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Rhythmusstörung. Im frisch sanierten Nord-Süd-Tunnel fahren die Linien ab Dienstag streikbedingt nur alle 20 Minuten.

© Thilo Rückeis

Ausnahmezustand im Nord-Süd-Tunnel: Die S-Bahn kurz vor dem GDL-Streik

„Sie hätten ihn auch zulassen können“, lästert das Personal. Nach drei Monaten verkehren im Nord-Süd-Tunnel wieder die Züge. Aber nur für einen Tag. Ab diesem Dienstag wird auch hier wieder gestreikt. Dann heißt es wieder: Warten. Und mit jeder Minute wächst der Zorn.

Der freundliche Herr mit dem gutmütigen Gesicht, der seinem Namensschild nach Herr Rösner heißt, hat am Wochenende am unteren Gleis der S-Bahn Friedrichstraße nach dreieinhalb Monaten Bau-Pause die Regale seines Ladens wieder mit Tabakdosen, Kaugummi und Zeitschriften befüllt. Doch jetzt muss er seinen Stammkunden, die an diesem Montagmorgen nach all der Zeit tatsächlich wieder aufgetaucht sind, die Berliner Tageszeitungen verkaufen, die samt und sonders auf ihren Titelseiten den größten Bahnstreik der Geschichte verkünden. Beginn: diesen Dienstag.
Was bedeutet, dass der Montag mit regulärem Fahrplan im frisch saniert eröffneten Nord-Süd-Tunnel eine absolute Ausnahme ist. Es ist fast so, als habe die Bahn hier unten einen eintägigen Pop-up-Store namens „Normalität“ eröffnet. Und zur Feier des Tages verteilen die S-Bahn-Mitarbeiter das Geld mit vollen Händen an gebeutelte Pendler. In Form von 5-Euro-Gutscheinen.
Die Lokführergewerkschaft GDL hat ihre Mitglieder ab Dienstagmorgen um 2 Uhr zum Streik aufgerufen – bis Sonntagmorgen um 9 Uhr. Davon ist auch die S-Bahn betroffen. Die Kollegen sitzen am Notfahrplan, sagt S-Bahn-Chef Peter Buchner, aber natürlich werden die restlichen Züge voll sein. Er weiß, wovon er spricht, weil auch er morgens gewöhnlich mit der S-Bahn vom Stadtrand aus in Richtung Nordbahnhof fährt. Also: Wenn die Bahn fährt.
An diesem Montagmorgen betritt er sie mit einem Lächeln und freundlichem Gruß zur Inspektion des Tunnels. Ein bisschen quietschen die Züge noch in den Kurven, das sollte durch die Bauarbeiten behoben sein, ist angesichts der kommenden Tage aber ohnehin nicht das drängendste Problem. Das ist die Masse derer, die gern von A nach B fahren möchte. Heute und morgen und ... Die Ringbahn fällt voraussichtlich komplett aus. Durch den frisch eröffneten Nord-Süd-Tunnel soll hingegen gelegentlich ein Zug rollen: S1 und S2 fahren jeweils im 20-Minuten-Takt.

Ladenbesitzer rechnen wieder mit Einbußen

Das ist natürlich unterirdisch, so ein Start mit Antäuschen. Erst wollen sie und können nicht, dann können sie und wollen nicht. „Wir haben schon gelästert: hätten sie auch zulassen können“, sagt eine Aufsichtsperson der Bahn. Die Touristen mit ihrem Gepäck sitzen auf den Klappsitzen und ahnen ja gar nicht, wie bahnbrechend das ist, dass sie jetzt gleich wieder an der Friedrichstraße zum Hauptbahnhof umsteigen können. Einige Ladenbesitzer hingegen fürchten schon die nächsten Einbußen.

Immerhin wissen die Menschen, was auf sie zukommt. Das entspannt, meint der Biopsychologe und ehemalige Professor an der Freien Universität, Peter Walschburger. „Stress und Belastung sind in aller Regel geringer, wenn man Dauer und Ursache der Wartezeit kennt“, sagt er. Nichts irritiere mehr, als ein Problem nicht richtig einschätzen zu können. Zumal, wenn man von einem Konzern wie der Deutschen Bahn, der mit Slogans wie „Wer zügig fahren will, fährt mit dem Zug“ oder „Besser mit der Bahn“ langfristig hohe Erwartungen geweckt hat, so enttäuscht wird. Digitale Anzeigen, Verspätungsalarme aufs Handy, regelmäßige Durchsagen – all das zeigt, dass der Konzern die Wut der Wartenden aus psychologischer Sicht in den Griff zu bekommen versucht. Mit der Milde des lauen Frühlingstages sitzen die Fahrgäste in den Waggons. In jeder Sitzgruppe einer, der schweigt. Die iPads sind nach Abschwellen des Berufsverkehrs durch Bücher ersetzt. Statt der Anzüge nun Sandalen und Kinderanhänger. Die Leute lehnen ihre Räder an die Stangen und verweigern den Kauf eines „Straßenfegers“. Normal.

Zum regulären Montagsfahrplan gehört ja auch, dass alle wieder ihre Plätze einnehmen. Der Straßenzeitungsverkäufer, die Pfandflaschensammler, das Aufsichtspersonal und eben das geballte Gewerbe in Form von Eckert, Le Crobag und Cucci. Letztere schicken Schwaden von Aufbackgeruch durch den Tunnel, woran auch ein Blinder den Bahnhof Friedrichstraße erkennt. Die Bäcker sind mit maximaler Besetzung auf der Brücke, gewappnet für den ersten Tag. Sieht schon so leer aus bei Le Crobag, gab es da etwa einen Ansturm der Kunden? Nö, muss ja alles frisch sein ... In den Öfen bräunen die blassen Teiglinge ihrer idealen Farbe entgegen. Und das Aufsichtspersonal? Hat es Farbe bekommen? Tageslicht gesehen in diesen dreieinhalb Monaten?

Die Berliner bleiben auch im Stillstand die Handelnden

Rhythmusstörung. Im frisch sanierten Nord-Süd-Tunnel fahren die Linien ab Dienstag streikbedingt nur alle 20 Minuten.
Rhythmusstörung. Im frisch sanierten Nord-Süd-Tunnel fahren die Linien ab Dienstag streikbedingt nur alle 20 Minuten.

© Thilo Rückeis

„Mehr, als mir lieb ist“, sagt eine Frau, die während der Bauzeit am Alexanderplatz Dienst tat. Das brauche sie nicht noch länger. Zu rau der Umgang. Vor allem nachts. Ihr Nordbahnhof ist, wie auch sonst, der kälteste der Tunnelbahnhöfe. 44 Jahre Erfahrung bei der Bahn stehen im vollen Ornat, das heißt mit gebundenem rotem Tuch unter dem Wollpullunder, aufrecht an der gelben Abfertigungssäule. Die Luft, sagt die Erfahrung, ist abgestanden, denn nur die Baulüfter haben hier zuletzt etwas bewegt. Erst ab heute bringen die einfahrenden Züge auch wieder Wärme mit. Und, der Ansturm der Fahrgäste? Schulterzucken, „ausgeblieben“. Als könnten die Berliner es noch nicht recht glauben – und überhaupt, wenn Dienstag schon wieder alles anders ist, dann wäre auch sie, die ja ohnehin aus dem Schneider ist, weil sie mit der Tram quasi von Tür zu Tür fahren kann, bei ihrer alternativen Route geblieben.

Am Anhalter Bahnhof öffnet die S1 nun wieder ihre Türen. Und schließt sie nicht. „Steht ganz schön lang“, sagt jemand lakonisch von hinten. – „Meint ihr, es geht jetzt schon los mit dem Streik?“ Die Berliner bleiben auch im Stillstand die Handelnden und nicht die Behandelten. Als kreative Stillstandsexperten sind sie ja in der Welt bekannt, wie die Wiener für ihre Sachertorte. Und das ist ein erfolgreiches Überlebenskonzept. Denn wer wartet, wird wütend. Weil Warten ein Kontrollverlust ist, der für das subjektive Empfinden verheerende Folgen hat. Psychologen haben sich längst der Frage angenommen, was Wartezeit mit uns macht. Was sich tun lässt, damit sinnlos verstreichende Zeit als weniger dramatisch empfunden wird.

Wer warten muss, ist abhängig von anderen

Das Grundproblem scheint immer gleich zu sein: Wer warten muss, ist abhängig von anderen, egal, ob in der Notaufnahme, im Supermarkt, am Bahngleis oder am Flughafen von Houston in Texas, wo vor einigen Jahren eine erstaunliche Entwicklung zu beobachten war: Die Passagiere beschwerten sich, weil sie zu lange auf ihr Gepäck warten mussten. Das Management stellte mehr Personal für die Abfertigung ein, die Wartezeit sank auf durchschnittlich acht Minuten, die Beschwerden blieben. Irgendwann fiel auf, dass der Weg vom Flugzeug zum Gepäckband etwa eine Minute dauerte, die Wartezeit am Gepäckband aber sieben Minuten betrug. Die Passagiere waren also schneller als ihre Koffer, das empörte sie. Statt also weiter die Wartezeit zu verkürzen, ließ man nun das Gepäck am weitest entfernten Gepäckband ausladen. Die Passagiere liefen jetzt etwa sechsmal so weit wie vorher. Die Beschwerden verschwanden. Aber wo ist die Wut in Berlin?

„Berlin hat ein größeres Angebot an öffentlichem Nahverkehr als viele andere Städte“, sagt Petra Reetz, Sprecherin der BVG. Das werde irgendwann als Normalität angesehen. Wenn dann der Ablauf gestört wird, sind viele schnell genervt. Und wohl nicht nur in Berlin. Der Biopsychologe Walschburger diagnostiziert eine gewisse Ungeduld allen Großstädtern – und es entspreche auch dem Zeitgeist. „Gerade in den Städten ist alles sehr eng getaktet. Wir haben uns daran gewöhnt“, sagt Walschburger. „Wenn dann mal etwas nicht funktioniert, gibt es keinen Plan B“, und das, sagt er „ist ein Frustrationsauslöser ersten Ranges“.

Der Psychologe empfiehlt: Eine gesunde Spur Fatalismus

Rhythmusstörung. Im frisch sanierten Nord-Süd-Tunnel fahren die Linien ab Dienstag streikbedingt nur alle 20 Minuten.
Rhythmusstörung. Im frisch sanierten Nord-Süd-Tunnel fahren die Linien ab Dienstag streikbedingt nur alle 20 Minuten.

© Thilo Rückeis

Der Berliner, bemerkt BVG-Sprecherin Reetz, meckere sowieso chronisch, aber auf Nachfrage relativiere sich der Ärger schnell. Rempeleien oder mehr Gewalt ließen sich jedenfalls nicht feststellen. Auch die Zahl der Kundenbeschwerden steige zu Streikzeiten nicht merklich an. „Unser Appell ist immer: Seid nett zueinander, dann kommen wir auch gut durch den Tag“, sagt Reetz. Diese Strategie habe sich in der Vergangenheit bewährt.

Also keine Wut, nirgends? Doch hier, eine Ahnung. In Gestalt eines Mannes schiebt sie ein Rad auf den Aufsichtspavillon am Gleis der Friedrichstraße zu, das Fahrradlicht blinkt, wenn man so will, hysterisch. Satzfetzen wehen herüber: „Es muss doch möglich sein ...“, „Es muss doch ein Modell geben ....“, „Wir füttern die doch durch, wenn wir bezahlen ...“

Stoisch – Charakter oder gut geschult – ruht das Gesicht des Bahnverkörperers. Er hat hier zwar die Aufsicht, aber deshalb noch lange keine Lösung. Und wenn der Streik beginnt, sind es eben die Mitarbeiter, die die größte Wut auslösen – psychologisch gesehen. „Immer wenn man einen Menschen als Ursache eines Problems identifizieren kann, macht einem das mehr zu schaffen, als wenn die Verspätung beispielsweise an einem Unwetter liegt“, erklärt Walschburger. Nur so ist vielleicht auch der Zorn zu erklären, der sich nicht mehr nur am Stammtisch und im Internet über GDL-Chef Claus Weselsky entlädt. Sein Gesicht steht in den Augen vieler wie kein anderes für Warten, Frust und Probleme. Es ist einfacher, die Wut auf eine Person zu lenken als auf den komplizierten Tarifkonflikt, dessen Einzelheiten die wenigsten Pendler kennen – und auch nicht kennen müssen.

Viele müssen allerdings Bahn fahren. Der Psychologe empfiehlt eine gesunde Spur Fatalismus. „Man täte gut daran, einzusehen, dass man am Streik nichts ändern kann“, sagt Walschburger. Wie an einem Gewitter, das vorüberzieht. Einsehen muss das wohl auch der Mann, der wie vorsichtshalber sein eigenes Rad mit in die S-Bahn gebracht hat, als bestünde jederzeit die Gefahr, dass er oberirdisch selber weiterfahren muss. Dann schließen sich die Türen: Fahrkartenkontrolle.

Mitarbeit: Sidney Gennies und André Görke

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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