zum Hauptinhalt
Sein Herz schlägt links. Andrej Holm freut sich über die Bezeichnung „Hausbesetzer-Professor“.

© imago/Müller-Stauffenberg

Berlins neuer Staatssekretär und die Stasi: Was hat Andrej Holm getan - und was hat er dazu gesagt?

Gibt es ein Recht auf Irrtum? Zum Start holt die Vergangenheit den rot-rot-grünen Senat in Berlin ein. Der Stasi-Fall Andrej Holm spaltet die Stadt - auch, weil viele Fragen noch ungeklärt sind.

Sie stehen auf dem Dach der Stasi-Zentrale, die Winde der unsicheren Zeit verwehen ihnen Haare und Gewissheiten. Vater und Sohn, angestellt beim DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS), schauen sich an. „Bei dir, da könnte man wirklich manchmal meinen, du bist nicht mein Vater, sondern mein...“, der Sohn, erwachsen, aber nicht entwachsen, stockt, streckt seine Hand aus nach Nähe; doch der ranghöhere Papa, selbst im Zweifel in stürmischen Wendetagen, weicht zurück. „Wenn dich das, was du tust, glücklich macht – schön. Aber erwarte nicht, dass es mich auch glücklich macht.“

Wie glücklich waren Stasi-Familien? Wie unglücklich wirken ihre Biografien 27 Jahre danach, ein Gesellschaftssystem später? Die Szene aus der Fernseh-Familiensaga „Weissensee“ passt fast zu gut zum Fall, den Berlin gerade heftig diskutiert: Darf Andrej Holm, Sohn eines ranghohen Stasi-Vaters, klassenbewusster SED-Jugendlicher in Berlin-Weißensee und treuer Offiziersschüler des MfS bis zum Untergang, heute Staatssekretär für Wohnen werden? Da passt es fast zu gut, dass der parteilose Holm von der Partei Die Linke nominiert worden ist – den Nach-Nach-Nachfolgern der Staatspartei SED, der die Stasi als Geheimdienstpolizei diente. Plötzlich hat Rot-Rot-Grün eine Geschichtsstunde nachzuholen, um sich selbst und der Stadt die Frage zu beantworten: Ab wann vergeht Vergangenheit?

Die Schrift von Andrej Holm kippt nach unten weg

„Ich, Andrej Holm, geboren am 8. Oktober 1970 in Leipzig, verpflichte mich, (...) im Ministerium für Staatssicherheit Dienst im militärischen Beruf zu leisten.“

„Bei der Abgabe dieser Verpflichtung bin ich mir bewußt, (...) daß das Ministerium für Staatssicherheit als ein bewaffnetes Organ der Arbeiter- und Bauern-Macht zum Schutze (...) der sozialistischen Gesellschaft und zum Kampf gegen alle Anschläge der Feinde des Friedens und des Sozialismus geschaffen wurde.“

„Ich verpflichte mich, (...) alle Veränderungen persönlicher Art, die mich oder meine nächsten Angehörigen betreffen, schriftlich über meinen Vorgesetzten (...) unverzüglich zu melden.“

Die Schrift von Andrej Holm kippt nach unten weg auf jenen vier Din-A4-Seiten, mit denen seine Stasi-Laufbahn beginnt. Handschriftlich und – wie er später sagt – aus Überzeugung macht der 18-Jährige mit. Heute lässt sich, dokumentiert und zur Verfügung gestellt von der Stasi-Akten-Behörde, nachlesen, was Holm am 1. September 1989 geschrieben und zweimal unterschrieben hat. Er war noch jung, aus einem Haushalt der Hundertfünfzigprozentigen, wie man die Überzeugten damals in Ost-Berlin abfällig genannt hat.

Nun läuft die Prüfung des Einzelfalls Holm unter den Augen der Öffentlichkeit. Wie alle Beschäftigten Berlins muss er einen Fragebogen über sein Wirken vor 1990 ausfüllen. Die Personalabteilungen der Verwaltungen prüfen die Bögen – nach welchen Kriterien, konnte am Montag niemand sagen. Kompliziert wird es sowieso, weil für Senatoren, Staatssekretäre, leitende Beamte und einfache Angestellte verschiedene Regeln gelten. Zuständig für alle Beamten ist der neue Innensenator Andreas Geisel, SPD.

Nach Angaben seiner Behörde muss diejenige Verwaltung, die einen Staatssekretär holt, dessen Angaben bewerten. Das Beamtenstatusgesetz lässt da Ermessensspielräume, letztlich muss die zuständige Senatorin entscheiden: Katrin Lompscher, Holms neue Vorgesetzte. Sie hat ihn ausgesucht, sie will an ihm festhalten.

Militärische Ausbildung bei der Stasi-Eliteeinheit „Feliks Dzierzynski“

Abwägung ist immer ein Wagnis. Holm immerhin hat seine Stasi-Mitarbeit selbst öffentlich gemacht; 2007 sagte er in einem „taz“-Interview: „Ich hatte ein unreflektiertes oder, wie man damals gesagt hätte, klassenbewusstes Verhältnis zur Staatssicherheit. Deshalb hatte ich mich dafür entschieden, dort selber eine längerfristige Laufbahn einzuschlagen. Im Nachhinein bin ich extrem froh darüber, dass mir die Wende diese Zeit erheblich verkürzt hat.“ Diese alten Sätze sprechen für ein neues Verzeihen. Und die noch nicht stabile Statik der ersten rot-rot-grünen Landesregierung, die endlich loslegen will mit sozialer Politik in der Hauptstadt der Wachstumsschmerzen; mit sozialer Wohnungsbaupolitik, die Modell sein soll für die letzte mögliche Variante im Bund mit einem Sozialdemokraten als ernsthaften Kanzlerkandidaten.

Die Solidaritätserklärungen der Linken zu ihrem Mann, der als Gentrifizierungskritiker den Wohnungsmarkt vom real existierenden Kapitalismus befreien soll, sind deshalb erwartbar. Die Kritik an Holms Biografie, dessen anstehende Ernennung der umtriebige Stasi-Gedenkstättenleiter Hubertus Knabe als „Tabubruch“ geißelt, ist es ebenso. Doch es gibt ebenso Dinge, die das Verzeihen schwer machen. Vor allem der Zeitpunkt vor langer Zeit.

6. Oktober 1989. In der DDR herrscht gespenstische Feierstille. Das kleine halbe Deutschland wird morgen 40 Jahre alt, und der greise Staats- und Parteichef Erich Honecker, einst Chefplaner beim Mauerbau und jetzt Unterdrücker jeder Reform, selbst wenn sie vom großen Sowjetbruder kommt, will feiern: Dabei sammelt sich in den Kirchen und auf Leipzigs Straßen massenhaft Widerstand, dabei rennen die Menschen in Scharen über bundesdeutsche Botschaften in Prag und Budapest davon, dabei reist der sowjetische Reformer Michail Gorbatschow als Hoffnungsträger in Ost-Berlin an und verkündet: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

Und die Stasi? Macht weiter. Observiert jedes private Geheimnis, knüppelt auf der Schönhauser Allee die Opposition nieder, plant den „Tag X“ mit der Festnahme zehntausender Regimegegner, versieht Dienst mit der Waffe oder an Schreibtischen, an denen die Zerstörung von Biografien geplant wird. Unter anderem in der Abteilung XX, in der Andrej Holms Vater Johann Karriere macht. Unter anderem in der Berliner Bezirksverwaltung in Alt- Friedrichsfelde, wo Holm am 6. Oktober 1989 die hauptamtliche Tätigkeit aufnimmt. Zuvor hatte er sich sechs Wochen bei der Stasi-Eliteeinheit „Feliks Dzierzynski“ militärisch ausbilden lassen.

Viele Jugendliche aus Ost-Berlin haben bei „Dzierzynski“ ihren dreijährigen Wehrdienst absolviert, weil sie den Grenztruppen entgehen wollten oder auf einen Studienplatz hofften. Bei Holm lag die Sache anders, auch wenn am Gelingen der Koalition Interessierte jetzt suggerieren, es habe sich nur um normalen Wach- oder Wehrdienst gehandelt. Er hat sich laut vorliegender Akten mit 14 Jahren verpflichtet, eine Offizierslaufbahn einzuschlagen und hat selbst Ende ’89, Anfang ’90 – als Bürgerrechtler die Stasi-Zentralen besetzten, um die Zerstörung von Akten zu verhindern – nicht den Ausweg aus dem ihm vorgezeichneten Lebensweg gefunden.

Eine Entschuldigung bei den Opfern ist nicht dokumentiert

Laut Holms Selbstaussage von 2007 hat er in der Bezirksverwaltung nur „Betriebsberichte gelesen“. Aufgabe seiner Abteilung, der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG), sei es gewesen, „eine Personendatenbank zu erstellen und Lageberichte zu verfassen“. Er habe daran aber nicht mitgewirkt. Die Aufgaben der AKGs als „Funktionalorgan“ für die Stasi sind gut erforscht: Auswertung und Information, Planung, Überprüfung und Kontrolle, Erarbeitung dienstlicher Weisungen.

Andrej Holm – nicht schlecht bezahlt mit 675 Ost-Mark – wird gewusst haben, dass hier auch Berichte über Oppositionelle verfasst oder zusammengefasst wurden. Hat er dies auch getan? Zu dieser Frage des Tagesspiegel äußert sich Holm am Montag nur schriftlich: „Nein, ich habe keine Berichte über Oppositionelle gelesen und auch keine Berichte dazu verfasst. Die Berichte, die ich gelesen habe, bezogen sich auf öffentliche Ereignisse wie Versammlungen oder Parteisitzungen.“ Und er lässt wissen: „Damals habe ich die Tätigkeit als Beschäftigungstherapie empfunden und kann mich erinnern, dass ich viel Zeit hatte Radio zu hören.“

Holms verfügbare Stasi-Akte sagt über seine genauen Tätigkeiten nichts aus. Er selbst zieht in Zweifel, dass er hauptamtlich tätig war, obwohl er es war, wenn auch nur ein paar Monate. Ist das schon Relativierung seiner selbst, Schutz auch seiner Familie? Ein Wort der Entschuldigung für die Opfer der DDR ist von Andrej Holm bisher nicht dokumentiert. Vielleicht, weil es ihn persönlich nicht betrifft. Aber macht es ihn zumindest nicht betroffen?

Der Einzelfall Holm, das sind viele Fälle auf einmal. Es geht um die Vergangenheit, der sich eine Stadt, die geteilt war, nicht entziehen kann – um Biografien, die voller Brüche und Widersprüche sind quer durch die Familien, die sich heute noch viel zu selten offen gegenseitig fragen, wer damals was wann wie warum getan hat. Denn erst an diesen Fragen entscheidet sich, ob Holm etwas für sich in Anspruch nehmen kann, was die Linke (die diese Debatte kommen sah) für ihn schon in Anspruch nimmt: ein Recht auf Irrtum.

Holm findet Halt im linken Berliner Milieu

Es geht auch um die Gegenwart, in der die neue Opposition aus CDU, AfD und FDP nach Tritt sucht und mit Holm gleich ein Aufregerthema gefunden hat; eine Gegenwart, in der Stasi-Opfer sich vergessen fühlen und auf die laute Stimme von Hubertus Knabe zählen, der ihren traumatischen Erinnerungen im Stasi-Knast noch Gehör verschafft. Und es geht um die Zukunft einer Stadt, die längst in anderen Umbrüchen steckt und dafür jetzt Aktivisten wie Andrej Holm aktiviert.

Anders als bei vielen anderen Ostdeutschen kommt es bei Holm nicht zur biografischen Wende. Holm, der mit dem Zusammenbruch seines Staates auch seine Arbeit los ist, findet Halt im linken Berliner Milieu. Hartmut Häußermann, international anerkannter Stadtsoziologe an der Humboldt-Universität, fördert Holm. Häußermann gibt das „Monitoring soziale Stadt“ heraus, eine Art Armutsbericht, der Berlins SPD regelmäßig in Erklärungsnot bringt, weil immer größere Teile der Stadt sich in Alarmrot verfärben. Von „Segregation“ sprechen Soziologen, der Aufspaltung der Stadt in Armutsviertel und Wohlstandsinseln, sowie vom sozialen Treibsatz der „Gentrifizierung“.

31. August 2007. Einsatzkräfte dringen in die Wohnung von Andrej Holm ein und führen ihn ab. Er muss in Untersuchungshaft wegen Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung – und wegen eines Begriffs: „Gentrifizierung“. Holms Forschungsthema ist ein Wort, das in Bekennerbriefen der „militanten gruppe“ steht, die Brandanschläge verübt hatte. Ein Jahr lang, sagte Holm später, sei seine Kommunikation abgehört worden – ein Gericht weist später einen dringenden Tatverdacht ab. Holm kommt frei, auch dank weltweiter Proteste.

Antikapitalistisch – diese Haltung war zu Mauerzeiten staatstragend im Osten, subversiv im Westen. Für einen wie Holm, den die Zeitläufte von Hier ins Dort schleudern, erlaubt das die Fortschreibung der eigenen Biografie mit Überzeugung. Holm bleibt engagiert: in Mieterinitiativen, mit einem „Gentrifizierungsblog“, seinen Gegnern schleudert er akribisch Daten entgegen, die den Wandel des wachsenden Berlin zeigen. Holm regt einen Lehrstuhl zur Hausbesetzer-Szene an.

Sind von Holm also die Zwangsbelegung von Wohnungen und andere Eingriffe ins Eigentum zu erwarten? Soweit die staatlichen Mittel es tragen: Ein „gut aufgestelltes Wohnungsamt“ könne klare Signale an „rein renditeorientierte Investoren“ senden, sagte er mal bei einer Veranstaltung der Linken, nämlich dass „in Berlin zu investieren heißt, ein Risiko einzugehen.“ Werkzeuge dazu haben die Verwaltungen: Das Vorkaufsrecht auf Wohnhäuser, die Regulierung von Sanierungsumfang und Miethöhe in Milieuschutzgebieten sowie die Gesetzgebung gegen die Zweckentfremdung. Wenn nur genügend offizielle und inoffizielle Mitarbeiter zum verschärften Überwachen und Strafen bereit stehen, könnte so mancher in der Ferienwohnungsindustrie bald aufheulen.

Hat Holm seine begonnene Stasi-Laufbahn später an der Uni korrekt angegeben?

Aber kann Aktivist Holm noch unbefangen aktiv werden im Senat? In der Linkspartei bleiben sie dabei: Holms Biografie sei SPD und Grünen bekannt gewesen. Doch mancher Grüner mahnt eine genaue Prüfung an, der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) hält sich lieber noch zurück. Und auch in der Linken fragen sich einige, ob die Last nicht doch zu schwer sein könnte.

Womöglich wird Holm heute vom Senat ernannt, aber dann zunächst als Beamter auf Probe. Die Stasi-Akten-Behörde überprüft Holm nun routinemäßig, so wie alle anderen Staatssekretäre. Das kann ein paar Monate dauern; danach wird die Koalition erneut beraten: Hat der Stadtsoziologe etwas verschwiegen, ist er politisch noch tragbar? Das dürfte eher ein Aushandeln, ein Abschätzen sein. Denn restlos geklärt ist nichts 27 Jahre nach den angeblichen Stasi-Schreibdiensten. Nicht mal bei Holms bisherigem Arbeitgeber, der Humboldt-Uni. Die hat seine Vergangenheit schon überprüft, aber auch ausreichend?

Auf Nachfrage gibt Ost-Berlins einstige Vorzeige-Uni, die schon spektakuläre Stasi-Fälle hinter sich hat, an: „Herr Holm hat bei seiner Einstellung angegeben, im Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ Wehrdienst geleistet zu haben.“ Ein solcher Wehrdienst sei noch kein Grund, eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter auszuschließen. Denn: „Dieser Wehrdienst wurde unterschieden von einer hauptberuflichen oder inoffiziellen Tätigkeit für das MfS. Er wurde als dem üblichen Wehrdienst gleichgestellt betrachtet, somit erfolgte keine weitere Überprüfung.“ Damit tut sich eine neue Frage für Holms Glaubwürdigkeit auf: Hat er seine begonnene Stasi-Offizierslaufbahn später bei der Uni nicht angegeben – und hätte er dies tun sollen? Holm war am Montagabend für Nachfragen nicht zu erreichen. Am Tage twitterte er: "Ich kann meine Biografie nicht nachträglich verändern - nur daraus lernen und einen offenen Umgang mit ihr anbieten."

Zu gerne würde man wissen, was Andrej Holms Eltern denken über seine abgeknickte Stasi-Karriere und seine angeknackste Politkarriere. Doch am Telefon sagt die Mutter: „Fragen Sie bitte ihn.“ Andrej Holm muss alle Antworten selbst finden. Auch auf die Frage aus dem Stasi-Film: Hätte ihn das Leben, was er einst wollte, glücklich gemacht?

Update: Am Dienstagvormittag wurde Andrej Holm vom rot-rot-grünen Senat zum Staatssekretär für Wohnen ernannt.

Mitarbeit: Hannes Heine und Ralf Schönball.

Zur Startseite