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Rettung für Konsumenten. Die Spätis gehören zum Berliner Lebensstil. Aber es gibt Streit um die Sonntagsöffnung.

© Pierre Adenis/laif

Berlins Späti-Betreiber demonstrieren: Auf die Straße für den Sonntagsverkauf

Sie sind eine Nische für hedonistische Großstädter: Berlin entzweit sich an seinen Spätis – am Sonntag demonstrieren die Betreiber für die Sonntagsöffnung.

Es gibt sie noch, die seelische Erhebung. Jeder kennt sie, der am Sonntagmorgen das Fenster öffnet und nicht hört, was er sonst hört: Lärmende Müllwagen, geschäftige Handwerker, den Straßenverkehr und das allgemeine Türenschlagen. Es gelten strenge Lärmbeschränkungen für Rasenmähen, private Arbeit und lautes Feiern. Der Geräuschpegel ist ein ganzes Stück niedriger, Vogelstimmen schälen sich aus dem Hintergrund heraus, Kirchenglocken läuten; es ist am Sonntag immer ein bisschen, als sei plötzlich viel Schnee dämpfend auf die Stadt gefallen.

Das mit der seelischen Erhebung klingt ein bisschen gestelzt – aber so ist nun einmal der Sound unserer Verfassung. Sie will, dass wir geistig durchatmen in einer nur 24 Stunden bestehenden Welt ohne Krach, Hektik und Termine, das ist das Ziel der grundgesetzlich verordneten Sonntagsruhe: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt“ – so hieß es in der Weimarer Verfassung, und Artikel 140 GG bezieht sich darauf.

Die Ruhe am Sonntag ist natürlich keine Erfindung der Weimarer Zeit, sondern eine christliche Tradition, die wiederum auf den jüdischen Sabbat zurückgeht. Aber fraglos profitieren auch strenge Atheisten von ihr, denn sie funktioniert ja auch, wenn sie nicht religiös konnotiert, nicht mit Gottesdienstbesuch und Gebet verbunden ist.

Jeder von uns hat solche sonntäglichen Hörbilder in seiner Kindheit aufgesogen, assoziiert damit vielleicht einen Sonntagsbraten im Gasthaus oder in der Familie, Sportwettkämpfe oder Baden im Wannsee mit Pommes und Eis – eben das, was nur an diesem Tag richtig geht, was sonst in der Geschäftigkeit des Alltags und seiner Pflichttermine zu kurz kommt. Der Flaneur, sollte er noch existieren, hat endlich Platz auf den Gehwegen, in den Cafés ist die alltägliche Hektik verflogen, Familien und Freunde treffen sich zum Brunch.

Späti-Betreiber planen Petition ans Abgeordnetenhaus

Ja, das alles ist erhebend für alle, die sich darauf einlassen, es streichelt die Seele, und niemand ist gegen diese Ruhe. Nur stehen ihr massive wirtschaftliche Interessen gegenüber, dieselben Interessen, die sich schon gegen den einst ähnlich starken Schutz des Sonnabends durchgesetzt haben. Es geht im Grunde immer nur um die Ladenöffnungszeiten, den Kern der Debatte. Und in Berlin natürlich um die Spätis, eine seltsame Nische des Handels, die die Betreuung des permanent umgetriebenen, hedonistisch getakteten Großstädters übernommen hat, der gern die Nacht zum Tag macht, bei Glockengeläut Kopfschmerzen bekommt und frühstücken will, wenn der Bürger gerade den „Tatort“ einschaltet. Ist das ein Grundbedürfnis der modernen Stadtgesellschaft? Am heutigen Sonntag werden viele Betreiber auf die Straße gehen und eine Demonstration veranstalten, um diese Auffassung zu bekräftigen. Sie beginnt um 13 Uhr am Hermannplatz, „Laden zu – Mund auf“ ist ihr Motto.

Die Spätis sind gewissermaßen die Schnittstelle der juristischen Debatte – und ihre Grauzone. Auf der einen Seite sitzen jene, die sich auf eine gesetzliche Ausnahme berufen können, nämlich Tankstellen, Bahnhofsläden, Flughafenshops; in Kur- und Urlaubsorten dürfen Ladenbesitzer zumindest in der Saison sonntags ohnehin machen, was sie wollen. Auf der anderen Seite stehen die regulären Geschäfte, denen das Bundesverwaltungsgericht immer wieder jegliche Ausreden versagt und zuletzt 2017 die „sachgrundlose Öffnung von Verkaufsstellen an Sonntagen“ kategorisch unterbunden hat.

Was ein Sachgrund sein kann, ist gerade in Berlin immer wieder neu ausgehandelt worden, es kann eine große Ausstellung wie die Grüne Woche oder die ITB sein, eine große Sportveranstaltung geht auch oder die Berlinale. Aber, Zitat Gericht: „Als Sachgrund reicht das alleinige Umsatz- und Erwerbsinteresse der Handelsbetriebe und das Shoppinginteresse der Kundschaft nicht aus.“ Und das ist natürlich der Kern der Diskussion.

Der Verein „Späti“, der sich für die Belange von etwa 2000 Kleinbetrieben einsetzt, beherrscht das moderne PR-Sprechen ebenso gut wie die Handels-Lobby. „Wir fordern, dass das Gesetz modernisiert und an die Erfordernisse einer fortschrittlichen Stadt angepasst wird“, heißt es in seinem Aufruf, „das durchmischte und kleinteilige Infrastrukturangebot in den Kiezen“ solle gerade am Sonntag erhalten bleiben. Überdies vertrete man überwiegend kleine Familienbetriebe und sichere damit viele Arbeitsplätze.

Eine Petition ans Abgeordnetenhaus soll der Demo folgen. Allerdings gibt es keine erfolgversprechende Idee, wie ein passendes Gesetz verfassungskonform zu formulieren, wie eine Grenze zwischen Späti und Nicht–Späti überhaupt zu definieren wäre. An die Verfassung selbst würden sich gegebenenfalls nur wenige Parlamentarier herantrauen, eine Zweidrittelmehrheit zur Veränderung ist nirgendwo in Sicht. Und auch die Berliner Senatskoalition hat das Thema 2016 ausdrücklich ausgeklammert und zeigt keine Bestrebungen, daran etwas zu ändern.

Die Spätis sind nur eine kleine Gruppe, aber die Protagonisten der gegnerischen Lager sind stark. Auf der einen Seite stehen die Handelskonzerne und -verbände, denen das Internet die Geschäfte verdirbt: Gerade am Sonntag, so sehen es die Funktionäre, werde bei Amazon und Co. am meisten bestellt. Die Tourismusbranche zieht mit: Burkhard Kieker, Chef von „Visit Berlin“, hat schon öfter die Befürchtung geäußert, dass der wendige internationale Städtetourist am Ende Ziele bevorzuge, wo er auch am Sonntag einkaufen kann; es kommen allerdings trotzdem immer mehr Besucher nach Berlin.

Kirchen und Gewerkschaften sehen den Sonntagsverkauf kritisch

Auf der anderen Seite steht jene seltsame Allianz von Kirchen und Gewerkschaften, die immer wieder die harten höchstrichterlichen Urteile erkämpft. Sie möchte verhindern, dass das schrankenlose Einkaufen zu einer Art Grundrecht erhoben wird. Die Kirchen, so scheint es, trauen ihren Mitgliedern in dieser Hinsicht nicht über den Weg und fürchten, dass sie im Zweifel ins KaDeWe und nicht in die Gedächtniskirche gehen; Sonntagsöffnungen ab 13 Uhr berücksichtigen das. Die Gewerkschaften kämpfen ebenfalls für die Sonntagsruhe, allerdings die ihrer Mitglieder und der Familien. Ob sie das mit sehr hoher Zustimmung tun, ist unklar. Häufig scheint es, als sei das Kassen- und Bedienungspersonal teils durchaus bereit, diese Ruhe für einen schönen Sonntagsaufschlag in Zahlung zu geben.

Shoppen – das ist überhaupt das entscheidende Reizwort in der Diskussion. Seelische Erhebung gegen schnöden Mammon, darum geht es in dem uralten, kulturpessimistisch getönten Streit, der mit der biblischen Vertreibung der Händler aus dem Tempel begann und bis heute in unzähligen Internetforen wuchert. Aber was wollen die Kunden? Häufig wird eine Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung von 2014 zitiert, nach der 63 Prozent der Befragten Sonntagsangebote nutzen, aber nur eine Minderheit für die Aufhebung des generellen Verkaufsverbots ist.

Ladenschlussgesetz wurde schrittweise liberalisiert

Vermutlich sind sie auch deshalb so entspannt, weil die zahlreichen Änderungen am Ladenschlussgesetz das Einkaufen in allen Bundesländern schrittweise liberalisiert haben, nur eben am Sonntag nicht. Ältere können sich noch erinnern, wie die Einkaufszonen der Innenstädte bis in die Neunziger jeden Sonnabend spätestens um 14 Uhr komplett verödeten, und wie der Einkauf nach der Arbeit an jedem Wochentag zum Hürdenlauf wurde, weil spätestens um 18.30 Uhr Schluss war; der überlaufene „lange Sonnabend“ spiegelte das erste Aufbegehren der gegängelten Kundschaft. Dahin will niemand mehr zurück. Berlin erlaubt längst sogar die Ladenöffnung rund um die Uhr außer Sonntag, und dieses Angebot wird keineswegs nur von Supermärkten in belebten Innenstadtlagen angenommen.

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Andererseits weiß jeder Berliner, der mal in der Provinz landet, dass so etwas nicht der Normalfall ist, denn die Läden in einfachen Kreisstädten sind oft immer noch 25 Jahre zurück, manchmal sogar inklusive Mittagspause – da kommt abends sowieso einfach niemand mehr. Man wird vermuten dürfen, dass sich dort draußen auch nach dem hypothetischen Fall der grundgesetzlichen Sonntagsruhe nicht allzu viel ändern würde am Leben.

Aber was bewegt uns am Sonntag? Wolfgang Huber, als EKD-Ratspräsident seinerzeit der wohl scharfsinnigste Verteidiger der Sonntagsruhe, hat sich immer bemüht, das Thema vom 10-Uhr-Gottesdienst zu lösen und der Gesellschaft generell als Wohltat ans Herz zu legen. Für ihn war es „von großer Bedeutung, dass Familien den gemeinsamen freien Tag am Sonntag haben, dass Menschen planen können, dass sie die Dinge, die ihnen wichtig sind, am Sonntag machen können.“ Davon profitiere natürlich auch die Kirche – aber die Verfassung sage nichts vom Schutz des Sonntags für Christen, meint Huber, sondern, dass sein Charakter für alle Menschen zu schützen sei.

Polizisten, Kellner, Journalisten - viele arbeiten ohnehin am Sonntag

Wie ist das nun mit den Berliner Spätis? Sie haben meist – illegal – geöffnet, und niemand wird behaupten können, dass dies den Charakter des Sonntags fühlbar verändert hat, seit sie nach der Wende aus ihrer DDR-Nische auch nach Westen vorgedrungen sind. Verglichen mit der großen Zahl derer, die ohnehin mit kirchlicher Zustimmung arbeiten am Sonntag – Polizisten, Krankenhauspersonal, Journalisten, Kellner – fallen ein paar tausend Leute, die in ihrem Späti den Lebensunterhalt verdienen, nicht weiter auf, niemand verargt ihnen das, außer eben den Ordnungsämtern, die in unterschiedlicher Intensität wegsehen. Bisher.

Wäre die Stadt ganz ohne Sonntagsruhe eine andere? Wenn nur die Händler in den ohnehin belebten Zentren ohne Einschränkungen öffnen dürften, wie sie es in Berlin ja acht Mal im Jahr dürfen, wohl nicht. Aber bleibt es dabei? Ohne Zweifel würden sich Menschenströme in Gang setzen, die nicht nur den sonntäglichen Charakter der Stadt, sondern ihre gesamte Wirtschaftsstruktur verändern. Sehr wahrscheinlich würden die Spätis in den Kiezen eine solche Entwicklung kaum überleben, denn keiner wäre noch auf sie angewiesen, wenn alle großen Läden offen sind. Und was sind überhaupt die Erfordernisse einer fortschrittlichen Stadt, die der Späti-Verein bei seiner Demo anmahnt? Ist es wirklich ein Fortschritt, den althergebrachten Wochenrhythmus zugunsten eines gleichmäßigen Erregungszustands zu opfern?

Spätis sind Teil der sozialen Grundversorgung

Spätis sind ein Farbtupfer im Stadtbild. Sie versammeln Nachbarn um sich und übernehmen damit einen Teil der sozialen Grundversorgung. Das verargt ihnen auch niemand, außer eben am Sonntag, dem Tag, an dem sie den höchsten Umsatz machen. Darin liegt das einzige Problem. Denn niemand wird mit Überzeugung darlegen können, dass die Einkaufsbedürfnisse einer fortschrittlichen Stadt nicht bis Sonnabend, 24 Uhr erledigt werden können. Wer, schlimmstenfalls, am Sonntag morgens unterzuckert aus dem Berghain stolpert und nichts im Kühlschrank hat, der findet Lebensrettendes sicher an der nächsten Tankstelle, und auch der neue Handyvertrag kann problemlos bis Montag warten.

Am Ende stehen vor allem die Belange der Betreiber auf der Kippe; überwiegend sind das vermutlich Migranten, für die ein Späti oft der einzige Weg in die Selbstständigkeit ist. Die christliche Tradition wird sie möglicherweise weniger interessieren als ein geregeltes Einkommen. Aber das Argument zieht bei der Politik auch nicht so richtig: Das sei Selbstausbeutung, sagt Linken-Senatorin Breitenbach, die man nicht unterstützen werde.

Was wird also aus den Spätis? Dies ist Berlin, die Stadt, die sich immer irgendwie durchwurstelt. Deshalb wird vermutlich alles so bleiben, wie es ist. Bis dann der nächste Senat neu entscheiden kann, wie er damit umgeht. Der seelischen Erhebung steht das nicht im Weg.

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