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Enno Park und sein Implantat.

© Doris Spiekermann-Klaas

Cyborgs in Berlin: Die Lobby der Mensch-Maschinen

Die Masern nahmen ihm das Gehör, ein Implantat brachte es zurück. Der Berliner Enno Park sagt: Ich bin ein Cyborg, eine Mensch-Maschine. Die Verschmelzung von Körper und Technik ist für ihn eine große Chance. Für andere ein widernatürliches Experiment.

Um das Implantat anzubringen, haben sie Enno Park im Virchow-Klinikum direkt hinter den Ohren jeweils ein Stück Schädelknochen weggefräst. Dazu Kanäle durch den Knochen in Richtung Innenohr gebohrt. In diese führte die Ärztin feine Drähte ein, an dessen Enden sich die winzigen Elektroden befinden, die seitdem Parks Hörnerven reizen.

Seit seinem 17. Lebensjahr war Enno Park praktisch taub. Spätfolge einer Masernerkrankung. Dank des „Cochlear Nucleus N5“ kann er wieder hören, beinahe so gut wie gesunde Menschen. Die Gewöhnung dauerte Monate, mehrfach musste nachjustiert werden. Inzwischen unterhält er sich in der Kneipe, trotz Geraune am Nebentisch, trotz Musik aus den Boxen. Hätte er nicht für möglich gehalten. Doch Enno Park dachte sich: Warum damit zufrieden sein? Warum nicht alle Möglichkeiten des Implantats ausnutzen und Dinge wahrnehmen, die außerhalb des begrenzten menschlichen Frequenzbereichs liegen? Zum Beispiel Ultraschall! Wie Fledermäuse!

Berlin-Kreuzberg, WG-Küche. Enno Park sagt: „Ich bin ein Cyborg.“ Der Cyborg wird gefragt, ob er Milch in den Kaffee möchte. Nein, bitte schwarz.

Wenn er den Kopf zur Seite dreht, begreift man, dass sich sein „Cochlear Nucleus N5“ von klassischen Hörgeräten unterscheidet. Auf beiden Seiten trägt Enno Park ein kleines Mikrofon, einen Sprachprozessor plus eine Batterie mit sich herum. Während Hörgeräte bloß Schall verstärken, zeichnet Parks Apparat Geräusche auf, wandelt sie digital um und sendet die Signale an die Schnittstelle im Körperinneren, wo Technik und Organismus verschmelzen.

Wenn man so will, ist Enno Park eine Mensch-Maschine. Und Enno Park will so.

Seit Jahrzehnten gilt der Cyborg als Sehnsuchtsvorstellung von Science- Fiction-Fans. Fortschrittsskeptikern ist er dagegen ein Grusel. Ein widernatürliches Freak-Experiment.

Enno Park, 41, sieht weder gruselig noch freakig aus. Mehr wie der nette Bohemian von nebenan, mit seiner Cordjacke, mit gepflegtem Bart. Gefährlich? Gemütlich. „Ich möchte Berührungsängste nehmen“, sagt er. „Menschen zeigen, dass wir hier kein Spinnerthema verhandeln.“ Deshalb hat er den ersten deutschen Cyborg-Verein mitgegründet. Mehrere Dutzend Interessierte sind beigetreten, Mensch-Maschinen und solche, die es gern wären. Gemeinsam wollen sie diskutieren, Experimente planen und ausloten, welche Grenzen es gibt. Ob es überhaupt welche gibt oder geben sollte. Nicht zuletzt verstehen sie sich als Mittler zwischen Fortschrittsgläubigen und -verängstigten. Deshalb suchen sie die Öffentlichkeit. Der Cyborgs e.V.: eine Lobbyorganisation für Mensch-Maschinen?

Die technischen Grenzen sind offenkundig, sagt Park. Ein Roboterarm, den man sich heute anstelle seines natürlichen anbringen ließe, wäre kein vollwertiger Ersatz. Das kann noch Jahre dauern. Wahrscheinlicher aber Jahrzehnte.

Mit den moralischen Grenzen verhält es sich anders. Denn ob die Verschmelzung von Lebewesen und Technik als Chance oder Bedrohung gesehen wird, hängt mitunter von der Frage ab, wer dabei eigentlich von wem Besitz ergreift: der Mensch von der Maschine oder umgekehrt?

Von der Frage, wie weit Verschmelzung gehen darf

Enno Park und Stefan Greiner.
Enno Park (links) und Stefan Greiner.

© Doris Spiekermann-Klaas

In den vergangenen Jahren hat sich eine weltweite, rasant wachsende Szene aus Forschern, Künstlern und Hackern gebildet, die nach Verschmelzungsmöglichkeiten suchen. In Barcelona trägt eine Frau vibrierende Ohrringe, die durch das Internet mit Seismografen verbunden sind. Sie kann jetzt spüren, wenn am anderen Ende der Welt ein Erdbeben stattfindet.

In San Diego und Lausanne haben Forscher eine Kontaktlinse mit Zoom entwickelt. Ein Augenzwinkern genügt, und die Brennweite verändert sich.

In Helsinki ließ sich ein Mann, der beim Motorradunfall einen Teil seines Ringfingers verlor, statt der herkömmlichen Prothese lieber einen USB-Stick auf den Stumpf setzen. Er trägt nun zwei Gigabyte Speicherplatz mit sich herum. Will er Dateien draufladen, muss er bloß seinen Finger in die entsprechende Laptopöffnung stecken.

Klingt aufregend. Auch lustig. Aber ist das mehr als eine Spielerei unter bastelwütigen Nerds? Auf jeden Fall, sagt ein Mann, der in der Kreuzberger WG-Küche Enno Park gegenübersitzt. Stefan Greiner, 30, hat an der TU Berlin über Interaktionen zwischen Mensch und Technik geforscht und hält die zunehmende Verschmelzung für einen unaufhaltbaren Vorgang, ja für einen „natürlichen und evolutionär begründeten menschlichen Prozess“. Von dem seien im Übrigen schon zahllose Menschen betroffen. Allein das Smartphone. Dass es nicht am menschlichen Körper festgeschraubt sei, ändere nichts an seiner Bedeutung im Alltag.

Die Frage, wie weit der Mensch eigene Begrenztheit durch Technikeinsatz aufheben darf oder gar soll, ist keine neue: Transhumanismus heißt die philosophische Denkrichtung, die seit den 1980er Jahren vor allem in den USA und in Großbritannien genau dies diskutiert. Extreme Vertreter glauben an eine Verpflichtung zum Fortschritt, andere warnen vor Druck aufs Individuum, sich der Technik irgendwann nicht mehr verschließen zu können: Wenn alle Menschen um einen herum durch Implantate Superkräfte gewinnen, muss man es ihnen gleichtun oder ist bald abgehängt. Gegen diese Logik der Konkurrenz wollen Berlins Cyborgs ankämpfen.

Stefan Greiner hat sich schon vor anderthalb Jahren einer Operation unterzogen. Man sieht die Narbe noch an seinem Zeigefinger. Auf Höhe des Nagelbetts ließ er sich für 120 Euro einen reiskorngroßen Magneten unter die Haut setzen. Weil das in Deutschland kein Arzt macht, musste er ins Piercingstudio. Solche Magneten sind in der Cyborg-Szene populär. Sie vibrieren, sobald der Finger über Stromleitungen fährt. Oder in Geschäften in die Umgebung von Diebstahlsicherungsanlagen gerät. Aber wozu? Erstmal für das Erleben eines zusätzlichen, dem Menschen sonst verschlossenen Sinnes, sagt Stefan Greiner.  

Held der weltweiten Szene ist ein Mann namens Neil Harbisson. Der Brite ist von Geburt an farbenblind, sah nur Grautöne. Dann hat er sich einen Chip in den Hinterkopf setzen lassen. Der empfängt Signale von einem Farbsensor, den sich Harbisson vor die Stirn geschnallt hat. Der Chip wandelt Farben in Töne um. Rot wird zum tiefen F. Orange zu Fis, Gelb zu G, Hellgrün zu Gis. Und so weiter. Zuerst hat es Neil Harbisson angestrengt. Er hörte einen Ton und musste sich erinnern, welche Farbe der bedeutete. Nach ein paar Monaten funktionierte die Übersetzung automatisch. Er fing sogar im Schlaf an, Farben zu hören.

Dank eines Chips im Kopf und einer speziellen Kamera kann der Brite Neil Harbisson Farben hören.
Dank eines Chips im Kopf und einer speziellen Kamera kann der Brite Neil Harbisson Farben hören.

© Ints Kalnins/Reuters

Traurige Erkenntnis: Manche Landschaften, wie Strände oder Wälder, klangen nicht so gut, wie Harbisson es sich erhofft hatte. Völlig überfordert hat ihn ein Berlinbesuch vor zwei Jahren. Als er an den bunt besprühten Mauerstücken der East Side Gallery entlangschritt, brach in seinem Kopf Chaos aus vor lauter Tönen.

„Früher habe ich mich so gekleidet, dass es gut aussah“, sagt Neil Harbisson. „Jetzt mache ich es so, dass es gut klingt.“ Zum Beispiel Hemd blau, Hose pink, Schuhe knallgelb. Ergibt C, E und G. Den Grundakkord von C-Dur.

Ein Brite hört Ultraviolett

„Eyeborg“ nennt Harbisson sein auffälliges Implantat. Weil er es als Teil seines Körpers begreift und sich deshalb weigert, es auszuziehen, gerät er regelmäßig in Schwierigkeiten. Im Kino wollen sie ihn nicht in den Saal lassen, aus Angst, Harbisson werde den Film heimlich mitschneiden und ins Internet stellen. Auf einer Demonstration hat ihm ein Polizist seine Antenne abgerissen. Es dauerte auch, bis ihm genehmigt wurde, sein Bild mit Eyeborg als Passfoto zu verwenden. Seitdem wird er weltweit als der „erste offiziell bestätigte Cyborg“ gefeiert.

Neil Harbisson wollte sich nicht zufrieden geben mit dem Farbspektrum, das Menschen üblicherweise sehen können. Er schraubte an seinem Gerät, inzwischen hört er auch Infrarot – zum Beispiel, wenn jemand mit einer Fernbedienung auf ihn zeigt. Ultraviolett wird ihm ebenfalls angezeigt.

Enno Parks Ultraschallversuche waren bisher weniger erfolgreich. Um sein Implantat zu tunen, müsste er es umprogrammieren. Und wenn das schiefginge, ist sich Park sicher, würde ihm die Krankenkasse keinen Ersatz zur Verfügung stellen. Das Implantat kostet 30 000 Euro. Immerhin ist einem Londoner Cyborg neulich ein ähnlicher Hack gelungen. Wenn der jetzt durch die Straßen geht, hört er, wo sich W-Lan-Netze befinden und wie stark die gerade sind.

Manche Nutzungsmöglichkeiten ergeben sich tatsächlich erst durch hemmungsloses Herumspielen, sagt Stefan Greiner, der Mann mit dem Magnet-Implantat. Durch Zufall fand er heraus, dass er seinen Magneten auch zum Wiedergeben von Tönen nutzen konnte. Mithilfe eines Smartphones und einer Spule wurde seine linke Hand so zum Telefonlautsprecher. Um seinen Gesprächspartner zu hören, musste er sich nur noch den Zeigefinger ans Ohr halten.

Magnetische Strahlung wahrzunehmen und zu nutzen, dem Menschen so einen sechsten Sinn zu schenken, das war auch das Ziel des Kognitionsforschers Peter König. An der Universität Osnabrück entwickelte er einen Gürtel, der auf Taillenhöhe immer genau an der Stelle vibriert, die nach Norden gerichtet ist – als Kompass für seinen Träger. Zugvögel und Meeresschildkröten orientieren sich dank dieses zusätzlichen Sinnes. Kann er auch dem Menschen nutzen?

Der Gürtel wurde von jeder Testperson sechs Wochen lang täglich zwei Stunden getragen. Mit der Zeit gewöhnten sich die Probanden an ihren neuen Sinn – so stark, dass sie sich schließlich unsicher fühlten, sobald sie den Gürtel ablegten. Der geschenkte und dann wieder genommene Sinn, er fehlte ihnen.

Auch das Max-Planck-Institut beschäftigt sich seit Jahren mit Cyborgs. Moritz Grosse-Wentrup von der Abteilung für „Intelligente Systeme“ hält die heutigen Tüftler für die Avantgarde einer Entwicklung, die einmal sehr viel mehr Menschen betreffen werde als heute. In 50 Jahren könnte es zum Beispiel Gedächtnisimplantate geben, die Schlaganfallpatienten mit Hirnschäden ein neues Langzeitgedächtnis schenken.

Wer sich heute schon brennend für die Verschmelzung von Mensch und Technik interessiert, da sind sich alle Cyborgs einig, ist die Rüstungsindustrie. Deren Forschung finde logischerweise im Geheimen statt, sagt Enno Park.  

Die Berliner Cyborgs sind gegen jede militärische Verwendung der Verschmelzungsideen. „Die Möglichkeiten der Technik nutzen, um Menschen zu schaden, das ist genau das, was wir nicht wollen“, sagt Enno Park. Deshalb hat sich sein Verein einen Untertitel gegeben: „Gesellschaft zur Förderung und kritischen Begleitung der Verschmelzung von Mensch und Technik“. Und spätestens hier ahnt man: Wenn Cyborgs derart nachdenklich und verantwortungsvoll sind, kann die Zukunft nicht so schlimm werden.

Seinen Ultraschallversuch hat Enno Park dann doch noch durchgeführt. Aber nicht mit seinem kostbaren Implantat, sondern einem selbst gelöteten Sensor, den hat er sich als Bausatz im Internet gekauft. Mit dem Gerät ist Enno Park nach Treptow in ein Kellergewölbe der Berliner Wasserwerke gegangen. Dort gab es reichlich Fledermäuse. Zufrieden war Park trotzdem nicht. Die Ultraschall-Laute der Tiere waren allesamt zu schwach, als dass er sie von Weitem hören konnte. Nur eine einzige Fledermaus, ein zahmes Exemplar, ließ sich in nächster Nähe nieder und schrie. Hat sich gut angehört, sagt Park.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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