zum Hauptinhalt
Gewinnt an Schärfe. Noch ist offen, wie Michael Müller das weite Feld der politischen Entwicklung auszufüllen gedenkt. Er hüllt sich in Schweigen. Doch erste Konturen werden sichtbar.

© dpa

Der zukünftige Bürgermeister in Berlin: Was ist von Michael Müller zu erwarten?

Der Senator wird Regierender. So viel steht fest. Das muss eine enorme Genugtuung sein – schon gar für einen, der geschlagen war. Und was macht er jetzt aus dem Triumph? Er lässt warten. Weil er es kann.

Er schließt die Augen. Ein Moment, wie er nie wiederkehren wird. Dieser eine Moment, der größte. In seinem Leben, vielleicht. Er würde das so nie sagen, sondern wohl eher, dass die Familie und das Privatleben und überhaupt – halt das, was man so sagt, um nicht das Wichtigste, das Innerste preiszugeben, sich damit den Deutungen anderer hinzugeben. Weil Michael Müller das weiß, nur zu gut, schließt er die Augen. Niemand kann jetzt darin lesen. Und er verschließt sich. In diesem Moment.

Er hatte schon andere Momente. Große, aber eben auch bittere. Als er den SPD-Vorsitz verlor, gegen einen Namenlosen, einen, der sich einfach da hinstellte und ihn niedermachte. So kann man es empfinden, und da Michael Müller empfindsam bis zur Empfindlichkeit ist, ist das Wort nicht zu gewagt. Niedergemacht hatte Jan Stöß damals all seine Arbeit, hatte sich hinweggesetzt über seine jahrelangen Bemühungen, die Sozialdemokraten der Hauptstadt zusammenzuhalten, hinter dem Regierenden zu halten, damit dem niemand in den Rücken fallen konnte. Nur auf seinen eigenen Rücken hatte er nicht achtgegeben. Und dann kam der Stöß.

Was ein Moment, was ein Triumph

Was für ein Moment! Ein Triumph, wie er nur wenigen vergönnt ist, die so viel haben einstecken müssen. Einstecken, das steht lange fest, kann Michael Müller. Wie kein Zweiter. Ein Glaskinn hat der nicht. Der Langweiler hat sie alle geschlagen – weil er in seiner Bereitschaft, zu dienen, nicht zu schlagen ist. Welche Kritik auch immer über die Jahre an ihm geübt wurde, es waren Übungen am Falschen. Seine Blässe lässt ihn heute leuchten.

Die Sozialdemokraten in den Bezirken, die einfachen Mitglieder, waren die Richter, nicht die Funktionäre, die sich schnelle Urteile, vor allen anderen, erlauben. Die einfachen Mitglieder haben auch über sie geurteilt. Sie haben Müllers Begabung zur Verwaltung für am besten befunden. Ja, und was ist Stadt, wenn nicht gute Verwaltung dessen, was einem lieb und teuer ist? Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen, sagte weiland der große Helmut Schmidt. Der lebt auch in einem Reihenhaus.

Die Staus, der Tempelhofer Flughafen, die steigenden Mieten, der fehlende Wohnraum, das alles sind Themen, die wie Niederlagen für einen Stadtentwicklungssenator klingen. Aber nicht mehr jetzt, jetzt liegt das hinter ihm. Jetzt liegt das weite Feld der politischen Entwicklung vor ihm. Müller sieht das richtig. Durch geschlossene Augen ist es zu erkennen. Er ist doch so lange in der Politik.

Und noch so jung. 49 erst. Da können alle seine Wunden vernarben und verblassen. Es darf bloß keiner daran rühren, sonst werden sie wieder schmerzen. Denn manche reichen bis ans Herz, und diese Wunden vergisst man nie. Die Härten eines Klaus Wowereit zum Beispiel. Es ist ja nicht so, dass der nur leutselig wäre. Weit gefehlt. Wenn ihm danach war, dann konnte er auch anders, ganz anders. Die Geschichten darüber, wie er Leute im Senat runtergeputzt hat oder in den Sitzungen davor, reichen doch bis in die jüngsten Tage. Wenn einmal alle, die betroffen waren, getroffen waren, erzählen würden …

Böhning, Kolat, Stöß: Welche Stühle wackeln könnten - und welche nicht

Gewinnt an Schärfe. Noch ist offen, wie Michael Müller das weite Feld der politischen Entwicklung auszufüllen gedenkt. Er hüllt sich in Schweigen. Doch erste Konturen werden sichtbar.
Gewinnt an Schärfe. Noch ist offen, wie Michael Müller das weite Feld der politischen Entwicklung auszufüllen gedenkt. Er hüllt sich in Schweigen. Doch erste Konturen werden sichtbar.

© dpa

Müller wird das bestimmt nicht tun. Die Frage ist aber, was es mit einem macht, wenn man das so lange gesehen und erlebt hat, an anderen und am eigenen Leib erfahren. Müller hat ja keinen anderen so aus der Nähe regieren sehen, mit Zuckerbrot und Peitsche, mit demonstrativem, glucksendem Lob, dass es mitunter schon wieder nach Demütigung klang. Und darauf versteht sich Wowereit. Müller, als Betroffener, könnte eine Geschichte dazu erzählen.

Man muss sie für ihn erzählen, er wird es selbst ja nicht tun. Die Geschichte geht so: Müller, getroffen von der Niederlage im Kampf um den Berliner SPD-Vorsitz 2012, schaut sich um nach einem Bundestagswahlkreis. Und er ist auf gutem Weg in Steglitz-Zehlendorf. Aber er sagt Wowereit nichts davon. Der erfährt es dann, nur nicht von ihm. Müller will mit Wowereit reden, kommt nach dem Festakt zur 775-Jahr-Feier Berlins noch am späten Abend ins Rote Rathaus. In Begleitung seiner Frau. Und wartet. Und wartet. Und geht. Weil er sitzen gelassen wird.

Wowereit hat Müller geprägt. Die Frage ist: wie weit?

Das ist die Form von Führung, die Müller kennt. Es ist eine, die ihn geprägt hat. Aber wie weit sie ihn geprägt hat – das ist die Frage, die bleibt. Die kommt. Wird er es genauso handhaben, jetzt, da demnächst er selbst im Roten Rathaus empfangen kann?

Einstweilen empfängt er Signale. Von überallher in Berlin. Auch aus der Zentrale der Bundespartei. Soll keiner glauben, dass Sigmar Gabriel nicht Anteil nähme, keine SMS schicken würde. Oder dass aus der Bundestagsfraktion niemand ihn hätte wissen lassen, was sie von ihm erhoffen, geradezu erwarten. Da gibt es die Abgeordnete für Berlin-Mitte, Eva Högl, aber nicht nur sie redet über die Berliner SPD. Die ist immerhin ein schwieriger Fall. Und im Fall Müller ist manches schwierig, was er zu lösen hat.

Oder nicht? Er soll sich einen Ruck geben und Stöß im Senat einbinden, lautet ein Signal. Müllers Signal lautet anders: Stöß soll sich selbst fragen, was ihm das Wahlergebnis sagt. Sagt Müller. Der Rest ist Schweigen. Er will sich Zeit nehmen, eine Woche in Urlaub fahren. Jetzt ist er es, der warten lassen kann. Er ist drinnen und entscheidet, wer draußen bleiben muss. Arbeitssenatorin Dilek Kolat? Jan Stöß? Ulrich Nußbaum, der Finanzsenator, der sich über ihn erhob, hat sich selbst den Stuhl vor die Tür gestellt.

Jetzt kann Michael Müller Treue belohnen und andere bestrafen. Björn Böhning, der Senatskanzleichef unter Wowereit, hat ihn nicht schlecht behandelt, darum darf er mit ihm den Sieg feiern, bei Pizza in der Müller’schen Druckerei. Wenn man die Zeichen richtig liest, dann heißt das, dass er in seiner Nähe bleiben darf. Und seine Staatssekretäre im Senat dürfen auf Aufstieg hoffen. Aber alle, alle müssen warten. So ist es im Moment.

Welche Namen für das Amt des Finanzsenators im Spiel sind

Gewinnt an Schärfe. Noch ist offen, wie Michael Müller das weite Feld der politischen Entwicklung auszufüllen gedenkt. Er hüllt sich in Schweigen. Doch erste Konturen werden sichtbar.
Gewinnt an Schärfe. Noch ist offen, wie Michael Müller das weite Feld der politischen Entwicklung auszufüllen gedenkt. Er hüllt sich in Schweigen. Doch erste Konturen werden sichtbar.

© dpa

Doch vielleicht will Müller ein Momentum schaffen, und zwar so, wie er es von Wowereit lernen konnte: indem er einen Senator von außen holt, einen, mit dem keiner rechnet. Einen für die Finanzen. Jörg Asmussen wäre so einer. Er wollte der Familie zuliebe zurück nach Berlin, verließ deshalb die Europäische Zentralbank und ging zu Andrea Nahles als Staatssekretär ins Arbeits- und Sozialressort der Bundesregierung. Asmussen, der etlichen Finanzministern über die Schulter schauen konnte, wird geschätzt von Sozial- wie von Christdemokraten.

Oder Werner Gatzer. Der ist seit 1990 im Finanzministerium, ein echter Experte, einer, der Oberfinanzdirektionen von innen kennt, der eine Haushaltsabteilung im Ministerium geleitet hat und lange beamteter Staatssekretär ist, seit 2005. Gatzer, der seit 1982 der SPD angehört – und seit März 2011 für den Bund dem Aufsichtsrat des BER. Wenn das nicht zu einer gelingenden Stadtentwicklung dazugehört.

Was wird aus Stöß und Saleh?

Das sind schon mal zwei Namen. Und zwei Namen, so viel hat Müller verlautbart, hat er im Kopf. Oder sind es die Namen Stöß und Raed Saleh? Der Fraktionschef hat bisher nur erkennen lassen, dass er weitermachen will. Oder anders: dass er weiter das machen will, was er bisher gemacht hat. Das ist, sich zu vergleichen, gewissermaßen. Mit den Abgeordnetenkollegen in der SPD und mit den Koalitionskollegen von der CDU die Sache aushandeln, um das dann nach innen und nach außen zu verkaufen. So gesehen könnte Saleh doch die Finanzen übernehmen. Aber dazu sagt Michael Müller auch lieber nichts.

Derweil beobachten die Bundesgenossen ihn weiter. Genau. Aber sie sagen nichts laut. Sie wollen in der Berliner SPD keinen Anstoß erregen und Müller keinen öffentlichen Anstoß geben. Die Bundesparteizentrale ist ja nicht so weit entfernt vom Geschehen; sie werden da rechtzeitig mitbekommen, wenn etwas geschieht. Wie Kajo Wasserhövel, der früher die Zentrale und Franz Münteferings Wahlkämpfe geleitet hat, im Hintergrund unentgeltlich für Müller tätig war – das haben sie natürlich gesehen.

Mit dem Ergebnis kann Wasserhövel sich blicken lassen. Müllers Vorsprung in internen Umfragen in einen realen Sieg zu verwandeln, muss erst mal gelingen. Und dann 59 Prozent im ersten Wahlgang: Damit hatten wenige gerechnet. Der Lohn für Wasserhövel kann ein Senatorenposten sein. Staatssekretär im Arbeitsministerium war er ja bereits. Aber von Verkehr versteht er nicht weniger. Müller muss nur entscheiden. Erst einmal nur er.

Frank Henkel wird sich ihm nicht in den Weg stellen

Dass Frank Henkel, der christdemokratische Kollege, der nicht regierende Bürgermeister, sich ihm in den Weg stellen wird, ist nicht zu erwarten. Sie haben doch längst miteinander gesprochen, sie verstehen einander. Einer wie der andere, Berliner. Sie sprechen die gleiche Sprache und die Gleichen an. Was sie unterscheidet: Henkel hat den härteren Händedruck, Müller das stärkere Kinn.

Mit Klaus Wowereit war Michael Müller auch wieder zusammen, gemeinsam besuchten sie einen Freund, der Geburtstag hatte. Den haben sie gefeiert. Das war kurz vor der Verkündung.

Aber jetzt ist Michael Müllers Moment. Er lächelt. Er weiß es. Es ist sein Sieg. Bis zur nächsten Wahl hat er noch Zeit. Er wird allen die Augen öffnen.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

Zur Startseite