kaddisch.“ Erst als sie im Zug sitzen und Birkenau hinter ihnen liegt, sind sie sicher, die „Hölle von Auschwitz“ überlebt zu haben.

In Braunschweig muss Natan Grossmann Autoteile für die Wehrmacht herstellen. Als die Front näher rückt, werden die Häftlinge auf einen Todesmarsch geschickt. Grossmann überlebt, weil er einem SS-Mann das Gepäck trägt und der ihm Essen zusteckt. Am 2. Mai wird er in Ludwigslust von den Amerikanern befreit. Nach Kriegsende will er so schnell wie möglich nach Hause. Doch in Lodz findet er keinen Verwandten mehr. „Ich bin allein am Leben geblieben.“ So schließt er sich anderen jüdischen Männern an, die im Warschauer Ghetto kämpften oder in der Roten Armee. Über Deutschland und Italien gelangen sie ins britische Mandatsgebiet Palästina.

Israel ist eine Herzenssache

Natan Grossmann lebt viele Jahre in einem Kibbuz am See Genezareth – und kann endlich für etwas kämpfen, an das er glaubt: den Staat Israel. „Es gibt eine Lösung für die sogenannte ,Judenfrage‘. Diese Lösung heißt Israel. Wir haben sie selbst gefunden mit der Gründung eines eigenen Staates.“ Eines ist ihm besonders wichtig: „Dieser eigene Staat ist uns nicht geschenkt worden. Er wurde erkämpft.“ Ob er selbst dabei mitgemacht habe? „Sicher“, sagt er. 1948 kämpfte er im Befreiungskrieg in der israelischen Armee. Israel ist für Natan eine Herzenssache. Dennoch oder gerade deshalb ist er für einen Palästinenserstaat.

Aber warum zieht er von Israel 1959 ausgerechnet nach Deutschland, ins Land der Täter? In Israel können die Folgen seiner Erfrierungen nicht behandelt werden, sein Arzt empfiehlt einen Spezialisten in München. Dort teilt sich der Holocaust-Überlebende das Krankenzimmer mit Männern, die in Stalingrad gekämpft haben. Doch von Bitterkeit ist bei ihm keine Spur: „Die wurden doch auch in den Tod geschickt.“

In München verliebt sich Grossmann in eine Deutsche. „Sie ist die beste Wiedergutmachung, die ich von Deutschland bekommen konnte“, sagt er mit einem Lächeln. Einige Weggefährten in Israel verstehen nicht, warum er in Deutschland blieb. Manche wollten seiner Frau erst nicht die Hand geben, weil sie Deutsche ist. Grossmann verteidigt seine neue Heimat: „Das ist ein anderes Deutschland heute. Dieses Unrecht hat mit dem deutschen Volk nichts zu tun.“ Die dritte Generation tue viel, um die Vergangenheit aufzuarbeiten. Antisemitismus habe er in München kaum erlebt.

"Ich bin verpflichtet, sonst ist keiner mehr da"

Viele Deutsche sagten nach dem Krieg, sie hätten nichts von der Ermordung der Juden gewusst. Natan Grossmann ist da nachsichtig: „Wenn jemand zu mir kommt und sagt, er habe das nicht gewusst, dann kann ich das glauben. Die Menschen in Deutschland wurden ja ebenfalls angelogen. Wenn jemand sagt, er habe zu viel Angst gehabt, um etwas zu tun, dann kann ich auch das glauben.“ Nur eines kann er nicht akzeptieren: Wenn jemand behauptet, die nationalsozialistischen Verbrechen, den Mord an seiner Familie, habe es nie gegeben. Das ist auch der Grund, warum er nun zum Gedenktag noch einmal nach Auschwitz fährt. „Ich will ankämpfen gegen diejenigen, die sagen, das stimme alles nicht, das sei nicht passiert.“

Seine Frau wollte erst nicht, dass er sich dort noch einmal an alles erinnert. „Ich habe gesagt: Ich bin verpflichtet, sonst ist keiner mehr da.“ Aus Deutschland kommen nur wenige Überlebende. Er ist sich sicher, dass er das schafft.

Natan Grossmann redet erst seit ein paar Jahren über seine Geschichte. Mit einer deutschen Filmemacherin begab er sich in Lodz auf die Suche nach der Vergangenheit. Währenddessen lernte er jemanden kennen, der sich selbst intensiv mit der Geschichte des Ghettos befasst: Jens-Jürgen Ventzki wurde in Lodz geboren. Sein Vater war Oberbürgermeister der Stadt und damit verantwortlich für die Zustände im Ghetto – und indirekt auch für den Tod von Grossmanns Eltern. „Wir sind Freunde geworden“, sagt Grossmann. Aus der Freundschaft entstand eine besondere Geste: Der Sohn eines NS-Täters wird den Holocaust-Überlebenden heute nach Auschwitz begleiten.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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