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In Dovers Fährhafen wird ein Sechstel von Großbritanniens Handel mit dem Ausland abgewickelt, an der Eurotunnel-Mündung im benachbarten Folkestone ein Viertel des Handels mit der EU.

© Gareth Fuller/p-a/AP

Brexit und Außenhandel: Großbritanniens Küstenstädte fürchten das Chaos

Große Teile des britischen Außenhandels werden in den Städten Dover und Folkestone abgewickelt – wenn es hier hakt, geschehen Katastrophen. Eine Reportage.

Eine Ahnung davon, dass es eine Insel sein muss, auf der er lebt, bekommt der Brite Nigel Gilbert immer dann, wenn er einen Hügel hinauffährt und das Viehweidentor an der Crete Road beim Dorf Newington öffnet. Er geht hindurch und kann eine Küste sehen von hier oben und das Meer, einen weiten Himmel und seine Heimatstadt Folkestone, und direkt voraus, 60 Höhenmeter unter sich und alles andere dominierend, eine 150 Hektar große Güterbahnhofslandschaft. Den Blick und die Inselahnung hat Gilbert seiner eigenen Regierung voraus.

Er sieht einer Art gigantischem Fluss beim Fließen zu, einer Lebensader seines Landes. Bis heute hat Gilbert nicht komplett verstanden, wie die Arbeit auf diesem Bahnhof vonstatten geht, nach welchen Regeln, welchem Muster sich zum Beispiel der unaufhörlich vom Motorway M 20 herankriechende Wurm aus Lastwagen dort unten auf die Rampen verteilt, auf die Zufahrten zu den acht Gleisen und die gleich abfahrenden Züge. Er hat nicht verstanden, wie es sein kann, dass sich neben dem zerfallenden Wurm zeitgleich ein anderer zusammenfügt, zusammenwächst, nachdem seine Einzelteile von gerade eben eingefahrenen Zügen gerollt sind. Alles, was Gilbert weiß: Es gibt keinen Anfang und kein Ende und keine Pause dort unten, nur den unaufhörlichen Strom aus ankommenden und abfahrenden Lastwagen und Zügen. Und dass er dabei zuschaut, wie ein Viertel des Handels zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union abgewickelt wird.

Nigel Gilbert, 58 Jahre alt, IT-Mann bei einer Firma im Versicherungswesen, Gleitschirmhobbypilot und Mitglied im Dover and Folkestone Hang Gliding Club, schaut auf den Terminal des Eurotunnels, der unterm Meer verlaufenden Eisenbahnverbindung zwischen Großbritannien und Festlandeuropa. Bis zu 20 Mal im Jahr ist Gilbert hier oben. Er sagt: „Ich weiß, was für Katastrophen passieren, wenn es da unten mal irgendwo hakt.“ Denn so wundersam perfekt das System Eurotunnel auch sei, so fragil ist es auch.

Supermärkte wurden nicht beliefert, Betriebe mussten die Arbeit einstellen

Vor drei Jahren gab es eine Zeit lang Streiks auf der französischen Tunnelseite, und immer wieder versuchten Einwanderungswillige auf Lastwagen zu gelangen und damit nach Großbritannien. Gilbert hat mitbekommen, dass Supermärkte nicht beliefert wurden, Industriebetriebe die Arbeit einstellen mussten. Mitglieder seines Gleitschirmclubs steigen regelmäßig auf, um fürs Fernsehen Bilder von den Rückstaus auf den südostenglischen Straßen zu machen.

Er weiß damit mehr als Dominic Raab, Secretary of State for Exiting the European Union, bislang wusste. Der Minister, der in Brüssel den Brexit verhandelt.

John Finagin weiß, was seinem Land nach dem Brexit bevorstehen könnte.
John Finagin weiß, was seinem Land nach dem Brexit bevorstehen könnte.

© privat

Gilbert läuft los, die vor ihm liegende Senke hinunter, über ihm erhebt sich der Gleitschirm aus reißfest gewebtem Nylonstoff, Seile und Schnüre spannen sich, ein letzter Schritt, und Gilbert tritt ins Bodenlose, ins Nichts.

Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union wird am 29. März 2019, ab 23 Uhr britischer Zeit, rechtskräftig. Bis zum heutigen Tag ist nicht klar, auf welche Art und Weise das geschehen soll. Es ist nicht klar, ob es Nachfolgeabkommen mit der EU geben wird, zum Handel zum Beispiel, und welche das sein könnten. Die Abgeordneten im britischen Parlament sind uneins, die Regierungsmitglieder sind es auch. Und das britische Volk scheint zwischen immer größer werdender Ratlosigkeit und dem Wunsch zu schwanken, dass die Ungewissheit endlich vorbei sein und der Gewissheit weichen möge. Egal welcher.

Waren im Wert von 140 Milliarden Euro durchqueren den Eurotunnel im Jahr, verteilt auf 1.800 Güterzüge und mehr als 1,6 Millionen Lastwagen. Dazu kommen 50.000 Busse, 2,6 Millionen Pkw und 20 Millionen Menschen. Die durchschnittliche Abfertigungszeit pro Lkw – noch gelten die Regeln der EU-Zollunion und des Binnenmarkts – beträgt laut Angaben der Tunnelbetreiberfirma Getlink 15 Sekunden.

Und noch etwas kann dieser Tunnel. Sein Terminal dort unten, die 150 Hektar Gleise und Beton, haben Einfluss auf das, was Nigel Gilbert jedes Mal neu als ein Wunder erlebt. Scheint die Sonne, heizen sie sich rasch auf. Sie sind der Grund dafür, dass Gilbert fliegt.

Der Minister sagt, er habe "es nicht begriffen"

Der Schirm mit dem Mann unten dran pendelt sich in die Höhe, parallel zum Abhang, links-, dann wieder rechtsrum, weiter rauf und hochgeblasen von der aufsteigenden warmen Luft aus dem Güterbahnhofstal. Gilbert ist jedes Mal wieder fassungslos angesichts der Tatsache, dass dies möglich sein soll – ich, Nigel, fliege durch die Luft! Unten am Boden hatte er gesagt, dieser Startplatz hier an der Crete Road „ist wohl der beste, den wir haben im Club. Fast nirgendwo sonst ist der Aufwind so verlässlich, fast nirgendwo trägt er einen so rasch hinauf.“

Wenn er Glück hat, schafft er die zwei Meilen bis zur Ärmelkanalküste, vorbei am Tunneleingang, die Thermik über jedem aufgeheizten Blechdach nutzend, das unter ihm liegt. Über Laubfeuern, die die Gärtner von Folkestone jetzt im Herbst anfachen, bis zu den Kliffs, an denen Gilbert auf die Aufwinde des noch vergleichsweise warmen Meerwassers trifft, bis Weihnachten bleibt das erfahrungsgemäß so. Die tragen ihn noch fünf Meilen weiter nach Osten, bis nach Dover.

Dover, der Fährhafen. 2,9 Millionen Lastwagen im Jahr, 17 Prozent des gesamten Handels, den das Vereinigte Königreich mit dem Ausland betreibt. Ein Brandwandgemälde von Banksy am Straßenrand, das die Europaflagge zeigt, zwischen Innenstadt und dem letzten Kilometer bis zu den Fähren, entstanden in einer Mainacht im vergangenen Jahr. Ein blaues Quadrat, zwölf fünfzackige, kreisförmig angeordnete gelbe Sterne, ein Mann, der auf einer Leiter zu einem von ihnen hinaufgestiegen ist, einen Hammer in der rechten, den Meißel in der linken Hand. An der Kreuzung hinter dem Wandbild ein umgefahrener Ampelmast, Sattelschlepper mit polnischen Kennzeichen, die Kleinwagen vor sich herjagen.

Den Fährhafen erwähnte der Brexit-Minister Dominic Raab am vergangenen Mittwoch in einer Rede, er sagte: „Ich hatte nicht vollständig begriffen, wie wichtig das ist.“ Aber wenn man auf das Vereinigte Königreich schaue und auf die Art und Weise, „wie wir Handel treiben, dann sind wir auf die Fährverbindung zwischen Dover und Calais in besonderem Maße angewiesen“. Er hatte nicht vollständig begriffen.

99 Prozent der Lastwagen kommen aus der EU

Nigel Gilbert ist Mitglied im Dover and Folkestone Hang Gliding Club.
Nigel Gilbert ist Mitglied im Dover and Folkestone Hang Gliding Club.

© privat

Raab hätte eine der vielen Handlungsanleitungen eines Beratungsinstituts seiner eigenen Regierung lesen können, die detailreich Brexitfolgen und EU-Ausstiegsszenarien beschreiben. In dem Papier vom September 2017 steht auf Seite 12: „Dover ist die Pulsader“ des Handels mit Europa. Unter dem Satz veranschaulicht eine mit Zahlen versehene Grafik, was damit gemeint ist.

Es gibt eine vom Parlament erbetene Faktensammlung des Hafenbetreibers. Darin steht, 99 Prozent der Lastwagen, die hier auf die Fähren rollen oder von ihnen angelandet werden, stammen aus Ländern der EU. Die durchschnittliche Abfertigungszeit betrage zwei Minuten pro Lkw.

Nach dem Brexit, wenn Großbritannien Zollunion und Binnenmarkt verlassen habe, wären neue Einreisekontrollen nötig. Würden die je Lastwagen nur zwei Minuten länger dauern als heute, ergäbe das 17 Meilen lange Rückstaus – in Dover und im gegenüberliegenden Calais. Eine Berechnung des Imperial College London kommt auf bis zu 40 Meilen lange, bis zu fünf Stunden mehr Fahrtzeit kostende Staus, wenn sich die Lkw-Abfertigung auch am Tunnelterminal von Folkestone um zwei Minuten verzögert.

„Da hätte ich auch was davon“, sagt Gilbert. Sein Haus steht in der Nähe von Motorway M 20, fast bis rauf nach Maidstone – auf halbem Weg nach London gelegen – würde die Wagenkolonne stehen, wo Gilberts Club alle zwei Monate seine Vereinssitzungen abhält.

Es ist Donnerstag, der Tag nach der Raab-Rede. Die Zeitungen und das Fernsehen beglückwünschen den Minister dazu, endlich seine Insel-Erkenntnis gehabt zu haben, die Erkenntnis, dass eine Insel, die Handel treiben will, darauf angewiesen ist, das Wasser um sie herum überwinden zu können – und das möglichst mühelos. Gilbert telefoniert mit dem Vereinschef.

Firmen werden England verlassen

John Finagin heißt der, ein 66 Jahre Pensionär, zuvor ist er Lehrer gewesen. Er sagt, „ich bin verzweifelt.“ Diese „komplette Arroganz“ der Brexit-Vorantreiber, die Ahnungslosigkeit, was vor allem Englands Südosten bevorstehe. „Du brauchst kein Genie zu sein, um die Konsequenzen zu sehen“, sagt er. Staus, die sich wie „Eisblumen am Fenster“ ausbreiten würden. Firmen, die auf schnelle Transporte zu ihren Kunden oder von ihren Zulieferern angewiesen sind und England verließen. Die Autoindustrie hier im Süden zum Beispiel, die Einzelteile vom Festland und just-in-time beziehe.

„Wir hatten ja schon einmal einen Brexit“, sagt er. „Im 16. Jahrhundert, als Heinrich VIII. sich von der römischen Kirche abwandte.“ Und dann seien sie losgegangen, die Jahrhunderte der Glaubenskriege. Der Brexit, „es wird ein Albtraum.“

Auf ungefähr hundert Flüge im Jahr kommt Finagin. Starts vom Hügel an der Crete Road? Vielleicht zehn, sagt er, vielleicht 20. Er war 50, als er anfing mit dem Gleitschirmfliegen. „Ich wollte das mal machen“, sagt er, „so als einmalige Erfahrung, so wie man vielleicht auch ein Mal im Leben mit Delfinen schwimmen will.“ Und dann habe der Fluglehrer, der mit ihm ein paar Tandemflüge gemeinsam gemacht hat, gesagt: Mach’s mal alleine.

Finagin machte es alleine, er flog, vielleicht 15 Sekunden lang, vielleicht eine halbe Minute. „Ich fühlte mich wie Peter Pan.“

Der Arm ist noch steif. Er macht trotzdem weiter

Bis er neulich den Unfall hatte. Finagin ist gegen einen Baum geknallt. Er hatte damit gerechnet, kurz davor auf Wind zu treffen, der ihn nach oben hebt und damit über den Baum. Da war aber kein Wind. Bis heute ist Finagin in Physiotherapie, das linke Handgelenk war gebrochen, der Arm ist immer noch etwas steif.

„Mein gesunder Menschenverstand hatte mich verlassen an dem Tag“, sagt er. Er sei etwas aggressiv gewesen, waghalsig, er habe das getan, was Gleitschirmflieger nie tun sollten: das Gespür dafür zu verlieren, wann ein Risiko zu groß wird, als dass man es eingehen sollte.

Gleitschirmfliegen ist ein permanentes Denken in Wahrscheinlichkeiten, kombiniert mit Erfahrung – und dem Wissen um die Gefahr. Wichtigste Regel: So lange der Aufwind schneller ist als die Geschwindigkeit, mit der du sinkst, bleibst du oben.

Gerade fängt Finagin wieder damit an, erste Flüge zu machen. „Alles ist anders“, sagt er, „es ist so wie am ersten Tag, als sei ich noch nie geflogen.“ Und alles deswegen, weil er ausgerechnet die wichtigste Gleitschirmfliegerregel ignoriert hat. Wenn beim Gleitschirmfliegen etwas schiefgeht, dann geht es richtig schief.

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