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Ein Soldat am Mobiltelefon: Die Preisgabe von Geheimnissen birgt Gefahren.

© Reuters/Ints Kalnins

Die Nato bereitet sich auf virtuellen Krieg vor: Wie Lettlands Soldaten ins Netz gingen

Wie schnell Soldaten Geheimnisse im Internet preisgeben, hat ein Team von Nato-Experten in Riga getestet. Längst hat ein unsichtbarer Krieg begonnen.

Gemeinsam trainieren sie in den Wäldern Lettlands – Tausende Soldaten des baltischen Landes, dazu Nato-Verbündete. Präsenz zeigen an der Ostflanke des Bündnisses, das ist die Idee dahinter. Während eines tagelangen Manövers spielen einige von ihnen auf ihren Mobiltelefonen.

Zuvor waren die Männer auf eine gut gemachte Internetseite gestoßen, die damit warb, von und für Soldaten gestaltet worden zu sein. Die Männer chatten dort über die Armee, das Wetter, das Leben. Ein paar bestellen auf der Seite beworbene T-Shirts – für die Lieferung geben sie ihre Heimatanschrift an. Zugleich kommunizieren einige der Soldaten über die Dating-App Tinder mit einer Frau und zeigen ihr Bilder, auf denen sie selbst in Uniform zu sehen sind. Die Frau bittet um ein Treffen – und eines Abends wollen zwei Soldaten ihren Posten dafür verlassen. Ein Fehler.

Die Internetseite und das Tinder-Profil sind eine Falle, ein Test, den ein Team von Nato-Experten im Sommer 2018 im Auftrag der lettischen Armee durchgeführt hat, um Schwächen in den eigenen Reihen aufzuzeigen. Mit wenig Aufwand gelingt es also, dass Soldaten ihre Anschrift versenden, Fotos von einem Manöver verbreiten, sogar ihren Posten verlassen wollen.

Die Vermutung ist: Solche Aktionen dürften auch woanders klappen. Wer kann ausschließen, dass Soldaten nicht mal Positionen verraten oder sich durch preisgegebene Vorlieben erpressbar machen?

Den Test mit der Soldaten-Seite und dem Tinder-Profil haben Männer und Frauen in einem Flachbau in Riga, Lettlands Hauptstadt, durchgeführt. Es ist der Sitz des Nato-Zentrums für Strategische Kommunikation, das von Deutschland unterstützt wird.

Chef des Zentrums ist Janis Sarts, der in Lettlands Verteidigungsministerium anfing und nun mit 50 Leuten Desinformationskampagnen, laienhaft Fake News genannt, analysiert. Es gelte, Strategien zu entwickeln, sagt Sarts, um virtuelle Schlachten, die oft nicht erkannt würden, zu gewinnen. Mit dem Test habe man zeigen wollen, was allein durch Smartphones möglich sei: „Wir wollen aufrütteln.“

Virtueller Kampf um Deutungshoheit

Wer früher Propaganda betreiben und falsche Fährten legen wollte, der musste Flugblätter drucken, Journalisten täuschen, Agenten schicken. Heute reicht ein in wenigen Minuten erstelltes, zielgruppengenaues Profil in einem bekannten Internetforum. Im Netz werden Einzelne in die Irre geführt, meist des Geldes wegen, beispielsweise durch Kreditkartenbetrug. Aber bedeutsamer ist wohl der virtuelle Kampf um die Deutungshoheit: Welches Narrativ welcher Partei, Volksgruppe, Regierung ist wahr?

In Lettlands Nachbarland Litauen hatten Unbekannte 2017 ein Gerücht über soziale Medien und Ketten-E-Mails verbreitet, wonach Bundeswehrsoldaten des dortigen Nato-Kontingents eine 17-Jährige vergewaltigt hätten. Viele vermuten russische Stellen hinter dem Gerücht.

Litauens Regierung stellte klar, dass es einen solchen Vorfall nicht gab. Doch anzunehmen, dass nun niemand mehr das Gerücht glaubt, ist utopisch. „Täuschung und Lügen verbreiten sich schneller als je zuvor“, sagt Sarts. „Es geht darum, Bevölkerung und Regierungen zu sensibilisieren, genauer hinzuschauen.“

Auch Kanzlerin Angela Merkel warnte zur Eröffnung der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes in Berlin im Februar vor Desinformationen: Man müsse lernen, mit „sogenannten Fake News als Teil einer hybriden Kriegsführung umzugehen. Aus meiner Sicht ist das eine der entscheidenden Weichenstellungen für die zukünftige Sicherheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland.“

Hybride Kriegsführung? Die Vokabel soll Mischformen offener und verdeckter, regulärer und irregulärer, militärischer und nichtmilitärischer Kämpfe umschreiben. In modernen Konflikten wird die Grenze zwischen völkerrechtlich einigermaßen definiertem „Krieg“ und „Frieden“ unklar.

Die Experten prüfen Foren und Debatten

Oft handele es sich bei Falschmeldungen um Propaganda von Staaten, sagte Merkel. Wer der derzeit aktivste Staat dabei sei, ist für Janis Sarts in Riga offenkundig: Russland. Allerdings, das betonen auch Experten in Brüssel und Helsinki, seien viele Staaten, Bewegungen und kriminelle Kartelle willens und fähig zu Desinformationskampagnen. Man beobachte, heißt es, zuletzt von Islamisten systematisch gestreute Fake News.

Und so prüfen die Nato-Experten in Riga in zahlreichen Foren und Debatten: Werden auffällig viele Kommentare und Links zur gleichen Zeit gepostet? Dann könnte es sich um einen Bot handeln, ein eigens für solche Zecke eingesetztes Programm. Äußern sich Kommentatoren systematisch zu so disparaten Themen wie der Brasilien-Wahl und Lettlands Fußball-Liga? Auch dann spräche einiges dafür, dass keine Einzelperson dahintersteckt. Stimmen die gezeigten Fotos überhaupt? Ein durch massenhafte Polit-Kommentare aufgefallenes Profil einer russischen Bürgerin zeigte als Porträtbild ein Foto der kanadischen Schauspielerin Nina Dobrev.

Nicht immer stehen hinter zweifelhaften Internet-Akteuren staatliche Interessen. Allein in Russland, so eine Schätzung, sollen 300 Firmen geschäftsmäßig „Likes“ und „Follower“ verkaufen – allerdings meist zur „kommerziellen Manipulation“, sagen die Nato-Experten, also beispielsweise um die Aufmerksamkeit auf bestimmte Restaurants, Händler oder Arztpraxen zu lenken.

Teilnehmer einer Übung am „European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats“.
Teilnehmer einer Übung am „European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats“.

© Ints Kalnins/Reuters

Das Nato-Zentrum in Riga wird dennoch größer, man befinde sich in Gesprächen mit weiteren Staaten, heißt es. Schon heute gehören dem Zentrum nicht nur Nato-Mitglieder an, sondern auch Schweden und Finnland. Allerdings wird in Riga der Informationskrieg nur erforscht, gegebenenfalls dokumentiert – nicht zwangsläufig bekämpft.

Wenn feindliche Akteure im Netz aber gezielt Unruhe verbreiten, womöglich Manöverfehler, Unfälle, Aufstände provozieren. dann müssten betroffene Staaten reagieren. Um bei Lettland zu bleiben: Das Land ist Nato-Mitglied, im Fall eines – theoretisch auch virtuellen – Angriffs gilt Artikel 5 des Nato-Vertrages, die Beistandspflicht. Allerdings werden selbst Hardliner in Brüssel und Washington in Fake-News-Fällen kaum Militärschläge riskieren wollen. Und bei 29 Nato-Staaten und 28 EU-Ländern ist eine gemeinsame Linie derzeit sowieso nicht in Sicht.

Russlands Propaganda knüpft an reale Probleme an

Ändern können das nur die einzelnen Regierungen selbst. In Helsinki haben sie deshalb einen Thinktank eingerichtet: In Finnlands Hauptstadt hat das „European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats“ seinen Sitz. Ihm gehören 26 – darunter formal neutrale – Staaten an. Auch dieses Zentrum wächst, bald will Portugal beitreten. In Helsinki evaluiert der junge Litauer Vytautas Kersanskas, was im Fall von Propaganda-Angriffen zu tun sei: Eigene Kampagnen starten? Sanktionen verhängen? Geheimdienstaktionen? „Wir wollen in den kommenden Monaten einen Katalog an Maßnahmen entwickeln“, sagt Kersanskas, „wie angemessenen auf welche Art von Angriff reagiert werden kann.“

Nun ist es kein Zufall, dass sich ausgerechnet Letten und Litauer an Russlands Politik stören. Bis 1991 gehörte das Baltikum, neben Lettland und Litauen auch Estland, als drei Teilrepubliken der Sowjetunion an. Die nahmen viele Balten als russisch-dominiert wahr. Dies nicht nur, weil Moskau die sowjetische Hauptstadt war, sondern auch weil nach 1945 viele Arbeiter- und Funktionärsfamilien aus Russland ins Baltikum zogen.

Die Balten-Staaten traten 2004 der Nato bei. In Moskau fühlt man sich seitdem provoziert – während man sich in Riga seit dem Krieg in der Ukraine darum sorgt, ob Moskaus Armee nicht auch in Lettland einrücken könnte. Dort wiederum bezeichnen sich 25 bis 30 Prozent der Einwohner als Russen. Und Lettlands Regierungen macht es ihnen nicht leicht: Rund 200.000 Russen in Lettland haben bis heute keine lettische Staatsbürgerschaft. Zudem zogen erst im März 1000 Letten durch Riga, um lettischer Veteranen der Waffen-SS zu gedenken. Das erleichtert es Moskau, von antirussischer Diskriminierung zu sprechen.

Viktors Makarovs ist Sicherheitsberater der lettischen Regierung – und Russe. Als Sohn russischsprachiger Sowjetbürger hatte auch Makarovs nach der Wende zunächst keine Staatsbürgerschaft. „Doch das Verfahren zum Erhalt der Staatsbürgerschaft ist einfach“, sagt Makarovs. „Trotzdem ist nicht alles falsch, was russische Medien über Lettland verbreiten.“ Makarovs sagt, Russlands Propaganda knüpfe an reale Probleme an: So wanderten Balten zuletzt massenhaft aus, Erwerbslosigkeit ist in den russischsprachigen Gemeinden des Landes besonders verbreitet. Was also ist ein Debattenbeitrag, was Falschinformation?

Manchmal wird schlicht gelogen

Rita Rudusa, eine über Lettland hinaus bekannte Reporterin, sagt: Der Kern solcher Kampagnen stimme oft – dann aber würden Fakten übertrieben oder aus dem Kontext genommen, um ein bestimmtes Bild zu zeichnen. Russland wolle Lettland als „failed state“ darstellen und auch die Staaten in Westeuropa als vom Zerfall bedroht. Mit Blick darauf stelle sich die Frage, was legitime Debatten sind – über Dekadenz oder Einwandererkriminalität – und was sich als Propaganda disqualifiziert – über „Sittenverfall“ oder „Flüchtlingshorden“.

Manchmal aber, sagt Rudusa, werde auch schlicht gelogen: So seien in russischen Medien kürzlich Bilder aufgetaucht, die einen mit Plastikflaschen zugemüllten Wald zeigten. Dazu: „Kanadische Soldaten verunstalten Lettlands Wald.“ Recherchen hätten ergeben, dass diese Plastikflaschen in Lettland gar nicht erhältlich seien, aber in Russland.

In Riga und Helsinki sagen sie unisono, der Westen sollte die Freiheit im Netz, letztlich die Meinungs- und Pressefreiheit, nicht einschränken. Dennoch müsse darüber nachgedacht werden, ob man die sozialen Medien reguliere. Denn wer auf den großen Online-Plattformen Fake News lese, dem würden automatisch Artikel, Clips, Kommentare zugespielt, die daran anknüpfen. Dafür sorgen die Algorithmen der Plattformen selbst – Facebook, Twitter, Instagram, Youtube, Google sind so programmiert, dass sie den Benutzer mit ähnlichen Inhalten beliefern. Ihren Sitz haben diese Firmen in den USA. Für Verlage, Banken und die Autoindustrie würden schließlich auch Standards und Regularien gelten, sagt Janis Sarts in Riga. Vielleicht müsse Ähnliches eben auch für Internetfirmen eingeführt werden.

Die Reise nach Riga und Helsinki hat das US-Außenministerium bezahlt.

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