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Chancen statt Vorlieben. Es wetten jetzt Leute, die sich vorher nicht für Politik interessiert haben.

© dpa/Kathrin Kasper

„Der Brexit ist einzigartig“: Warum die Briten jetzt sogar auf Politik wetten

Wer folgt Theresa May? Wann kommt der Brexit? Buchmacher Matthew Shaddick legt dafür die Quoten fest – und lernt dabei die Seele des Landes kennen.

Warum nur gerät den Engländern alles zur Wette? Die Hutfarbe der Queen, die Namen ihrer Urenkel, Expeditionen zum Südpol, Segelrennen und jetzt auch noch der Brexit. Die Zukunft des ganzen Landes. Ist das alles nur ein Spiel?

Wetten scheinen ja so lange ein recht alberner Zeitvertreib, bis der Einsatz existenziell wird. Wenn er nur hoch genug ist, wird jede Wette relevant.

In einem wie angeklebt wirkenden riesigen Glaswürfel am Stratford Centre, Londons größter Shoppingmall, sitzt im achten Stock Matthew Shaddick, zuständig für politische Wetten beim größten Wettanbieter des Landes, CoralLadbrokes. Ausblick auf West-London und Einblick in die Seele des Spielers.

Die Wette entpuppt sich als Fluch - und Daseinsform

In Großbritannien, dem euphorischsten Wettmarkt der EU, hat es eine Weile gedauert, bis den Einwohnern dämmerte, dass sie selbst der Einsatz sind. Dass sie und ihre gesamte Lebensgrundlage riskiert wurden für ein Machtspiel der Politiker. Für David Cameron, der seine Partei, die Tories, mit einem Referendum einen wollte. Und 2016 darauf wettete, dass die Briten schon „Remain“ wählen würden. Nun entpuppt sich die Wette als Fluch und Daseinsform der Engländer.

Das Referendum 2016 war die größte politische Wette in der Geschichte des Landes, sagt Shaddick, der hier seit zehn Jahren seinen Job macht. Schon das Schottland-Referendum war ein Erfolg gewesen. Dann setzte die Trump-Wahl in Amerika noch eines drauf. Sowohl Donald Trump als US-Präsident als auch Jeremy Corbyn als Labour-Vorsitzender: absolute Außenseitersiege. Shaddick ist begeistert.

Farage gewann 2500 Pfund mit dem Brexit

„Im Fußball ist alles, was passieren könnte, schon einmal passiert“, sagt er. „Aber der Brexit ist einzigartig.“ Im April ist das ursprüngliche EU-Austrittsdatum vom 29. März geräuschlos verstrichen. Es wetten jetzt Leute, sagt er, die sich vorher nicht für Politik interessiert haben. Andersherum wetten auch Politiker, die früher kein Wettbüro betreten hätten: Der Ukip-Gründer Nigel Farage ließ sich mit einem Wettschein vor einem Büro fotografieren: 1000 Pfund auf den Brexit. Farage hat 2500 Pfund rausbekommen.

Im Vergleich zu Pferde- oder Fußballwetten sind politische Wetten noch immer eine Nische, aber jetzt machen diese ungefähr ein Prozent des Umsatzes aus, vergleichbar mit einer kleinen Sportart wie Boxen. „Leute, die vorher gar nicht an Politik interessiert waren, hatten plötzlich ganz starke Meinungen.“ Der Populismus brachte die politische Wette als Genre ins Geschäft. Ladbrokes ist der erste Anbieter, der einen Vollzeitangestellten für politische Wetten beschäftigt. Wetten sind abzuschließen in 3500 Ladenlokalen oder online Tag und Nacht.

Matthew Shaddick hält Nachrichten für überbewertet. Er ignoriert sie.
Matthew Shaddick hält Nachrichten für überbewertet. Er ignoriert sie.

© Deike Diening

„Die Leute denken, das Geschäft lebe vom Fachwissen, von Insider-Informationen. Aber es geht mehr um Statistik und Psychologie.“ Es gibt sogar Menschen, sagt Shaddick, die kompensieren mit einer Wette, dass sie nicht bekommen werden, was sie wollen: Sie wetten entgegen ihrer Wünsche und genießen dann wenigstens eine finanzielle Entschädigung.

Eine Wette verschiebt den Fokus von dem, was man sich wünscht, auf das, was man glaubt, das tatsächlich passiert. Deshalb seien die Wahrscheinlichkeiten der Buchmacher oft genauer als die der Wahlumfragen. „Chancen statt Vorlieben“, sagt Shaddick.

Darin steckt die englische Kühle, ihre Art, die Welt zu betrachten. Und so ist eine Wette einzugehen eine Form, das Geschehen von der eigenen Person zu lösen.

Wie kann man so wenig lernfähig sein?

Auch die Regierungschefin Theresa May hat ihre persönlichen Vorlieben ihren politischen Chancen geopfert, als sie, die ehemalige „Remainerin“, sich an die Spitze der Regierung wählen ließ, um von nun an den Brexit durchzubringen. Um dann, wie ein schlechter Spieler, stur an den eigenen Sieg zu glauben, bis alles verspielt ist.

Beispiellos, heißt es, sei das Verhalten Mays. Wie könne man so wenig lernfähig sein? Dabei erinnert es an einen Nationalhelden, den glücklosen Antarktis-Fahrer Robert Falcon Scott, der 1912 das Rennen gegen den Norweger Roald Amundsen zum Südpol verlor. Scott hatte das gleiche Syndrom: die sture Behauptung der eigenen Überlegenheit bei gleichzeitiger Ignoranz der Umgebung.

Er fand Tierfelle unzivilisiert und Hunde zu vulgär

Während Roald Amundsen für seine Expedition zwei Jahre bei den Eskimos lernte, mit Schlittenhunden umzugehen und sich in Tierfelle zu kleiden, um warm zu bleiben, bestand Scott auf die englische Art. Er fand Tierfelle unzivilisiert und Hunde zu vulgär. Stattdessen brachte er Motorschlitten in die Antarktis, von denen einer schon beim Umheben auf das Schiff ins Wasser fiel, und Ponys. Die Ponys sind ihm erfroren.

Das ist so, wie die Brexiteers jetzt zwei Jahre lang versucht haben, das tote Pferd des Empire wieder zu satteln.

Engländer wetten auf alles Mögliche. Erst am Mittwoch gewann eine Frau 18.000 Pfund, weil sie wohl als Einzige 120 Pfund auf den Namen „Archie“ für das Baby von Prinz Harry und Meghan gesetzt hatte. Die Engländer sind die Wettkönige Europas, Großbritannien der größte Wettmarkt der EU, laut Gambling Commission mit 8406 Wettläden und fast 15 Milliarden Pfund Jahresumsatz.

Bei Pferderennen, wie hier in Ascot, gehören Wetten in England selbstverständlich dazu.
Bei Pferderennen, wie hier in Ascot, gehören Wetten in England selbstverständlich dazu.

© Daniel Leal-Olivas/AFP

Matthew Shaddick sagt, die Gewöhnung beginnt früh. Als Kind ist er mit seinem Vater zu Windhundrennen gegangen, später hat er auf Pferde gesetzt. „Ich glaube, jeder, der im Wett-Business arbeitet, hatte schon immer selbst persönlich mit Wetten zu tun.“ Das ist Erziehung. Matthew Shaddick hat Geschichte studiert, jetzt ist er 49 Jahre alt und blickt aus seinem Einzelbüro auf das Heer derjenigen Angestellten, die nebenan die Sportwetten beaufsichtigen. Dort werden die Quoten vollautomatisch, ohne die Mitwirkung eines Menschen erstellt.

Er selbst muss die Quoten händisch festlegen. Referenden sind einfach, da gibt es nur zwei Möglichkeiten. Komplizierter sind Europawahlen, an denen Großbritannien ja ironischerweise doch noch teilnimmt, weil die Länder an verschiedenen Tagen wählen und viele Parteien beteiligt sind. Shaddick erwartet das größte Interesse jemals an Europawahlen und hält es für möglich, dass die eigens gegründete Brexit-Partei die meisten Stimmen erhält.

Wetten in autokratischen Staaten? Finanziell zu unsicher

Für politische Wetten gibt es einige Regeln: Ladbrokes bietet keine Wetten in Staaten an, die nicht im weitesten Sinne einer westlichen Demokratie entsprechen. Schon weil in Staaten von Autokraten Wahlergebnisse regelmäßig angefochten werden. Das ist finanziell zu unsicher. „Ich habe gelernt, die Nachrichten zu ignorieren“, sagt Shaddick außerdem. Kurzfristige Entwicklungen würden überbewertet. Wie oft, sagt Shaddick, haben die Leute gesagt, nach der letzten Enthüllung über Trump sei es nun aber wirklich unmöglich, dass so einer Präsident wird! Auf lange Sicht war der Effekt verschwindend. Also noch ein Grund mehr, sich nicht beirren zu lassen – es zahlt sich aus.

Bewunderung erhält man auf der Insel nicht für die Abwendung einer aussichtslosen Lage. Sondern für ihre lakonische Kommentierung. Der Mensch: geschüttelt, aber ungerührt.

"I am just going outside and may be some time"

Der geschlagene Robert Scott war auf dem Rückweg vom Südpol, einer seiner Männer war zuvor in eine Eisspalte gefallen und verletzt, sie alle waren unterernährt und geschwächt, da verließ sein Mitkämpfer Lawrence Oates, um den anderen nicht länger zur Last zu fallen, im Schneesturm das Zelt mit den Worten: „I am just going outside and may be some time.“ Ich geh nur mal raus, es könnte eine Weile dauern.

Für dieses lässige Zitat über sein eigenes Sterben wird Oates bis heute von den Briten gefeiert. Nur dieses Zitates wegen kennt man noch seinen Namen. „Das war die Tat eines mutigen Mannes und eines englischen Gentleman“, notierte Scott euphorisch in seinem Tagebuch, bevor er selbst erfror.

Womöglich werden die Engländer gerade Opfer ihrer größten Tugenden. Ausgerechnet ihre bewunderte Eigenschaft, unbewegt zu bleiben, hat sie davon abgehalten, im Brexit rechtzeitig aktiv zu werden. Kann es zu viel „keep calm and carry on“ geben?

Theresa May spricht vom Brexit längst so, als gehe es um Sport.
Theresa May spricht vom Brexit längst so, als gehe es um Sport.

© Roger Harris/Reuters

Die jungen Briten sind 2016 gar nicht erst zur Abstimmung gegangen, so cool waren sie geblieben. Zu lange waren sie fasziniert von der unterhaltsamen Spielernatur eines Boris Johnson, bevor sie merkten, dass so einer ihre Zukunft verzocken kann. Zurzeit bietet Ladbrokes für Johnson als nächsten Parteivorsitzenden trotz allem die Favoriten-Quote von 3 zu 1.

Längst hat Theresa May für den Brexit die Sprache des sportlichen Wettbewerbs übernommen. „The clock is ticking“, sagt sie, als hätte sie nicht selbst ohne Not die Stoppuhr in Gang gesetzt, als sie ohne Vorbereitung Artikel 50 auslöste und damit den Brexit in einen Wettlauf gegen die Zeit verwandelte.

Sie tut so, als sei ein Überraschungssieg möglich

Nun ist es möglich, den Brexit als sportliches Rennen zu lesen, wie in „In 80 Tagen um die Welt“, als wohne auch sie selbst nur als Zuschauerin bei. Als müsse man den Brexit „sportlich nehmen“, statt ihn im Detail Stück für Stück in Verhandlungen voranzutreiben. Dabei tut sie so, als sei jederzeit ein Überraschungssieg möglich.

Am Mittwoch, nachdem Liverpool in der Champions League grandios 4:0 gegen Barcelona gewonnen hatte, beschwor Theresa May im Parlament das Heroische. „Das zeigt, dass wenn jeder glaubt, es sei vorbei, deine europäischen Gegner dich geschlagen haben, die Uhr läuft, es Zeit sei, die Niederlage einzugestehen, dass wir dann doch noch einen Sieg erringen können, wenn alle zusammenarbeiten.“ Das klang wie aus Scotts Tagebuch.

"Oooooorder!"

Im Sommer werde John Bercow abgelöst, sagt Matthew Shaddick in seinem gläsernen Büro. Bercow, der schillernde Sprecher des Unterhauses. Weil er in seiner Funktion den politischen Prozess gar nicht beeinflussen darf, blieb ihm nichts anderes übrig, als ihm Stil zu verleihen. Mehr konnte er nicht tun. Also schickte er seine legendären, lang anhaltenden, nebelhornartigen „Ooooooorder“-Rufe in das zerstrittene Parlament, die im Dunst der Debatte ein Mindestmaß an Orientierung geben sollten, ebenso wie seine schreienden Krawatten.

Es gebe eine alte Tradition, sagt Shaddick. Demnach müsse der frisch gewählte Unterhaussprecher nach der Wahl so tun, als wolle er den Job gar nicht, und sich mit Händen und Füßen sträuben. Die Abgeordneten müssen sie oder ihn dann mit leiser Gewalt auf den Sprecherstuhl zerren. Selbstverständlich bietet Ladbrokes auf diese Nachfolge Quoten an.

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