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Der Schüler Erik (Jonas Dassler) wird verhört.

© Studiocanal/Julia Terjung

"Das schweigende Klassenzimmer" bei der Berlinale: Ein stummer Protest und seine Folgen

Fünf Minuten lang sagen Karsten W. Köhler und seine Mitschüler im Herbst 1956 kein Wort. Der Film „Das schweigende Klassenzimmer“ erzählt vom Mut dieser Abiturienten einer DDR-Oberschule. Und von den drastischen Folgen.

Karsten W. Köhler erinnert sich noch genau an die fünf längsten Minuten seines Lebens. Wie sich der Sekundenzeiger der großen Uhr über der Tafel von Sekunde zu Sekunde schleppte. Es war der 29. September 1956. Fünf Minuten Schweigen für Ungarn, im Gedenken an die in den letzten Tagen gefallenen ungarischen Freiheitskämpfer, vor allem an den Fußballer Ferenc Puskás. Mitten im Geschichtsunterricht von Herrn Mogel an der Kurt-Steffelbauer-Oberschule in Storkow.

Das also ist er, der erste Schulneubau der DDR nach dem Krieg, nicht in Berlin oder Leipzig errichtet oder wo er sonst noch auffiele, nein, in Storkow, 60 Kilometer südöstlich von Berlin, gut versteckt hinter märkischen Kiefern. Vor allem aber am See. Eine Schule direkt am See, kein strenges Gebäude, sondern vier Pavillons mit Freiluftinseln und einem überdachten Wandelgang dazwischen. Man konnte im Sommer draußen unterrichten, das Gegenteil einer Erziehungskaserne. Also eine neue freie Schule für neue freie Menschen?

Jetzt hat Lars Kraume die Geschichte Köhlers und seiner Mitschüler verfilmt, „Das schweigende Klassenzimmer“ hat am Dienstag auf der Berlinale Premiere.

Er, Karsten W. Köhler, war der Erste, der damals gefragt wurde: Was weißt Du über die Haltung der SPD zum Ersten Weltkrieg? Wie reagierte der Spartakusbund? „Ich stand auf, stellte mich neben die Bank und – sagte gar nichts“, berichtet Köhler. Köhler gehört zu dem Typus Mensch, für den das Schweigen eine durchaus widernatürliche Weise des In-der-Welt-Seins ist. Das spürt man noch sechzig Jahre später. Leben heißt reden! Aber damals schwieg er. Im Namen der Freiheit. Im Namen von Puskás und seiner Gefährten, die gegen die anrollenden sowjetischen Panzer nie eine Chance hatten. So wie sie selber nie eine Chance haben würden, solange die sowjetischen Panzer ... Oder nein. War solche Konsequenzmacherei nicht typisch kommunistisch?

Denken ist abstrakt, darum irren Menschen, die denken, so oft. Schweigen dagegen ist konkret. Es schafft eine Pause, eine Weltpause beinahe.

Die Klasse floh

Der damals Siebzehnjährige spürte, wie sich sein kleines, isoliertes Selbst weitete, in einen größeren, überindividuellen Zusammenhang eintrat, gewissermaßen ins Weltgeschichtliche. Der RIAS hatte ihnen alles erklärt, schon seit einer Woche folgten sie seinen Nachrichten. 24. Oktober: „Tausende und Abertausende Studenten, Arbeiter und Soldaten demonstrierten seit gestern Abend für Freiheit und Unabhängigkeit ihres Landes.“ Auf ihren Spruchbändern stand: „Schickt die Rote Armee nach Hause!“ oder „Wir fordern freie und geheime Wahlen!“ Besser, grenzübergreifender konnte man das gar nicht formulieren.

Seltsam, wie verschieden Menschen sitzen. Eigentlich ist das Sitzen eine eher defensive Haltung, aber im Fall Karsten W. Köhlers ist es mehr ein Präsidieren, selbst an diesem leeren Konferenztisch im Büro einer Berliner Filmproduktionsfirma. Es ist ein lichter Raum, mit hohen Türen, sehr großbürgerlich. Köhler trägt ein dezent rosa Hemd zu schwarz-weiß kariertem Anzug und Kapitänsbart. Steht nicht jedem, ihm schon. Er ist auch nicht zum ersten Mal hier, denn der frühere Schüler der Steffelbauer-Schule ist gerade wieder dabei, berühmt zu werden. Oder sagen wir: hintergrundberühmt. Als Berater des Regisseurs, als Hauptsachverständiger, Drehbuchkritiker, gemeinsam mit seinem Freund Dietrich Garstka, der vor über zehn Jahren mit allen Beteiligten von damals gesprochen hatte und in die Archive gegangen war. 2006 erschien sein Buch „Das schweigende Klassenzimmer“.

Zum ersten Mal wurde die zwölfte Klasse der Kurt-Steffelbauer-Oberschule noch 1956 berühmt: von den Kommunisten kollektiv vom Abitur ausgeschlossen, floh sie in den Westen. Was waren das für Zeiten, als Flüchtlinge noch Helden werden konnten! Erst Helden im Kalten Krieg und ab jetzt auch Helden im Kino.

Es ist eine Parabel um Treue und Verrat, Treue zu sich selbst, auch und gerade, wenn man noch gar nicht weiß, wer das ist: man selbst. Solche Geschichten werden nie alt.

Wer nur die Ein-Satz-Fassung kennt: Eine Klasse schweigt für die Freiheit und wird vom Abitur ausgeschlossen, meint einmal mehr zu wissen, was die DDR war: indiskutabel in allen Belangen, vor allem auch geistig und moralisch indiskutabel. In der Langfassung verändert sich das Bild.

Es gab zwei Schweige-Fünf-Minuten, folgenlos zuerst. Aber als die Schüler sie schon fast vergessen hatten, hielten zwei große schwarze Limousinen vor der Kurt-Steffelbauer-Schule, solche, wie sie dieser Schulhof, ja ganz Storkow noch nie gesehen hatte.

Ein Minister in der Klasse?

Steffelbauer war ein antifaschistischer Lehrer und Kommunist, den die Nationalsozialisten 1942 in Berlin-Plötzensee hinrichten ließen. Die machthabenden Antifaschisten der DDR pflegten die Schulen des Landes vorzugsweise nach ihren toten Genossen zu benennen. Aber jetzt hätte Kurt Steffelbauer die Welt nicht mehr verstanden.

Der Volksbildungsminister der DDR persönlich stieg aus und betrat die zwölfte Klasse. Es war Donnerstag, der 13. Dezember 1956, früher Nachmittag.

Der frühere KZ-Häftling, Zuchthaus-Überlebende und jetzige Volksbildungsminister Fritz Lange wollte mit den Abiturienten reden. Doch die fragten sich: Wie kommt ein Minister in unsere Klasse? War das nicht ein Irrtum, ein Formatfehler? Und alle wussten: Jemand musste sie angezeigt haben.

Kraumes Spielfilm klammert diese Frage aus, und er hat wohl recht, die Dramatik des Kommenden durch nichts abzulenken. Gleichwohl ist sie sehr interessant. Der Verdacht der Schüler fällt sofort auf den gedemütigten Geschichtslehrer und auf den jungen Schuldirektor Georg Schwerz aus ungemein bildungsfernem Elternhaus. Der sagte im Geographieunterricht Bor-de-auk-s statt Bordoo. Da ging der Beamtensohn Karsten zu ihm und erklärte, es heiße Bordoo, nicht Bor-de-auk-s. Schwerz bedankte und entschuldigte sich, in der Landarbeiterkate seiner Herkunft habe man nicht französisch gesprochen, er hätte noch sehr viele Lücken. Dieser Schwerz schien ganz in Ordnung, aber er war SED-Mitglied, also Russenknecht, also verdächtig. Über vierzig Jahre wird er den Schülern als Verräter gelten.

Das eigentliche Drama der Zwölften beginnt erst mit dem rätselhaften Erscheinen von Fritz Lange. Wahrscheinlich beginnt es sogar erst mit Bordoo-Karstens provokantem Satz, gerichtet an den Volksbildungsminister: „Wer schreit, hat unrecht!“ Das war ungeheuerlich. So hätte damals kein Sohn mit seinem Vater gesprochen, kein Schüler mit einem Lehrer, und schon gar nicht mit einem Minister.

Dialog entgleist

Karsten W. Köhler ist noch heute, sechzig Jahre später, sehr zufrieden mit dem Jungen, der damals diese Antwort gab. Es war eine Flucht nach vorn gewesen, denn der Minister hatte begonnen, nach den Eltern zu fragen, und wieder traf es ihn zuerst. „Meine Mutter arbeitet...“, begann der Siebzehnjährige; Lange unterbrach ihn: Und Ihr Vater? – „Meine Mutter ...“, setzte Köhler noch einmal an, denn er fand es unangenehm, dem Minister mitteilen zu müssen, dass sein Vater im Westen sei. Bei der nochmaligen Erwähnung von Mutter Köhler wurde Lange nun allerdings böse und sehr laut: „Ich habe Sie nicht nach Ihrer Mutter gefragt, sondern nach Ihrem Vater!“ Dem Schüler war klar, dass er nun nicht mehr ausweichen konnte. Was sollte er sagen? Die Wahrheit: Mein Vater ist in den Westen gegangen, er war preußischer Revieroberförster und bei der SS – ? Den Triumph wollte er ihm nicht lassen, nicht jetzt. Also sagte er: Wer schreit, hat unrecht! Und nun begann der Minister wirklich zu schreien und – hatte unrecht, selbst dort noch, wo er recht hatte. Der Dialog entgleiste.

Am Anfang hatte Lange den Schülern erklärt, dass seine Genossen in Ungarn schwere Fehler begangen haben, jetzt sah der frühere KZler und Zuchthäusler Lange nur noch rot, nein, er sah braun: Er sah vor sich die Kinder seiner Peiniger, seiner Feinde. Sie würden die ersten sein, die solchen wie ihm wieder die Schlinge um den Hals legten, wenn sie könnten. Das sagte er ihnen. Und die machen Abitur, auf Kosten des Volkes? Langes Ultimatum lautete: Ihr habt eine Woche Zeit! Dann wolle er den Rädelsführer, oder die ganze Klasse werde vom Abitur ausgeschlossen. Der Verfolgte wird zum Verfolger. Das geschieht nicht selten.

Im Film spielt Burghart Klaußner diesen Mann auf eine sehr diabolische Weise, aber an einer Stelle der beklemmenden Szenen wird das Publikum trotzdem lachen, nämlich als Köhlers alter ego schließlich antwortet, sein Vater sei Oberförster gewesen, und Lange ruft: „Das waren die Schlimmsten!“ Es klingt nur noch lächerlich, das, was daran soziale Erfahrung war, ist nicht mehr nachvollziehbar.

Kinder einer neuen Zeit

Köhler kommentiert: „Alle Diktaturen brauchen einen Rädelsführer!“ Aber ist das die Erklärung? Kommunisten, die ihre Genossen verrieten, wurden absolut nicht geschätzt. In dem Punkt waren sie Musketiere. Nicht zuletzt an ihrer strukturellen Unfähigkeit zum Verrat erwies sich die höhere Moral. Es war wohl eher so: Indem der Volksbildungsminister einen Verräter forderte, drückte er seine Verachtung aus. Diese Zöglinge der Vergangenheit ihrer Eltern und des Glanzes des Westens würden sich schon retten durch die Preisgabe eines einzelnen. Die Mitläufer des Lebens machen das immer so: Sie gehen die einfachsten, also meist die krummsten, die verächtlichsten Wege.

Aber nun geschah das, was der Minister nicht für möglich gehalten hatte. Die zwölfte Klasse der Kurt-Steffelbauer-Oberschule verriet ihren „Anführer“ nicht. Das macht ihre Geschichte kinotauglich, sichert ihr das Interesse über die Zeiten hinweg, und hier bleibt der Film ganz nah an den historischen Tatsachen.

Nicht hinter dem Mond zu leben, gehört zu den elementaren Grundbedürfnissen aller Menschen, die hinterm Mond leben. Daran wird sich in vierzig Jahren DDR nie etwas ändern. Jeder hörte RIAS. Die meisten hörten den RIAS zu Hause; Karsten W. Köhler und seine Freunde im Wohnheim. Das war etwas riskanter. „Wir waren zu viert im Zimmer. Einer stand immer davor und hielt Wache.“

Es ist nicht so, dass der Minister in seinen Vermutungen gänzlich unrecht gehabt hätte. Es war in der Tat der RIAS, der die Bewohner der „Zone“ aufgerufen hatte, ihre Solidarität mit aufständischen Ungarn durch Kerzen im Fenster oder durch Schweigeminuten zu demonstrieren. Und der diese Nachricht seiner Klasse überbrachte, war der Playboy der Schule, der vom Geld seines Vaters im Westen lebte, was ihm ein lebendiges Gefühl der Omnipotenz verlieh. Karsten W. Köhler und Dietrich Garstka haben ihn nicht mehr wiedergefunden. Als Köhler ihn das letzte Mal sah, arbeitete der Studienabbrecher als Bierfahrer einer Dortmunder Brauerei. Aber es war der Lehrerssohn Dietrich Garstka, der kurz vor der Geschichtsstunde spontan sagte: „Das machen wir auch!“

Dieses „Wir“ war klassendemokratisch nicht legitimiert, denn der Beschluss hatte es vor Unterrichtsbeginn nicht mehr bis in die hinteren Reihen geschafft. Aber dass die klügsten Schüler der Klasse keine Antwort auf die immer dümmer werdenden Fragen des Geschichtslehrers gaben, ließ auch sie prophylaktisch verstummen.

Köhler, Garstka und seine Klassenkameraden gehörten zum ersten Jahrgang, der im Frieden zur Schule kam, im September 1945. Kinder einer neuen Zeit sollten sie werden, Sozialisten also. Aber sie wurden etwas anderes, viel näher Liegendes, Wichtigeres: Sie wurden Zivilisten.

Es war der Hausmeister

Manche, wie der Volksbildungsminister, werden vom eigenen Leben widerlegt, egal was sie tun. Andere werden vom Leben bestätigt, egal was sie tun. Wie Köhler. Das ist die Ungerechtigkeit der Existenz und die der Generationen gegeneinander. Fritz Langes Leben war der Ausnahmezustand gewesen, das ihre aber sollte der Frieden sein.

Und trotzdem: Die bitterste Ironie des Kalten Krieges war nicht zuletzt, dass die Sieger von 1933 noch einmal über ihre Opfer von damals lachen durften. Das nicht wahrnehmen, nicht denken zu können, ist die geistige Schlichtheit derer, die noch immer nur eins erkennen: Die Freiheit triumphierte über die Diktatur, als Karsten W. Köhler und Dietrich Garstka in den Westen gingen.

Köhler verließ am ersten Weihnachtstag seine kranke Mutter und seine Schwester. Sie hatten vor Tränen vergessen, die Kerzen anzuzünden. Auch die meisten anderen flohen über Weihnachten nach West-Berlin. Sie waren 15 Jungen und 4 Mädchen gewesen. Drei Mädchen blieben. Sie sagten, sie könnten ihre Familien nicht allein lassen.

Ihr Abitur machten die Neubeginner, plötzlich berühmt, zusammen in Bad Bensheim. Karsten W. Köhler wurde später Gebietsleiter eines Pharmakonzerns, Dietrich Garstka wurde Lehrer.

Weder der Geschichtslehrer noch der junge kommunistische Schuldirektor (im Film großartig gespielt von Florian Lukas) haben die zwölfte Klasse verraten. Es war der Hausmeister der Schule, der mit dem Volksbildungsminister im selben Nazi-Gefängnis saß.

Der Tod des ungarischen Fußballidols Ferenc Puskás war eine Falschmeldung des RIAS.

Und doch: Der eigentlicher Erzieher dieser zwölften Klasse waren nicht Eltern oder Lehrer, es war eine Glocke. Auf ihren Ton folgte an jedem Abend im RIAS der Satz: „Ich glaube an die Unantastbarkeit und die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde.“ Das war das Manifest ihrer Jugend. „Den Klang der Glocke vom Schöneberger Rathaus würde ich unter Tausenden erkennen“, sagt Karsten W. Köhler.

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