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Max und Tamer führen den Laden in der Grunewaldstraße. Es läuft einfach, sagen sie. Ihr Geschäft brauche nicht einmal einen Namen.

© Mike Wolff

Berliner Spätis: Eine Nacht im Zwischenreich der Zivilisation

Hier gibt es Hochprozentiges niedrigschwellig. Und 24 Stunden am Tag jemanden zum Reden. Spätis sind Kult. Aber gleich Kulturgut? Eine Reportage.

Berliner sind Grillen, die im Sommer draußen singen und im Winter keine Vorräte haben. Manchmal ist auch schon am Sonntag nichts mehr da. Dann ist es gut, wenn es den Späti gibt. Knapp 1000 in Berlin.

Zwischen Sardinen-Bar und Copy-Shop klemmt der legendäre Späti Grunewaldstraße. Während draußen am frühen Abend noch der Teer dampft, brauchen sie drinnen zwei Leute, um die gekühlten Getränke an weinschorlenhafte Cordhosenträger, Schöneberger Ureinwohner, Touristen und grazile Rennradfahrerinnen herauszureichen. Sie alle eint der Durst. Die Kühlaggregate summen, der Verkehr summt und auch das 24 Stunden kaum je abreißende Gespräch der Stammkunden.

Als Mitte Juni mal wieder über die Öffnungszeiten von Spätis diskutiert wurde, warf der Neuköllner Grünen-Abgeordnete Georg Kössler einen neuen Begriff in die Runde: „Kulturgut“. Das war ein ganz neuer Ton. Kössler erklärte die Spätis für „unabdingbar“ für die Bewohner der Stadt. Dann sagte er: „Sie sind gleichzeitig ein Berliner Kulturgut wie die Eckkneipe, das es zu erhalten gilt.“ Der Berliner Notnagel für Menschen, die es versäumt haben, rechtzeitig einzukaufen – ein Kulturgut? Kultig ja, aber gleich schützenswert? Was ist da gemeint?

Eine Welt der Vornamen

Ob man den Film „Smoke“ kenne, fragt Max, 28, im Späti in der Grunewaldstraße, Schöneberg. „Smoke“, klar, wo ein kleiner Tabakladen in Brooklyn der Knotenpunkt für ganz verschiedene Großstadtgeschichten ist. So, sagt Max, müsse man sich vorstellen, wie es bei ihnen zugehe. Einen Film wie „Smoke“ könne man bei ihnen nämlich sofort drehen. Mit der Schöneberger Besetzung, ihren originalen Stammkunden, Querschnitt durch eine sagenhafte Vielfalt.

„Smoke“ ist nach 112 Minuten zu Ende. Der spezielle Berlin-Späti-Film in der Grunewaldstraße läuft ununterbrochen. Man muss sich für seinen persönlichen Ausschnitt nur auf die umgedrehten Bierkästen vor den Laden setzen, mitten unter die Protagonisten, ja sogleich selbst einer werdend, in die Abwärme der Kühlschränke, die von unten aus dem Gitterrost pustet. Dann geht das Licht aus, wie jeden Abend.

„Wir brauchen nicht mal einen Namen“, sagt Max, der zusammen mit Tamer Schönebergs bekanntesten Späti führt, 24 Stunden geöffnet. Klar, viele kennen sich hier, aber nur so weit, wie die Leute es wollen. Sein Späti bleibt deshalb eine Welt der Vornamen, und die Nachnamen seiner Nachbarn erfährt auch Max oft erst, wenn er mal ein Paket für sie annimmt.

Die räumliche Winzigkeit seines Ladens steht in keinem Verhältnis zu seiner Bedeutung für den Kiez. Alle kennen ihn, ein Pulk Leute steht abends davor, obwohl es weder Kunst zu sehen noch Weißwein umsonst gibt.

Vieles, wofür der Späti steht, ist eigentlich unverkäuflich, sagt Max. Da kann man kein Preisschild dranhängen. „Ich gehe mal Zigaretten holen“ konnte ja schon immer alles bedeuten. In den Späti kommt jeder, dem zum Glück noch eine Kleinigkeit fehlt. Etwas Kleines, aber Dringendes. Etwas, das nicht warten kann, bis am nächsten Tag die Geschäfte wieder öffnen. Das Angebot: Flüssiges, Gefrorenes, zu Rauchendes, Hochprozentiges niedrigschwellig – wenn man einmal von den drei Stufen absieht, die meist hineinführen.

Sind Späti-Besitzer nicht immer türkisch?

Sie schmeißen ihren Laden mit einer internationalen Truppe. Es wechseln sich ab: Nick, der Australier, Naru, der Japaner, Angelo, der Italiener, Daniel, der Russe, und Gino, der Palästinenser. Dann natürlich die beiden Teilhaber Max, der in Charlottenburg aufgewachsen ist, und Tamer mit türkischen Wurzeln. So etwas könne man gar nicht planen, das habe sich so ergeben, sagt Max. Wie sich in einem Späti eben alles so ergibt.

Als Max vor sechs Jahren zwei Häuser weiter einzog, fing er an, diesen Späti zu besuchen. Über die Jahre redete er viel mit Tamer, dem Besitzer, dann half er gelegentlich aus. Man kann auch sagen, es war das längste Bewerbungsgespräch der Welt, an dessen Ende Max bei Tamer mit einstieg. Viele neue Kunden sprechen ihn gleich auf Türkisch an. Ja sind denn Späti-Besitzer nicht immer türkisch? „Ich denke dann: Finde den Fehler im Bild!“

Ständig schwirren Kunden in den Laden und wieder hinaus. Viele bleiben eine Weile stehen. Jeder Abend ist ein großes Gespräch mit offenem Ausgang. Paula, mit ihren 20 Jahren im achten Monat schwanger mit ihrem „ungeplanten Wunschkind“, kauft eine Literflasche Fassbrause für 1,70 Euro. Dann bleibt sie zwei Stunden auf einer Bierkiste vor dem Laden sitzen, in deren Verlauf zwei Leute erfahren, dass sie auch den werdenden Vater kennen, ohne gewusst zu haben, dass die beiden zusammen sind.

Angelo ist da, der hier die Frühschicht macht, aber gerade arbeitet er nicht. Er erzählt, wie er am Abend des Mauerfalls mit dem Koch damals sein Restaurant zumachte und dann über die Mauer in den Osten kletterte. Wie er in die DDR hereinkam, aber nicht mehr heraus, weil er keinen Ausweis dabei hatte.

Eine Bäckereiverkäuferin kommt nach Ladenschluss mit den Resten vorbei. Zu schade zum Wegschmeißen. Will jemand? Ja, eine Flugbegleiterin will.

Es ist wichtig, dass der Laden hässlich ist

Der Tag geht, das Laster kommt. Im Späti warten die letzten Abenteuer der Zivilisation: zuckerhaltige Getränke, Alkohol, Chips, Tabakwaren. Lunge teeren. Gehirn federn. Im Späti steht der Mensch in seiner Unperfektheit und mit seinen niedlichen Bedürfnissen: Center-Shock-Kaugummis. Panini-Bilder. Die „Landlust“.

Man müsse, sagt Max, mitgehen mit der Nachfrage. Als sie sechsmal am Tag nach Kaffee gefragt wurden, haben sie sich eine Maschine hingestellt. Jetzt verkaufen sie 30 Kaffee am Tag. Sie setzen auch dreimal so viel Bio-Limonaden wie Cola-Produkte um. Nur Briefmarken sind hoffnungslos, 1,4 Cent bleiben von einer 70-Cent-Marke hängen. Das ist weniger, als es kostet, den Mitarbeiter für die Zeit des Verkaufs zu bezahlen.

Ein Späti ist das Gegenteil von Inszenierung. Hier wird nichts hübsch gemacht. Auch der Späti selbst nicht: Schmucklos stehen die Waren angehäuft. Es ist sogar wichtig, dass der Laden ein bisschen hässlich ist. Das ist Teil seiner Funktion. So können Schwellenängste gar nicht erst entstehen. Hinter dem Verkäufer fächern sich die Gruselbilder der Zigarettenpackungen auf, und auch das ist ein Indiz fürs Ganze: An diesem Ort wird nichts beschönigt.

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Spätis sind nicht instagram-tauglich. Ein Späti überfordert niemanden. Die Waren sind der kleinste gemeinsame Nenner. Das ist ungeheuer erholsam für Menschen, die sonst immer im Mittelpunkt ihres kuratierten Lebens stehen sollen. „Weißt du, warum ich komme?“, fragte mal ein solventer Geschäftsmann, Stammkunde, Max. „Weil mich hier keiner fragt, was ich mache.“ Max wackelt in seinen Adiletten mit den Zehen.

Die Kunden kaufen ein Getränk und hängen noch ein bisschen ab. Die Kunden, sagt Max, reden dann oft einen ganzen Abend miteinander und wissen nachher gar nicht, mit wem sie gesprochen haben. Genau das ist der Reiz. Ein Späti hat keine besondere Zielgruppe, es sind ja potenziell alle gemeint. Sie haben hier generell etwas gegen die Aufspaltung der Gesellschaft in „Zielgruppen“.

"Eine Schweigepflicht wie beim Arzt"

Vielleicht macht gerade das Absichtslose alles möglich. Absichtslos kommt das Gespräch ins Fließen. Und plötzlich fügt sich alles: eine inoffizielle Jobvermittlung sind sie hier, eine Anlaufstelle für Anliegen aller Art. Sie bewahren Haustürschlüssel auf, wenn die Nachbarn Gäste erwarten. Sie mussten schon beim Ausfüllen von Hartz-IV-Anträgen helfen und bei Briefen an die Polizei. Der Schöneberger Späti ist der Kitt im Kiez.

„Jeder hat’n Hund, aber keinen zum Reden“, zitiert die Flugbegleiterin Peter Fox. So ist Berlin. Und deshalb seien die Spätis so wichtig. Max garantiert bei Bedarf „eine Schweigepflicht wie beim Arzt.“

Man hat den Eindruck, dass dieser Beifang eines Getränkekaufs, die Erzählungen, das Eigentliche an diesem Ort sind. Das unsichtbare Kulturgut.

Die Italiener haben ihre großartigen Bars, in denen sie sich morgens beim günstigen Espresso lautstark versichern, dass sie noch am Leben sind. Die Süddeutschen haben ihre Wirtshäuser, die Engländer den Pub, die Franzosen treffen sich in den Cafés um ihre Märkte. Es sind Orte für alle, an denen die sozialen Unterschiede verblassen. Und die Berliner? Haben den Späti.

Feinkost und selbst gemachte Krawatten bis in die Nacht

Alles, was man braucht – und auch noch ein Sitzplatz: bei Max und Tamer in der Grunewaldstraße.
Alles, was man braucht – und auch noch ein Sitzplatz: bei Max und Tamer in der Grunewaldstraße.

© Mike Wolff

Als Max vor sechs Jahren zum ersten Mal diesen Laden betrat, den es seit den 70ern gibt, hatte der noch Telefonkabinen und einen kleinen Kühlschrank. Heute ist der Strom für die Kühlschränke die größte Betriebsausgabe, 400 Euro im Monat. Bis vor einem Jahr, da war Max schon Teilhaber, machten sie jede Nacht noch sechs Stunden den Laden zu, zwischen eins und sieben. Vier Mal haben sie ihnen in dieser Zeit die Zigaretten geklaut. „Es ging nicht anders, wir mussten offen bleiben“, schlussfolgerte Max. Seitdem sind sie 24 Stunden da, schon um ihre Zigaretten zu bewachen.

Zum Glück ist der Umsatz nachts oft dreimal so hoch wie tags. Die Einbrüche haben in der ganzen Gegend aufgehört. Autos parken in der zweiten Reihe, deren Fahrer tragen in den Sommernächten für 30 Euro Getränke raus. Jeder zweite ist Stammkunde.

Lieber das Geld hier lassen als bei einem Mineralölkonzern

Durch ihre Stammkunden und deren Bedürfnisse ist es nur logisch, dass jeder Berliner Späti zum Spiegel seines Viertels wird. Einige halten ein unglaubliches Angebot vor, von Klopapier über USB-Sticks bis zu Bacon. Erst mit der Phase der Familiengründung erlernt der Berliner ja die Grundzüge der Vorratshaltung.

In Kreuzberg am Maybachufer verkauft Dion&Gefolge seit einem Jahr edle Weine, Feinkost und selbst gemachte Krawatten bis in die Nacht – weil auch das Ästhetische in Teilen Berlins ein Grundbedürfnis geworden ist. In der Ohlauer Straße hält Mustafa im Telinstore eine Art Tante-Emma-Vollsortiment bereit, und der Markt hat sogar noch Aufnahmekapazitäten für eigene Merchandising-Feuerzeuge mit dem Bild seiner Dogge, die mit ihm den Laden hütet.

Ein Späti ist nicht nur die Summe seiner Produkte, er atmet den Geist seiner Besitzer. Das unterscheidet ihn von der Tankstelle. Spätis sind meistens Familienunternehmen. Die Kunden finden es schöner, hier zu kaufen, als ihr Geld bei einem Mineralölkonzern zu lassen. Schon deshalb, weil ein Mineralölkonzern einem nie dabei helfen würde, einen Hartz-IV-Antrag auszufüllen.

Und längst ist auch der Schöneberger Späti ein Treffpunkt für diejenigen, die befremdet sind von den Veränderungen in der Stadt. Paula ist fremd geworden, dass man seit einigen Jahren in Restaurants reservieren muss! Auch Museen soll man mit besonderen Karten in Zeitfenstern besuchen. Es ist zum Totlachen, das ist doch nicht Berlin. Spätis sind ein Ort der Spontaneität geblieben. Sie sind die Ausnahme, nicht die Regel. Regeln gibt es in Berlin mittlerweile genug.

Ein Ort verminderter sozialer Kontrolle

Auf der Grunewaldstraße in Schöneberg hat sich inzwischen ein magischer Umkehreffekt eingestellt. Als würde man ein Negativ der Tagesversion betrachten. Der tagsüber unscheinbare Laden, der zwischen dem Antik-Laden und der Sardinen-Bar klemmt, beginnt zu leuchten. Nach und nach gehen dann ringsum alle anderen Lichter aus. Der Copy-Shop schließt, die Bar, der Grieche gegenüber. Jetzt leuchtet nur noch der Späti, Kronleuchter und Kühlschränke, die ganze Nacht. Der Mensch gestikuliert ein Schattentheater vor der Scheibe.

Nach Mitternacht beginnt die andere Zeit an diesem Ort verminderter sozialer Kontrolle, wo man, ohne scheel angeschaut zu werden, eine Stange Zigaretten kaufen kann. Ein Zwischengeschoss der Zivilisation.

Hier in Schönedorf, sagt die Flugbegleiterin, kommen die Leute für den „real talk“. Nix digital. Sie verschwenden nicht einmal Zeit mit Smalltalk. Die Themen sind lustig, unterhaltsam, existenziell. Gesellschaft, persönliche Krisen, Stadtgespräch, keine Beobachtung ist zu klein. Und nichts ist banal.

Warum, muss man fragen, ist das jetzt ausgerechnet ein Berliner Kulturgut? Soziale Grundbedürfnisse außerhalb der Öffnungszeiten habe doch jeder, heißt es. Im Ruhrgebiet und Rheinland sei es halt das „Büdchen“, oder? Aber Büdchen sind oft freistehende Gebäude, der Kunde tritt an ein Fensterchen heran. Er steht draußen, wenn’s schlimm kommt, im Regen. Die Spätis dagegen sind zu betreten, sie bilden das Erdgeschoss der Wohnhäuser und damit das Fundament der Stadt.

Längst schon hat Naru die Spätschicht übernommen. Naru, der glaubt, an diesem Ort weniger Verkäufer als Psychologe zu sein. Naru, der mit der Bundeswehr in Mali und Afghanistan war und jetzt Wirtschaftsingenieurwesen studiert. Einen gut bezahlten Nebenjob beim Wirtschaftsprüfer hat er eingetauscht für die einmalige „Gelegenheit, hier die Welt in ihrer Gauß’schen Normalverteilung zu sehen.“

Die Last der Zivilisation runterspülen

In diesem 24 Stunden laufenden Film, in dem jeder schon mit ein paar Sätzen eine Rolle bestreiten kann, besteht die Herausforderung darin, den Absprung nicht zu verpassen.

Dimitri, ganz heitere Melancholie, lässt seine Bierflasche zwischen den Beinen pendeln. Tja, warum gehen wir zum Späti? „Wir spülen die Last der Zivilisation hinunter. Das muss manchmal sein.“

Die Flugbegleiterin ist schon vor einer Weile auf ihr Fahrrad gestiegen. Um kurz nach eins nimmt die hochschwangere Paula ihre unberührte Flasche Fassbrause, für die sie 50 Cent mehr bezahlt hat als im Supermarkt, und geht nach Hause. Aber Angelo hat jetzt seine Reiseflughöhe erreicht. Er geht noch tanzen.

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