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Wilhelm und Grace Quitzow in ihrem Berliner Wohnzimmer.

© Georg Moritz

Berliner Traditionsfamilien: Die Quitzows verfolgen die Spur ihrer Ahnen

Ob sie von Raubrittern abstammen, die hier ihr Unwesen trieben? Jahrelang haben die Quitzows die Spuren ihrer Ahnen verfolgt. Gewiss ist: Sie zählen zu den Ur-Einheimischen der Stadt. Teil eins unserer Sommerserie über Berliner Traditionsfamilien.

Die Gespräche mit Fremden, denen sie begegnen, laufen häufig so ab: Quitzow heißen sie? Nach dem hiesigen Rittergeschlecht? Den Verwüstern der Mark, Herren von Köpenick, den Erpressern Lichtenbergs und Plünderern Berlins? Gibt doch hier in der Stadt auch eine Quitzowstraße. Das sind Sie, Ur-Einheimische quasi?

Wilhelm und Grace Quitzow haben es bei der Beantwortung der Frage stets so gehalten: Manchmal Ja sagen und auf eine Plauderei einlassen, manchmal Nein sagen, manchmal vielleicht. Wofür sie sich auch entschieden haben, es lag immer daran, ob sie Lust zum Erzählen hatten oder nicht, wie sympathisch ihnen die Fragesteller waren oder wie knapp die Zeit.

Ihre offizielle Sprachregelung lautet: „Wir fühlen uns immer, als wären wir mit denen verwandt.“

Ihr Nachname hat Wilhelm und Grace Quitzow etliche Ausflüge ins brandenburgische Umland beschert, einige davon waren schön, andere langweilig. Sie haben Bücher gelesen, die sie ansonsten nicht zur Kenntnis genommen hätten. Es hat ihnen das Unverständnis eines ihrer Altvorderen eingebracht und eine Stickerei im Treppenhaus.

Tradition und Kontinuität

Die beiden sitzen am Esstisch ihrer Wohnung in Lichterfelde. An der Wand hängt ein Porträtgemälde, das seine Urgroßmutter zeigt, gegenüber steht ein Büfett der Großmutter und in einer Zimmerecke auf dem Boden eine Zierkanne, die der Urgroßvater einst von seinen Weltreisen mitgebracht hat. Vieles in dieser Wohnung ist älter als ihre beiden Bewohner, es zeugt von Tradition und Kontinuität einer alteingesessenen Familie. Und damit von einer Seltenheit in einer Stadt, die den dauernden Wandel zum Idealbild erhoben hat.

Seit dem Mauerfall liegt die Zahl der jährlichen Zuzüge nach Berlin verlässlich bei mehr als 100 000, teilweise weit darüber wie beispielsweise im Jahr 2012, als 165 000 Menschen von auswärts in die Stadt kamen. Die Zahl der jährlichen Fortzüge aus Berlin bewegt sich seit den frühen 1990er Jahren ebenfalls jenseits der 100 000er-Marke. Wer Neuankömmlinge und Abschiednehmende schlicht und stumpf zusammenaddiert, kommt zu dem Ergebnis, dass sich Berlins Bevölkerung in den vergangenen 25 Jahren zahlenmäßig ungefähr einmal komplett ausgetauscht haben muss.

Immerhin: Ein Viertel der derzeitigen Berlin-Bewohner soll tatsächlich hier geboren sein.

Der Raubritter Dietrich von Quitzow (auf Knien, rechts) musste sich 1414 Friedrich I. von Hohenzollern unterwerfen.
Der Raubritter Dietrich von Quitzow (auf Knien, rechts) musste sich 1414 Friedrich I. von Hohenzollern unterwerfen.

© pa/akg-images

Wer wissen will, wie viele davon wiederum in Berlin geborene Vorfahren haben, was es mit diesen Ureinwohnern auf sich hat, ob das generationenlange Einheimischsein in Berlin möglicherweise mehr bedeutet als nur die entsprechenden Einträge in den Geburtsurkunden, der landet rasch im Ungefähren. Kriege haben hier stattgefunden, Staaten und Verwaltungen haben einander abgewechselt, entsprechende Zahlen sind entweder nie erhoben worden oder die dazugehörigen Akten verschwunden.

Sie zogen weg und zogen wieder her

Man kann sich dann an die halten, die selber solche Listen führen, Familienbücher, Stammbäume. Man kann sich an alte Ritter- und Adelsgeschlechter wenden. An das Berliner Büro des Hauses Anhalt-Askanien zum Beispiel, dessen Vorfahr Albrecht der Bär im Jahr 1157 die Mark Brandenburg gegründet hat. An die Hohenzollern und damit die Familie von Preußen, die ebenfalls hier ansässig ist. An Dutzende andere Träger einstiger Herrennamen, und man erntet dann meistens höfliches Unverständnis, bis man irgendwann ausgerechnet an den Esstisch der Familie Quitzow gebeten wird – nur um dann zu lernen, dass selbst die beständigsten Berliner Familien keineswegs durchgehend hier anwesend waren.

Sie zogen weg und zogen wieder her. Manchmal kam jemand von weit her und heiratete in sie ein. Oft waren es die Kriege, die solcher Art Spuren in den Stammbäumen hinterließen und diesen Dreieinhalb-Millionen-Ort zu dem gemacht haben, was er heute ist. Und wäre Berlin nicht so, wie es ist, es gäbe auch das Ehepaar Wilhelm und Grace Quitzow nicht.

Die Quitzows haben Geschichte geschrieben, auch die der Stadt Berlin

Tod und Schrecken stehen schon am Anfang ihrer Geschichte. Ihre berühmtesten Vorfahren waren Raubritter und waren in den ersten zehn Jahren des 15. Jahrhunderts die kaum eingeschränkten Herrscher der ganzen Gegend. Mörder waren sie, Wegelagerer, Diebe, Schutzgeld-Erpresser. Wahrscheinlich von Abstiegssorgen gebeutelte Landadels-Leute, denen mit dem langsam aufkommenden Kapitalismus und der vor allem in den Städten grassierenden Beulenpest allmählich ihre jahrhundertelang sicheren Einkommensquellen abhanden kamen: die feudalistische Ordnung und die Kundschaft. Also wurden sie Verbrecher. In den Kirchen sangen die Menschen damals: Vor Köckeritz und Itzenplitz, vor Krachten, Quitzow, Lüderitz, bewahr’ uns, lieber Herre Gott!

Die Quitzows haben Geschichte geschrieben, auch die der Stadt Berlin. Sie stahlen den arglosen und auch etwas selbstgewissen Bürgern das Vieh von den Weiden am Nordufer der Spree. Sie waren deshalb ursächlich verantwortlich für die Installation der Hohenzollern in der Mark. Der damalige König rief sie an, endlich für Ordnung und Frieden zu sorgen.

Sie haben sich vorbereitet

Und jetzt also, frühes 21. Jahrhundert. Wilhelm und Grace Quitzow, er ist Jahrgang 1940, sie 1943, beide sind pensionierte Akademiker. Sie haben sich vorbereitet. Auf dem Tisch liegen Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, in denen die Raubritter vorkommen. Karl Mays Roman „Der beiden Quitzows letzte Fahrten“. Kulturgeschichtliche Abhandlungen über Kirchenfenster, Gemälde, Stiche, Denkmäler, die Mitglieder der Quitzow-Familie zeigen. Ausstellungskataloge. Jugendbücher. Die bis heute gültige Quitzow-Bibel aus dem 19. Jahrhundert – ein Buch namens „Die Quitzows und ihre Zeit“. Ein Theaterstück, „Die Quitzows – Schauspiel in vier Akten“, „zum ersten Male aufgeführt am Kgl. Opernhause zu Berlin am 9. November 1888. Zum hundertsten Male aufgeführt am Kgl. Schauspielhause zu Berlin am 2. Dezember 1890“, steht unter dem Personenregister.

Ein Tisch voller Belege dafür, dass Wilhelm und Grace Quitzow daran gelegen ist, herauszufinden, wo die Familienwurzeln liegen und wie sie selber wurden, was sie sind. Wilhelm Quitzow sagt: „Klar, wir haben alte Bücher gekauft, immer, wenn sie uns irgendwo unterkamen. Und wenn sie dünn genug waren, hab’ ich sie auch gelesen.“ Seine Frau habe sich stattdessen die dicken vorgenommen, irgendwann einmal auch das Familienwappen gestickt und draußen im Hausflur aufgehängt, sie hatte Zeit zum Nachdenken, und die wichtigste Erkenntnis daraus sei folgende: „Erschreckend, dass sich das nie geändert hat“, sagt sie. An was müsse man denn heute denken bei den Stichworten Geiselnahme, Krieg, Söldnertum, Anarchie? Genau, an die Ost-Ukraine.

Spuren verwischen, sie verdünnen sich

Erste Schlussfolgerung: Es gibt also tatsächlich Traditionen, die sich fortschreiben. Nur haben sie nicht unbedingt etwas mit der Stadt oder der Gegend zu tun, in der sich diese Geschichte abgespielt hat. Sie sind universell. Der Mensch an sich lernt nicht dazu.

Die zweite Schlussfolgerung: Spuren verwischen, sie verdünnen sich, weil die Vorfahren einer Familie ja immer aus zwei Familien bestehen. Grace Quitzow zum Beispiel ist in den Vereinigten Staaten geboren, ein Großonkel von ihr war Bürgermeister der damals prosperierenden Stadt Detroit. Sie kam Anfang der 60er Jahre mit einem Stipendium der US-amerikanischen Ford-Foundation an die Freie Universität, die selbst wiederum mit Hilfe der amerikanischen Besatzungsmacht gegründet worden war.

Das Weltkriegskind Wilhelm traf dort die amerikanische Studentin Grace, was nur möglich war, weil jener Krieg eben so ausging, wie er nun einmal ausgegangen ist. Die Alliierten hatten ihn gewonnen, und die Alliierten haben sich weiter um die Stadt gekümmert. In West-Berlin waren das zum guten Teil die Amerikaner. Die Luftbrücke, Kennedy, das Amerika-Haus, der Henry-Ford-Bau, Checkpoint Charlie, Reagans an Gorbatschow gerichteter Mauer-Appell.

Sie haben oft ihre Stammhalter zu Gast, die Enkelkinder

„Stimmt“, sagt Grace Quitzow, „aber ein bisschen eigenes Zutun braucht es dafür auch noch.“ In ihrem Fall war das unter anderem eine Schallplatte der Johann-Strauss-Operette „Die Fledermaus“, die es in ihrem Elternhaus gegeben hatte und die sie sich dutzende Male als Kind anhörte. Sie interessierte sich fortan für diese merkwürdige Sprache und für das Land, in dem sie gesprochen wurde. Irgendwann dann auch für Wilhelm Quitzow. Im Jahr 1967 heiraten sie.

„Im Grunde“, sagt Wilhelm Quitzow, „wenn ich etwas vermitteln will an meine Kinder, dann ist es genau diese Zeit. Ich kann mich an den Krieg erinnern und an die Nachkriegszeit und an die Aufbaujahre, und davon erzähle ich dann ab und zu.“

Er wird bald wieder Gelegenheit dafür haben. Hinter ihm steht ein Kinderbettchen, die Quitzows haben oft ihre Stammhalter zu Gast, die Enkelkinder. Auch die leben in Berlin.

Das Jahr 1656. Dort reißt die Beweiskette ab

Er wird ihnen dann beispielsweise davon berichten, dass er etliche Jahre dieser Nachkriegszeit in Westdeutschland verbrachte. Der Vater arbeitete zuvor in der Ost-Berliner Invalidenstraße – er brachte also Ost-Geld mit nach Hause, mit dem man allerdings auch im Jahr 1950 schon wenig im West-Berliner Friedenau anfangen konnte, dort, wo die Familie lebte. Eine neue Stelle in West-Berlin fand sich nicht, also zogen alle gemeinsam um nach Krefeld. Erst zehn Jahre später kehrte Wilhelm Quitzow zum Studieren wieder nach Berlin zurück.

Dritte Erkenntnis: Der vernunftbegabte Mensch kann nur bezeugen, beherzigen und weitergeben, was ihm selber widerfahren ist. Alles andere bleibt blass, er weiß es nur aus Erzählungen und Büchern und ist – so wie im Fall der beiden Quitzows – entsprechend vorsichtig damit, ihm Bedeutung beizumessen.

Sie wissen ja nicht einmal mit Sicherheit, ob es eine Verwandtschaft zu den Raubrittern gibt. Wilhelm Quitzows Vater hat nach dem Mauerfall angefangen, den Familien-Stammbaum zu recherchieren. Er ist in märkische Dörfer gefahren, hat Pfarrer genervt, ihm doch bitteschön Kirchenbücher, Geburts-, Tauf- und Sterberegister zu zeigen. Er ist weit damit gekommen. Der letzte von ihm nachgewiesene Vorfahr war ein Joachim Quitzow aus Lückstedt in der Altmark, gestorben im Jahr 1656. Dort reißt die Beweiskette ab.

Sie haben alles gesehen und meist wenig entdeckt

Wilhelm Quitzow mochte diese Arbeit nicht fortführen, er sei seinem „Vater unangenehm aufgefallen deswegen“, sagt er. Irgendwann in den letzten Jahren hörten dann auch die Fahrten zu den Kirchenfenstern und Grabmälern auf, sagt er. Sie hätten alles gesehen, und „meistens weniger entdeckt, als wir erhofften“.

Es ist aber auch mühselig. Wer als Berliner Ritter- oder Adelsfamilienabkömmling etwas über seine Herkunft herausbekommen will, der muss in der Regel viel reisen. Denn originär Hiesige gibt es – so sagt es beispielsweise Heidi Freifrau von Kettler, Chefin der „Vereinigung des historischen Adels in Berlin und Brandenburg“ – so gut wie gar nicht. Die Mark Brandenburg dagegen sei schon deutlich besser bestellt. Man kann mit Frau Kettler Namenslisten durchgehen, man stößt auf die Hardenbergs oder die Bülows und auf etliche andere Herrscherhäuser, die in Berlin Spuren hinterließen und deren Nachkommenschaft mittlerweile hier ansässig ist. Es sind aber durchgängig irgendwann Zugezogene, oft Preußen-Adel-Abkömmlinge, deren Vorfahren einst wichtige Positionen im Staat einnahmen oder jeweils ein paar Jahre lang im Preußischen Herrenhaus – einer Art Bundesrat – ihren Parlamentspflichten nachkamen.

Das Urberlinertum ist ihm in die Wiege gelegt

Wilhelm Quitzow hingegen ist ein großer Traditionsbrecher. Sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater waren allesamt Geologen in Berlin. Er selber studierte dann Physik, das Graben in der Geschichte lag ihm nicht, nur um bei seiner Promotionsforschung festzustellen, dass das einsame Herumstehen im Labor, das Schießen von Elektronen auf Metalloberflächen, ihn auch nicht glücklich macht. Er ging dann in die Verwaltung, war sechs Jahre lang im Planungsstab der FU. Es war die Nach-68er-Zeit, er lernte nazi-verstrickte Nobelpreisträger kennen und die Studentenführer Hartmut Häußermann und Eberhard Diepgen. Der eine wurde später ein bekannter Soziologe, der andere Regierender Bürgermeister von Berlin.

Später wechselte Quitzow zur Technischen Universität und arbeitete dort als Dozent, beschäftigte sich mit Wissenschaftsgeschichte, und mit ein klein wenig Fantasie kann man aus den Büchern, die er dann geschrieben hat, vielleicht doch noch so eine Art Nachwirkung seines vermeintlichen Vermächtnisses, seiner Raubritter-Nähe herauslesen. Sie heißen: „Intelligenz – Erbe oder Umwelt?“ und „Naturwissenschaftler zwischen Krieg und Frieden“.

„Etwas weit hergeholt“, sagt Wilhelm Quitzow, der gebürtige Berliner, abstammend von seit Generationen in der Stadt und ihrer Umgebung ansässigen Familien, der keine Veranlassung mehr sieht, den verbliebenen 250 unklaren Jahren vom letzten nachgewiesenen Ahnen bis zu den Raubritterbrüdern nachzuspüren. Auch wenn ihn das, bei erfolgreichem Ausgang, zu so einer Art Rekordhalter machen würde. 600 Jahre Berliner Familiengeschichte, gewissermaßen. Und das in einer Stadt, in der – wenn nicht alles täuscht – bei Unterhaltungen zwischen vielen Neuhinzugezogenen jedes einzelne Jahr der Anwesenheit einer Trophäe zu gleichen scheint.

„Ach was“, sagt Wilhelm Quitzow mit der Gelassenheit desjenigen, den sein Urberlinertum kein bisschen aus der Ruhe bringt, gerade weil es ihm nur in die Wiege gelegt worden ist. Und erst jetzt fällt auf: Er berlinert nicht einmal.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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