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Vernachlässigt. Psychische Probleme werden im Alter oft nicht erkannt und behandelt. Die Betroffenen leiden im Stillen. 35 Prozent aller Selbstmorde werden von Menschen über 65 verübt.

© Getty Images/iStockphoto

Depressionen im Alter: Aus ersten Malen werden immer mehr letzte Male

Im Alter schlägt das Leben brutal zu, doch Depressionen werden oft nicht erkannt. Bei Hanna fing es mit Rückenschmerzen an.

Als ihre letzte Liebe ging, ertrug sie das kaum. Hanna war 62, als er von der anderen Frau erzählte. Sie überstand es, irgendwie. Ihren Vater musste sie kurz nach dem Mauerfall beerdigen, später die Mutter, ihre kleine Schwester. Sie kennt Traurigkeit gut. Aber nie war die schlimmer als heute.

Mit ihr wird Hanna jeden Morgen wach. Es braucht keinen Grund. Ihre beste Freundin versteht das nicht: Ach, Hanna, du hast es doch gut! Hast so eine schöne Wohnung! Und sieh mal, wie die Sonne scheint.

Würden wolkenlose Tage helfen, wäre Hanna wohl kaum hier. In einer psychiatrischen Tagesklinik für alte Menschen.

In der Debatte über Depressionen geht es oft um die Jungen, die den Druck der vielen Möglichkeiten nicht aushalten. Um eine kranke Arbeitswelt. Eine kranke Leistungsgesellschaft. Die Menschen, die hier in diesem heizungswarmen Raum sitzen, werden oft vergessen. Menschen wie Hanna.

Berlin-Steglitz, Charité am Hindenburgdamm, erster Stock. Es ist fast 14 Uhr an einem Tag im Oktober, Zeit für die nächste Gruppentherapie. Zehn Frauen und Männer sitzen in orangefarbenen Ledersesseln, die einen Halbkreis bilden. In der Mitte Hanna. Einen Monat wird sie noch bleiben. Nicht wissend, wie schlecht es ihr am Ende gehen wird.

Manche haben sich eine Decke über die Beine gelegt, dösen. Andere schauen mit ernster Miene ins Leere. Eine Depression kann alle guten Gefühle ausradieren, das Herz taub machen. Nichts macht Sinn. Selbst schlafen wird anstrengend. Weil die Patienten darüber sprechen, über Verluste und Familienzerwürfnisse, möchten sie öffentlich nicht zu erkennen sein. Hanna nennt nur ihren Vornamen.

Vor der Gruppe steht eine Psychotherapeutin am Whiteboard. Sie zeichnet ein Dreieck. „Gedanken, Gefühle, Aktivitäten“ steht an den Ecken. „Alle drei Punkte bedingen sich gegenseitig“, erklärt sie. Wer über Negatives nachdenkt, spürt Trübsinn. Wer keine gute Laune heucheln will, geht ungern vor die Tür, grübelt wahrscheinlich weiter. „Was sind Ihre immer gleichen Gedanken?“, fragt sie. „Wie stoppen Sie die?"

Kinder und Enkel denken: „Ach, Oma jammert wieder“

Eine Patientin sagt, sie schreibe immer auf, was ihr durch den Kopf gehe. Ihre Seiten füllten Schuhkartons. Musik hören. Kreuzworträtsel lösen. Fernsehen. Jeder behilft sich anders. Hanna greift nach dem Roman von Elena Ferrante auf ihrem Nachttisch. Sie sieht aus als sei sie die Jüngste: das Haar braun mit blonden Strähnchen, Jeans und Turnschuhe, Rouge auf den Wangen. Tatsächlich ist Hanna 82. Dass sie anders wirkt, ihr Geist jünger ist als die Knochen, hat sie hergebracht.

Mehr als 700.000 Menschen sind in Berlin 65 und älter. In Deutschland sind es fast 18 Millionen – und es werden mehr. Nach der Demenz sind Depressionen die häufigste psychische Erkrankung im Alter. Wie viele Menschen betroffen sind, ist jedoch schwer zu sagen. Oliver Peters leitet die psychiatrische Tagesklinik, eine der seltenen für alte Menschen. Er schätzt: „Geht man in ein Seniorenheim, könnte es bis zu einem Drittel sein.“

Schwindel, fehlender Antrieb, Vergesslichkeit. Viele Symptome von Hanna und den anderen ähneln gewöhnlichen Alterssymptomen. Hausärzte erkennen die Depression bei Älteren deswegen spät oder gar nicht. Auch Kinder und Enkel nehmen die Klagen nicht ernst. Denken: „Ach, Oma jammert wieder.“

Was bedeutet es aber, wenn ein großer Teil der Gesellschaft mit psychischen Problemen nicht behandelt und vernachlässigt wird? Die Betroffenen vereinsamen, leiden im Stillen. Oder werden dessen zu müde. „Das Suizidrisiko ist im Alter erschreckend hoch“, sagt Peters. Laut den Daten des Statistischen Bundesamts werden 35 Prozent aller Selbstmorde von Menschen über 65 verübt. Mindestens, denn verdeckte Suizide – wie Medikamente oder Nahrung verweigern – sind nicht miteingerechnet.

Bei Hanna fing es im Frühjahr mit Rückenschmerzen an, die sie nachts nicht mehr ruhen ließen. Sie lag wach, dachte über ihr Alter nach. Erschöpft sagte sie am nächsten Tag Termine ab – und blieb in ihrer Wohnung im sechsten Stock allein. Nur noch das Radio nebenan hörend.

Was mache ich nur mit meinem Mann? Was ohne ihn?

Die Gene können an einer Depression Schuld sein. Botenstoffe im Gehirn wie Serotonin und Noradrenalin geraten bei manchen in ein Ungleichgewicht. Oder das Leben ist der Auslöser, mit seinem Schmerz. Im Alter schlägt es brutal zu mit Gebrechlichkeit oder Krankheiten ohne Hoffnung auf Heilung. Mit Abschieden: Eltern sterben, Freunde, Ehepartner. Aus ersten Malen werden immer mehr letzte Male. Die Welt wird kleiner, leerer, stiller.

Ist es da nicht normal, traurig zu sein?

„Traurig sein ist erst mal eine normale Reaktion auf ein Ereignis, so wie sich freuen auch“, sagt Oliver Peters. „Depressiv sein geht aber deutlich darüber hinaus.“ Das sei nicht nur eine Stimmung. „Der Betroffene hat Angst, ist kraftlos, kann vieles nicht mehr, was er sonst gerne tat.“ Hanna vermisst den Schlaf; die ehrenamtliche Arbeit im Gemeindebüro einmal in der Woche, die sie sich nicht mehr zutraut; ihre Spaziergänge.

Eine Frau in ihrer Therapiegruppe heißt Gisela. Ihr weißes Haar trägt sie kurz geschnitten. Gisela sagt, sie spürte die ersten Anzeichen im Februar, als ihr Mann ins Krankenhaus musste. Er war gestürzt – Beckenfraktur. „Die Gedanken spazierten ständig weg.“ Das allein habe ihr schon zu schaffen gemacht, aber dann hatte ihr Mann einen Vorsorgetermin beim Urologen. Der sagte: Die Metastasen vom Prostatakrebs haben gestreut. Gisela ist 82, ihr Mann 84. Sie sind mehr Jahre miteinander verheiratet als dass sie es nicht sind. Geschwister haben sie nicht, keine gemeinsamen Kinder. „Der Freundeskreis ist mit den Jahren geschrumpft“, sagt Gisela. Doch sie hatten einander.

Als sie einen Krankentransport organisieren muss, weint sie plötzlich beim Telefonat mit der Krankenkasse. „Ich habe gelernt zu funktionieren“, sagt sie. „Ich wusste, dass ich mich um ihn kümmern muss, aber konnte auf einmal nicht mehr.“ Was mache ich nur mit meinem Mann? Was mache ich ohne ihn?

Gisela traute sich nicht mehr raus auf die Straße. Die Welt wirkte plötzlich zu bedrohlich. Dann reichte ein Blick zum Wandschrank, und sie begann zu schluchzen. Drei Meter ist der breit, darin Kristallgläser für Likör, Schalen, die entstaubt werden müssten. Kann sie nicht. Schafft sie nicht. Nach der letzten Panikattacke landete sie in der Notaufnahme der Charité. Von dort schickte man sie her.

Seit 2008 bleibt das Telefon morgens stumm

Hier in der Klinik sprechen die Alten mit Therapeuten, lernen, ihre dunklen Gedanken beim autogenen Training loszulassen, hören einander zu. Hanna berichtet, wie sie immer gearbeitet habe, 42 Jahre lang. Weil sie so gut organisieren konnte, wurde sie Mitarbeiterin der Geschäftsleitung. Nach Berlin zog sie, um ins Theater zu gehen, ins Ballett, zu Konzerten. Als jüngere Frau reiste sie nach Afrika, Asien, Amerika, Australien. Viel sehen wollte sie, viel erleben. Jetzt spürt sie nur noch, wie alles weniger wird.

Ihre letzte Fernreise ist 20 Jahre her. Mit der Gymnastik hat sie vergangenes Jahr aufgehört. Wenn sie geht, in kleinsten Trippelschritten, wird die Arthrose an Füßen und Knien sichtbar. Nach dem Sport kündigte Hanna die BVG-Jahreskarte. Dann das Abo im Theaterverein. Nach 50 Jahren. Sie schafft es nur noch zweimal im Monat in den Supermarkt. Als nächstes, glaubt sie, wird sie wohl nicht mehr selber kochen können. Den Flyer „Essen auf Rädern“ hat sie schon auf dem Tisch liegen.

Ihre Eltern waren beide depressiv. Die Mutter früher, der Vater spät wie sie. Vielleicht hat sie die Krankheit geerbt, überlegt Hanna. Aber es ist auch das zermürbende Altwerden, über das sie in der Klinik immer wieder spricht. Ihr Alleinsein. „Ich werde einmal am Tag schon gerne ein Wort los“, sagt Hanna. Nachdem ihr Partner vor 20 Jahren ging, rief ihre Mutter jeden Morgen kurz an. Seit 2008 bleibt das Telefon stumm.

Nicht nur Hanna ergeht es so. Ein Mann erzählt in der Gruppentherapie: Er hat im Mai seine Frau verloren. Die Tochter kümmert sich, aber sein Sohn? Ein einziges Mal waren sie essen und neulich hat er angerufen. Aber nicht, um nach seinem Vater zu fragen. Sondern weil er Geld brauchte für den Ausbau seiner Terrasse. So eine Enttäuschung!

Die Frau, deren Aufzeichnungen Schuhkartons füllen, spricht auch oft von ihrer Familie. Die Tochter will sie nicht sehen, genau so wie die Enkelin. Die ist vor Kurzem 30 geworden, die Großmutter war nicht eingeladen. Aber sie brauche doch den Kontakt! Warum sie gemieden wird, erzählt die Frau nicht. „Man kann Fehler, die man gemacht hat, nicht auslöschen.“

Einsamkeit ist zum politischen Thema geworden

Das Thema Einsamkeit hat es inzwischen auf die politische Agenda geschafft. Die deutsche Regierung spricht im Koalitionsvertrag vage von einer Strategie. In Berlin forderte die CDU im Oktober einen „Senatsbeauftragten gegen Einsamkeit“, der jedoch abgelehnt worden ist. In jedem zweiten Berliner Haushalt lebe nur eine Person, begründete die Partei den Vorstoß. Das Bedürfnis nach Nähe inmitten der Großstadt sei riesig. Aus Sicht der CDU sei sogar die Einrichtung einer eigenständigen Senatsverwaltung denkbar. Nach dem Vorbild Großbritanniens, wo es ein Ministerium für Einsamkeit gibt, das vor allem Senioren helfen soll.

Hanna hat keine Kinder, keine leibliche Familie mehr. Sie schuf sich eine mit Freundinnen. Mit ihnen schaut sie sich Filme im Kino an. Neulich war sie mit einer kleinen Gruppe in der Königlichen Gartenakademie, saß in der Sonne, ging danach auf dem Friedhof „meinen Liebsten Hallo sagen“. Abends schlief Hanna glücklich ein. Doch dann kam der nächste Morgen.

Nichts genügt. Hanna hofft, dass die Therapie und Antidepressiva sie wieder zu der Frau machen, die sie einmal war, energisch und heiter. Wegen anderer Erkrankungen wie einem zu hohen Blutdruck dürfen die Patienten in der Tagesklinik am Hindenburgdamm nicht zu viele zusätzliche Pillen nehmen. Weil die Niere Stoffe im Alter schlechter abbaut, sind geringere Dosierungen notwendig. Auch die Therapie ist anders als bei Jüngeren. Statt des tiefenpsychologischen Ansatzes wird meist eine Verhaltenstherapie gewählt. Das bedeutet: Es geht eher darum, mit seinen Problemen umgehen zu können als ihren Ursprung zu begreifen. Jetzt noch einmal im ganzen Leben herumwühlen? Die Kindheit durchgehen? Wer weiß, was man findet. Traumata können hochkommen. Bilder, die man gewollt vergessen hat.

Die meisten Patienten bleiben vier bis sechs Wochen in der Tagesklinik, manchmal zehn, manchmal noch länger. „Ein Knochenbruch verheilt in 14 Tagen“, sagt Oliver Peters. „Die Seele braucht länger.“ Hanna soll nächste Woche entlassen werden. Sie fühlt sich aber immer noch betrübt und vernebelt. Als sei sie nie ganz da, so erklärt sie das Gefühl. Ob sie ohne die Tagesklinik mit den Gesprächen und Entspannungsübungen zurechtkommt? Sie zweifelt. Fürchtet sich. Es sei schön, jeden Tag morgens abgeholt und nachmittags nach Hause gebracht werden. Man hat etwas Sinnvolles zu tun, der Tag bekommt Struktur.

Der Oktober weicht dem November. In Hannas Wohnzimmer stehen helle Möbel, damit das Zimmer freundlich wirkt, sagt sie. Bilder von Blumen hängen an den Wänden. Schaut sie im Bad morgens Richtung Spiegel, steht auf einem Zettel daneben: „Die Lebensspanne ist dieselbe, ob man sie lachend oder weinend verbringt.“ Hat sie wieder eine Wahl?

Nun hat Hanna einen Gehstock. Auch das noch

Bislang hat die Traurigkeit am Morgen sie verschont. Hanna hat ein neues Buch angefangen, von Heide Sommer, Sekretärin großer Männer wie Helmut Schmidt. Sie kümmert sich um Arzttermine, heftet Kontoauszüge ab, hält Ordnung, nimmt ihre Tabletten. Morgens sieben, abends vier, für den Blutdruck, Antidepressiva, etwas gegen die Schmerzen und fürs bessere Einschlafen. Sogar im Gemeindebüro arbeitet Hanna wieder einmal in der Woche. Da geht es ihr gut.

„Oh, nur einmal hat eine Frau angerufen. Sie war Witwe geworden, hatte niemanden mehr“, erzählt Hanna. „Sie wollte nicht mehr leben. Furchtbar.“ Hanna redete der Fremden gut zu. Gab dem Besuchsdienst ihre Adresse, um das Schlimmste zu verhindern. Auch andere Nachrichten stimmen Hanna melancholisch. Im nächsten Sommer findet ein Klassentreffen statt. 58 junge Menschen verließen damals gemeinsam die Schule. Übrig sind zwölf.

„Es war zwar schön, was die Therapeuten immer gesagt haben“, sagt Hanna. Aber positiv denken gelingt nicht immer. Vor allem jetzt nicht: Sie möchte ein Foto aus dem Schrank holen, von ihrem Sekretärinnenzirkel, schlurft vier, fünf Meter über den Teppich, bis sie sich plötzlich auf einen Stuhl fallen lässt. „Dieser Schwindel! Was ist das denn schon wieder?“, fragt Hanna. „Wenn man alt ist, hat man aber auch wirklich immer was!“

Geht der Schwindel wieder weg, den sie seit Tagen hat? Kann sie morgen ins Büro? Oder wird sie wieder in ihrer Wohnung bleiben müssen? Da sitzt Hanna wieder mit ihrem vertrauten Kummer. Stützt den Kopf in ihre Hände und sagt laut: „Ach Mensch!“

Die Hausärztin kann ihr den Schwindel nicht erklären. Dafür gab sie Hanna einen Gehstock. Auch das noch. „Sie konnte nicht mehr ansehen, wie ich so da lang tappe“, sagt Hanna. Die Klinik hat nicht alles wieder gut gemacht, aber Hanna hat gelernt: Sie kann das Altwerden nicht ändern, nur akzeptieren. Sie will es versuchen.

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