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In Ruinen. Robert Tutus zwischen den Überresten der christlichen Altstadt von Idil. Im Hintergrund zu sehen: die neue Kurdenstadt.

© Susanne Güsten

Der letzte Christ im anatolischen Idil: In gutem Glauben

Sein Vater war beliebt, erfolgreich – und Christ. Deshalb wurde er ermordet. Dann übernahmen die Kurden die anatolische Stadt Idil. Jetzt kämpft Robert Tutus um das Vermächtnis seiner Familie.

Wenn Robert Tutus in Idil unterwegs ist, dann dauert das seine Zeit. Auf der staubigen Marktstraße der kurdischen Kleinstadt in Südostanatolien kommt der Frankfurter nur langsam voran. Ständig wird er angehalten: von Würdenträgern in weißen Turbanen, die ihn auf beide Wangen küssen und von alten Zeiten erzählen wollen. Von Basarhändlern in Lederjacken, die ihm einen Hocker zurechtrücken und den Laufburschen nach Tee schicken. Von Bittstellern, die ihm mit gesenktem Blick Worte ins Ohr murmeln. Ein Behördengang mit Tutus kann sich stundenlang hinziehen, weil die Beamten es sich nicht nehmen lassen, ihn zum Tee ins Hinterzimmer zu bitten. Und im besten Lokal der Stadt – das anderswo eher als Imbissstube gelten würde – kommt der türkische Militärkommandant an seinen Tisch, um ihn mit Handschlag zu begrüßen.

Der Respekt gelte nicht ihm selbst, sondern seinem verstorbenen Vater, wehrt der stämmige Geschäftsmann ab, während er sich über seine Lammrippchen hermacht. „Jeder in dieser Stadt weiß von meinem Vater, er war ein hoch angesehener Mann.“ Sükrü Tutus war mehr als ein Jahrzehnt Bürgermeister in der Stadt und der reichste Mann in der Region. Er besaß ausgedehnte Ländereien, außerdem Autohandlungen, Tankstellen, Fabriken, Maschinenparks und Läden – „einfach alles“, sagt Robert Tutus. Als die Amerikaner 1991 von hier aus den angrenzenden Irak angriffen, baute Sükrü Tutus eine Brotfabrik und belieferte die Soldaten. „30 000 Dollar im Monat sprangen dabei heraus, und das überschüssige Brot hat er an die Armen verteilt – wegen solcher Gesten war er überall beliebt“, sagt sein Sohn.

Doch dann wurde Sükrü Tutus erschossen – weil er Christ war.

Sein Tod war eine Zäsur

Sein Tod am 17. Juni 1994 war eine Zäsur in der Geschichte des Städtchens Idil. Sie markierte das Ende der christlichen Präsenz in der Stadt, in der noch 1964, so ist es verbrieft, kein einziger der damals 3500 Einwohner Moslem war. Auch Sükrüs Sohn, Robert Tutus, suchte Asyl in Deutschland. Doch schon 1999 kehrte er zurück, um den geplünderten Besitz seines Vaters einzusammeln. 15 Jahre später ist der 44-Jährige immer noch damit beschäftigt. Es ist ein mitunter gefährliches Unterfangen. Erst am vergangenen Sonntag flogen wieder Steine und Brandbomben in Robert Tutus’ Büro. Es war der dritte Anschlag in diesem Monat.

Sükrü Tutus würde seine Stadt wohl nicht wiedererkennen. Wo sich heute hupende Autos und Pferdekarren zwischen Wohnblocks und Beton-Moscheen drängen, lagen vor zwanzig Jahren Felder, Weinberge, Obstgärten. Auf 25 000 Einwohner ist die Stadt gewachsen.

Um zu seinem Elternhaus in der Altstadt zu gelangen, muss Robert Tutus in ein Ruinenfeld hinabklettern. So laut und quirlig es oben in der Neustadt zugeht, so still ist es hier unten in der Altstadt, wo die halb eingestürzten Häuser zum Himmel hin aufklaffen und die Mauern langsam in sich zusammensacken. Schwer zu glauben, dass dies vor kaum mehr als 20 Jahren noch eine lebendige christliche Stadt mit einer stolzen Vergangenheit war. Von dieser Geschichte zeugt nur noch die Marienkirche, deren Grundstein im ersten Jahrhundert nach Christus gelegt worden sein soll.

Die bewegte Stadtgeschichte von Idil

In Ruinen. Robert Tutus zwischen den Überresten der christlichen Altstadt von Idil. Im Hintergrund zu sehen: die neue Kurdenstadt.
In Ruinen. Robert Tutus zwischen den Überresten der christlichen Altstadt von Idil. Im Hintergrund zu sehen: die neue Kurdenstadt.

© Susanne Güsten

Azak heißt die Stadt eigentlich, auch Hazak, Azakh oder Azeh geschrieben, je nach Umschrift des ihr eigentümlichen Dialektes, der sich aus arabischen Worten und aramäischer Grammatik zusammensetzt. Ihrer Tradition zufolge soll sie schon im ersten Jahrhundert von Thaddäus, einem der 70 von Jesus ausgesandten Jünger, zum Christentum bekehrt worden sein. Die Stadt ging in die Geschichte ein, als sie während der Christenmassaker von 1915 einer vierzigtägigen Belagerung von Kurdenstämmen und osmanischen Truppen widerstand, die ringsum die aramäische und armenische Bevölkerung abschlachteten. In Idil – türkisch für „Idylle“ – wurde sie erst 1937 umbenannt, als die Türkische Republik alle althergebrachten Ortsnamen in Anatolien „türkifizierte“.

Eine christliche Stadt – mit orthodoxer Mehrheit und katholischen und protestantischen Minderheiten – blieb Idil aber auch unter neuem Namen. „Das hat dem Staat politisch nicht gefallen“, erzählt Robert Tutus. „Deshalb hat er hier Sozialwohnungen errichtet und an Kurden vergeben.“ Vor den mächtigen Kurdenstämmen und ihren Begierden fürchteten sich die Christen der Stadt aber nicht erst seit 1915. Als Bürgermeister hielt Tutus’ Vater deshalb dagegen und verbot den Verkauf von Land an moslemische Zuwanderer. Bis 1977 ging das gut – dann hatte der türkische Staat genug und verbündete sich mit den Kurden.

Heute noch freut er sich über die Intrige

Noch heute haut sich der örtliche Kurdenfürst vor Vergnügen auf die Beine, wenn er sich an die Intrige erinnert. „Tja, da hat dein Vater einen Fehler gemacht, als er die Moslems aus der Stadt heraushalten wollte“, erzählt der 71-jährige Abdurrahman Abay, Stammesoberhaupt des kurdischen Kejan-Clans. Bei einem Tee mit Tutus erzählt der alte Herr nur zu gerne, wie es dazu kam, dass er 1977 die Macht in Idil übernehmen konnte. Zunächst habe sein Stamm auf herkömmliche Art versucht, Sükrü Tutus loszuwerden: „Fünf Kugeln haben unsere Leute auf dem Marktplatz auf ihn abgefeuert, aber das hat er überlebt.“

Dann, erinnert sich Abay, machte ihm der türkische Staat ein Angebot. „Die Beamten sind zu mir gekommen und haben mich ermuntert, als Bürgermeister gegen Tutus zu kandidieren“, erzählt er. Der Vorschlag schien absurd, stellten die Christen damals doch immer noch mehr als 90 Prozent der Bevölkerung der Stadt, doch die Behördenvertreter sicherten ihm den Sieg zu. „Na, was soll ich sagen, ich habe die Wahl gewonnen“, sagt Abay und prustet dabei vor Lachen: „Richter Osman hieß der zuständige Beamte – man sagt, er habe die Stimmzettel vertauscht. “ Nach der Wahl habe er ein Telegramm aus Ägypten bekommen, erzählt Abay. Es kam von Anwar al Sadat: „Ich gratuliere dir als erstem Moslem, der Idil eingenommen hat.“ Als Abay das Amt 1994 abgab, war die Stadt längst mehrheitlich kurdisch.

Zwei Männer traten an in heran und schossen ihm in den Kopf

Auf dem Weg durch die verfallene Altstadt bleibt Robert Tutus immer wieder stehen. „Da vorne stand mein Elternhaus“, sagt er und zeigt auf eine Baustelle, wo er mit dem Neubau begonnen hat. „Und wo wir jetzt stehen, wurde mein Vater ermordet.“ Zwei Männer traten auf dem Heimweg an Sükrü Tutus heran, grüßten ihn und töteten ihn mit einem Kopfschuss.

Es war das Fanal für die Flucht der Christen von Azak. Innerhalb von einem Monat floh die verbliebene christliche Bevölkerung, damals noch mehrere hundert Menschen. Die Mehrheit war schon in den Jahren zuvor ausgewandert nach Europa, weil der Druck auf die Stadt stieg und das Überleben immer schwieriger wurde. „Die Christen konnten sich schon lange nicht mehr in ihre Obstgärten und Weinberge hinauswagen, von denen sie lebten“, erzählt Robert Tutus. Sein eigener Großvater und sein Onkel wurden bei der Ernte von Kurden erschossen.

Heute leben die Christen von Idil in aller Welt verstreut – die meisten in Deutschland, Schweden und der Schweiz. Die Tutus fanden in Deutschland politisches Asyl und sind heute, bis auf einen Bruder in Istanbul, alle deutsche Staatsbürger.

Er will ein Zeichen setzten, auch wenn es gefährlich ist

In Ruinen. Robert Tutus zwischen den Überresten der christlichen Altstadt von Idil. Im Hintergrund zu sehen: die neue Kurdenstadt.
In Ruinen. Robert Tutus zwischen den Überresten der christlichen Altstadt von Idil. Im Hintergrund zu sehen: die neue Kurdenstadt.

© Susanne Güsten

Nur Robert Tutus hat es auf Dauer nicht ausgehalten, sein Leben fernab der Heimatstadt verbringen zu müssen. Fünf Jahre nach der Flucht wagte er sich als Erster zurück nach Idil. Zwar hat er längst auch ein neues Leben in Deutschland: eine Baufirma in Bad Vilbel bei Frankfurt am Main, ein Haus, eine Ehefrau und zwei Kinder. Die meiste Zeit verbringt er heute aber wieder in Anatolien.

In einem schwarzen Porsche kurvt der Geschäftsmann nun zwischen Eseln und Traktoren herum. „Die Gebäude dort stehen auf unserem Boden, der Bau da ist auf unserem Land“, kommentiert er laufend die Stadtrundfahrt. Und zumindest den Boden, der ihnen einst gehörte, will er wiederhaben. Nun kämpft er einen zermürbenden Kampf um seinen Grundbesitz. Die Prozesse werden jahrelang verschleppt, und wenn er sie gewonnen hat, kommt er an das Land oft trotzdem nicht heran. „Da sitzt dann ein Kurde mit der Waffe drauf und gibt es nicht heraus“, sagt Tutus. „So einfach ist das hier.“

Wenn es ihm nur um den Besitz ginge, wäre er sicher nicht zurückgekehrt, sagt Tutus, während er ein Ladenlokal in der Neustadt aufschließt. „Verein der Aramäer von Idil“ steht über der Tür. Den Verein hat er selbst gegründet und unterhält ihn mit eigenen Mitteln – um ein Zeichen zu setzen, dass es noch aramäische Christen in dieser Stadt gibt. Neben ihm sind das noch ein paar alte Leute und ein weiterer Rückkehrer.

Er investiert in Idil, nicht in Deutschland

Im Grunde gehe es ihm darum, sinniert Tutus und rückt ein Porträtfoto seines Vaters auf seinem Schreibtisch im Vereinslokal zurecht. „Ich will etwas tun für unsere Heimat, für die mein Vater gestorben ist.“ Deswegen bleibe er in Idil und investiere hier in neue Bauten und Betriebe, statt das Land zu verkaufen und den Erlös nach Deutschland zu holen. Deswegen betreibe er den Verein und versuche, die Idiler Christen in der europäischen Diaspora zur Rückkehr zu ermuntern. Und deswegen pflege er gute Beziehungen zu allen Behörden und Bonzen in Idil, vom türkischen Militärkommandanten über die kurdischen Stammesfürsten bis zu den örtlichen Parteivorsitzenden. Doch so langsam dämmert ihm, dass ihm das nichts nützt. Und die Freundlichkeit vielleicht nur Fassade ist.

Draußen auf der Straße scheppert etwas. Zwei kurdische Angestellte von Tutus eilen hinaus und blicken sich um. Öfter sind schon Steine und Brandbomben durch die Fensterfront in das Vereinslokal geflogen, ebenso wie Tutus selbst schon oft bedroht worden ist. Im tiefen Osten der Türkei sitzen die Waffen locker, und nachts wird auf den Straßen von Idil scharf geschossen – ein Grund dafür, warum Tutus seine Frau und die Kinder lieber in Bad Vilbel lässt. Offiziellen Personenschutz hat Tutus bisher nicht beantragt, obwohl ihm der Provinzgouverneur dazu geraten hat: „Ich lasse mich doch in meiner eigenen Heimat nicht einschüchtern.“ Doch in letzter Zeit ist er nachdenklich geworden.

In der Nähe wird gebrüllt, die PKK demonstriert

Dunkelheit, ein Winterabend, die Straßen von Idil liegen unbeleuchtet. In der Nähe wird gebrüllt, eine Demonstration der Kurdenpartei PKK marschiert durch die Stadt. Vor dem Gebäude von Robert Tutus fliegen plötzlich Steine, ein Fenster des Mehrparteienhauses nach dem anderen zerbirst. Flammen schlagen aus dem Vereinslokal im Erdgeschoss, erfassen die Hausfront und züngeln an den Wohnungen im ersten Stock. Die Mieter flüchten auf die Straße – sie werden am nächsten Tag alle ausziehen. Die Demonstration zieht weiter, erst danach kommt die Feuerwehr.

Das Gebäude steht inzwischen leer, weil niemand mehr von Tutus mieten will. Die Führung der PKK spricht sich zwar ebenso wie die türkische Regierung für eine Rückkehr der Christen nach Südostanatolien aus, doch ihre Anhänger auf der Straße handeln anders.

„Ich weiß wirklich nicht mehr, wie das hier weitergehen soll“, sagt Robert Tutus. Die kurdischen Politiker drücken ihm ihr Bedauern aus, wenn er sich bei ihnen beklagt, der türkische Polizeichef schüttelt mitleidig den Kopf. Doch wenn es dunkel wird in Idil und der Mob vor seinem Haus grölt, dann kommt keiner zu Hilfe. Vielleicht ist es Zeit, nach Deutschland zurückzukehren, sagt Tutus.

Die Autorin forscht derzeit als Mercator-IPC Fellow am Istanbul Policy Center zur Situation der aramäischen und assyrischen Christen zwischen Südostanatolien und Deutschland. Der Text erschein auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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