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Eine israelische Soldatin betrauert den Tod eines Kameraden.

© AFP

Der Nahost-Konflikt: Tag für Tag Kampf

Schlagen Raketen ein, werden die Schäden schnell repariert. Zerstörungsdenkmäler wollen sie nicht im Süden Israels. Aufgeben auch nicht. Europäer verstehen den Konflikt kaum, sagen die Menschen. Und laufen Gefahr, einen weiteren Kampf zu verlieren.

Eigentlich hätte Alon in diesen Tagen Examen. Er studiert seit vier Jahren Medizin in Tel Aviv. Aber vor drei Wochen, sagt er, „sind wir alle aus unseren Leben gerissen worden“. Der 28-Jährige steht in einer Felduniform unter einem Sonnensegel auf dem Dach eines achtstöckigen Firmengebäudes, vor sich einen großen Feldstecher auf einem Stativ. Eine Militärkarte ist auf dem Boden mit Klebeband fixiert. Daneben liegen kugelsichere Westen und Helme. Auf einem Stuhl sitzt eine Soldatin, wippt ihre Maschinenpistole zwischen den Knien hin und her und tippt auf ihrem Smartphone.

Nach Westen breitet sich die Stadt Ashdod aus, dahinter das Mittelmeer. Nach Osten erstrecken sich Plantagen, Gewächshäuser und Felder. Direkt unter Alons Beobachtungsposten gleitet ein Güterzug über die Bahnstrecke, die Israels Küstenstädte verbindet. Im Süden liegt in wenigen Kilometern Entfernung Ashkelon. „Und links davon, zehn Kilometer weiter, beginnt Gaza“, erklärt Alon. „Nachts können wir die Lichter sehen.“

Sie sollen nicht die Raketen beobachten, sondern die niedergehenden Trümmer

Der Feldstecher ist auf Ashdod gerichtet. Alon und die Soldatin müssen nicht darauf achten, woher genau die Raketen aus dem Gazastreifen kommen. Einen Abschussort können die Radarsysteme schneller und exakter berechnen. Sie sollen beobachten, wo die Trümmer niedergehen, wenn das israelische Abfangsystem „Iron Dome“ die einfliegenden Raketen zerstört oder wenn doch einmal eine Rakete durchkommt, um Rettungskräfte und Polizei dorthin zu dirigieren. Der Fernstecher ist mit einem Computer verbunden, der die Koordinaten der Stelle errechnet, auf die Alon das Gerät richtet. Schwierig wird es, wenn mehrere Raketen auf einmal einfliegen.

Seit drei Wochen führen die palästinensische Hamas und Israel wieder Krieg gegeneinander, wie schon 2008 und 2012. Die Hamas schießt Raketen und Mörsergranaten auf Wohngebiete. Israel antwortet mit Luftangriffen und nun auch mit Bodentruppen. Die Welt sieht fassungslos zu.

Morgens ist der Terroreffekt am größten

Bevorzugte Angriffszeiten der Hamas seien morgens und abends, sagt Alon. „Morgens, weil der Terroreffekt am größten ist, wenn die Eltern ihre Kinder in die Schule bringen. Und abends, kurz vor oder während der 20-Uhr-Nachrichten, weil dann die Chance am größten ist, prominent in die Sendung zu kommen.“ Wie lange wird das noch so gehen? Alon zuckt mit den Schultern. „Das endet nicht so schnell. Auf keinen Fall bevor wir die Tunnel der Hamas nach Israel gefunden und zerstört haben.“

Eine Reise durch Israels Süden in diesen Tagen ist eine Reise zu verzweifelten Menschen und zu jenen, die ihre Verunsicherung mit zur Schau getragener Unerschütterlichkeit überspielen. Sie weckt Zweifel, was man glauben darf. Sie zwingt zum Nachdenken, wie kostbar Zeit ist. Und wie kostbar ein Menschenleben. Schnell registriert man selbst ständig Hinweise auf den nächsten Schutzraum, schätzt ab, was in einer bestimmten Sekundenzahl noch getan werden kann und was nicht. Wenn Raketenalarm ausgelöst wird – in Städten durch Sirenen, unterwegs über das Autoradio –, haben Menschen im Raum Tel Aviv 90 Sekunden Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. In Ashdod sind es 45 Sekunden. In Ashkelon bleiben 30 Sekunden. In Sderot, ganz nah am Gazastreifen, 15 Sekunden. „In Tel Aviv“, das hört man im Süden oft, „haben sie ein geruhsames Leben.“

Gegensätzliche Ziele: Welche Bilder Israel und die Hamas vermitteln wollen

Ein palästinensisches Mädchen, das beim jüngsten Anschlag auf eine UN-Schule im Gazastreifen verletzt wurde, weint.
Ein palästinensisches Mädchen, das beim jüngsten Anschlag auf eine UN-Schule im Gazastreifen verletzt wurde, weint.

© AFP

Bei Raketenalarm, das wurde unserer kleinen Reisegruppe aus Deutschland, Frankreich, Polen und Spanien eingeschärft, alles im Fahrzeug zurücklassen, zügig aussteigen, sich in alle Richtungen verteilen, in mindestens zehn Metern Entfernung flach auf den Boden legen und den Kopf mit den Händen schützen. Gegen einen direkten Raketentreffer ist man machtlos, der ist jedoch statistisch unwahrscheinlich. Schützen kann man sich aber gegen herumfliegende Splitter und Schrapnell. Je dichter der Körper am Boden, desto geringer die Gefahr.

Leben retten, die Auswirkungen des Kriegs auf die Zivilbevölkerung minimieren und den Alltag so normal wie möglich halten, das ist die Aufgabe von Oberst Itai Peleg. In seinem „Heimatfront-Bezirk“ leben 600 000 Menschen, das Hauptquartier liegt unter einem Einkaufszentrum in Ashkelon in einem spartanisch eingerichteten Keller mit nackten Betonwänden und Neonlicht. An einfachen Holztischen sitzen eine Soldatin und drei Soldaten, die auf ihre Laptops stieren. Sie sehen übernächtigt aus. Auf eine Leinwand ist das Luftbild eines Geländeabschnitts projiziert. Daneben läuft ein Fernseher, in die Sendung werden, sobald Raketen fliegen, rechts oben in Rot die Nummern der bedrohten Bezirke eingeblendet. Gerade leuchtet „Area 237“.

Schäden werden sofort Repariert. Bloß keine Zerstörungsdenkmäler

Das Hauptziel der Hamas sei es, Angst und Schrecken zu verbreiten, um die Moral der Bürger zu brechen, sagt der Reserveoffizier. Also tue er alles, um „Alltagsroutine in dieser außergewöhnlichen Lage zu unterstützen“. Seine Soldaten helfen in Kindergärten aus, damit die Eltern weniger sorgenvoll zur Arbeit gehen können. Wenn doch einmal Raketen einschlagen oder Trümmer niedergehen, werden die Schäden „binnen Stunden“ repariert. „So schnell wie möglich back to normal“, sei seine Devise, und „bloß keine Zerstörungsdenkmäler zulassen“.

Peleg benutzt keine harte Worte, wenn er über die Hamas spricht. Doch eine Botschaft ist unüberhörbar: Die Hamas und Israel verhalten sich nahezu gegensätzlich. Die Hamas tue alles, um die Zivilbevölkerung zu treffen – Israel alles, um Zivilisten zu schützen. Die Hamas lege es darauf an, Bilder der Zerstörung publik zu machen, Israel möchte sie vermeiden.

Oberst Peleg denkt in Verteidigungslinien. Die erste ist das Raketen-Abfangsystem „Iron Dome“. Die zweite sind die Alarmsysteme, Sirenen und Schutzräume. Es gibt Apps, auf denen man seinen Aufenthaltsort eintragen kann und automatisch Warnhinweise erhält.

Die dritte Verteidigungslinie verläuft in den Köpfen der Menschen. „Wir wollen sie beruhigen. Aber sie sollen eine Restangst behalten, damit sie wachsam bleiben und Schutz suchen.“ Mit der Bilanz seiner Mission ist Peleg bisher zufrieden. Weit über 600 Raketenangriffe hat sein Bezirk in drei Wochen erlebt, aber keine Toten. Ganz Israel trafen während dieser Zeit 2000 Raketen, drei Zivilisten starben. In Gaza gab es nach palästinensischen Angaben 1283 Todesopfer.

Wenig Verständnis: Israel droht die Gefahr, den Kampf um die öffentliche Meinung zu verlieren.

Der Krieg dauert an.
Der Krieg dauert an.

© dpa

Die Interessenlage der radikalislamischen Hamas mitzukalkulieren, das ist Michael Herzog zur zweiten Natur geworden. In seiner aktiven Laufbahn bis 2009 stieg der Brigadegeneral bis zum Stabschef in Israels Verteidigungsministerium auf; in den vergangenen Jahren nahm er an fast allen Friedensverhandlungen mit Palästinensern, Jordaniern und Syrern teil. In diesen Tagen sei das Hauptproblem, dass die Interessen Israels und der Hamas unvereinbar weit auseinanderlägen. Eine haltbare Waffenruhe werde es erst geben, wenn sie eine ausreichende Schnittmenge fänden.

Den aktuellen Krieg, sagt Herzog, habe die Hamas ausgelöst, weil sie sich in einer ausweglosen Lage sah. Solange in Ägypten die Muslimbrüder regierten, verdiente die Hamas – der palästinensische Arm der Bruderschaft – dank der halb offenen Grenze und ihrer Tunnel hunderte Millionen Dollar pro Jahr. Sie schmuggelte Konsumgüter, Baumaterial und Waffen in den Gazastreifen. Seit Ägyptens Militär die Macht übernahm, ist die Grenze dicht. Auch die Hilfe aus Syrien und dem Iran werde weniger.

Die Hamas konnte die Gehälter in Gaza nicht mehr bezahlen

Hamas sei „finanziell erledigt“ gewesen, habe die Gehälter in Gaza nicht mehr zahlen können. Ihr blieb nur noch ein „Vorwärts durch Eskalation“. Mit dem Krieg wolle sie eine Verhandlungssituation erzwingen. Viele ihrer Forderungen richteten sich freilich nicht an Israel, sondern an Ägypten und die verfeindeten palästinensischen Brüder der Fatah im Westjordanland. Ägypten soll die Grenze öffnen, die Fatah die Gehälter der Verwaltung in Gaza übernehmen.

Israels Ziel sei ein lang anhaltender Waffenstillstand mit einer geschwächten Hamas. Vernichten wolle Israel die Hamas nicht. Sie brauche einen Partner, der eine ausgehandelte Waffenruhe dann auch durchsetzen könne. Von Dauer werde die Ruhe aber nur sein, wenn Israel zuvor möglichst viele Raketen und Abschussrampen zerstört habe, vor allem aber das Tunnelsystem. Dafür nun die Bodenoffensive.

Außer den Tunnels nach Ägypten gebe es jene unterhalb des Gazastreifens, in denen die Hamas Raketen lagere und Raketen baue, sagt Herzog. Die größte Gefahr gehe von den Tunnels aus, die nach Israel führen, teils über Kilometer. Durch sie schicke die Hamas Kämpfer für Überfälle auf israelische Gemeinden oder zum Kidnappen von Soldaten. „Die Armee wird Gaza nicht verlassen, bevor alle bekannten Tunnel zerstört sind“, sagt Herzog. „Das wäre, als würden wir eine auf uns gerichtete Waffe zurück lassen.“ Aber die vielen zivilen palästinensischen Opfer, setzen die nicht Israel ins Unrecht? Es sei ein asymmetrischer Konflikt, sagt Herzog, dessen Natur viele Europäer nicht verstünden. Daraus ergebe sich eine große Gefahr für Israel: den Kampf um die öffentliche Meinung zu verlieren.

Wir benutzen Raketen, um Bürger zu schützen, sagen Israelis

Ähnliche Antworten hört man von allen israelischen Gesprächspartnern. Wir benutzen Raketen, um unsere Bürger zu schützen, sagen sie. Die Hamas benutze ihre Bürger als lebende Schilde, um ihre Raketen zu schützen. Die Waffen und Abschussrampen würden in Schulen, Moscheen, Krankenhäusern versteckt.

Aber ist das vielleicht nur Propaganda? Zum Teil hätten unabhängige Beobachter die Funde bestätigt, sagt Herzog. Zweifeln müsse man dagegen an den von der Hamas behaupteten Opferzahlen und Zerstörungen. Die könne niemand überprüfen.

Der Krieg jedenfalls hat den Alltag aller verändert, hier wie dort, und besonders auch den im Krankenhaus von Beersheva. Zu seinem Einzugsbereich gehört ganz Südisrael mit rund einer Million Einwohnern. Die Zahl der Patienten mit Herzattacken ist sprunghaft gestiegen. Nach Beersheva werden aber auch die am schwersten verletzten Soldaten aus dem Einsatz in Gaza gebracht; es sind nur wenige Flugminuten mit dem Rettungshubschrauber. Shimon Shalev wacht am Bett seines 21-jährigen Sohnes Shohar. Der Fallschirmspringer liegt im Koma, eine Straßenbombe der Hamas hat ihm ein Bein weggerissen. Traurig und ratlose fragt der Vater die Besucher: „Wie soll das enden? Kennt ihr eine Lösung?“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels. Zu der Reise hatte das European Leadership Network eingeladen.

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