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Drehbuchautorin Annette Hess

© Lucas Wahl / Kollektiv25

Drehbuchautorin Annette Hess: Die große Unbekannte

„Weißensee“ stammt von ihr und „Ku’damm 56“. Annette Hess ist Deutschlands erfolgreichste Drehbuchautorin - doch berühmt werden andere

Sie sind die wahren Ghostwriter. Unsere Zeitgeistschreiber. Aber auch die besten von ihnen sind meist nur die berühmten Unbekannten unter den Autoren von heute. Eben die Geisterschreiber. Zumindest in der deutschen Kultur- und Medienlandschaft.

Wir sprechen von denen, die für die Filme im Kino und Fernsehen die Plots erfinden, die Drehbücher schreiben. Und Deutschlands vermutlich tollste und mittlerweile erfolgreichste Drehbuchautorin wohnt dazu auch noch – hinter den sprichwörtlich sieben Bergen. Jedenfalls in der ziemlich tiefen Provinz, wo ihr die abgründig spannenden, die traurigen und die komischen Geschichten einfallen.

Die Kinder fahren mit dem Taxi zur Schule

Annette Hess lebt mit ihrem Mann, zwei Töchtern und Hund Rudi am Rand des deutschen Walds, durch den sogar die Zufahrt zu ihrem umgebauten schönen alten Bauernhaus führt, auf ungepflasterten Wegen. Weil dahin kein Bus fährt und die Oberschule im 15 Kilometer entfernten Hameln zum Radeln zu weit ist, kommen die Töchter auch schon mal (auf Staatskosten) mit dem Taxi zur Schule. Wenn die Eltern keine Zeit haben für den Transport durchs Weserbergland.

Mit Blick in die Natur aus ihrem Studio, das einst die Scheune des um 1780 errichteten, nach einem Brand vor hundert Jahren wiederaufgebauten Hauses war, erfindet Annette Hess auch großstädtische Welten. Die vielgerühmte, im Ostberliner Stasi- und Künstlermilieu spielende und dieses Jahr mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete MDR-Serie „Weißensee“ stammt von ihr; ebenso der im Frühjahr ausgestrahlte ZDF-Dreiteiler „Ku’damm 56“ oder vor einigen Jahren die Ufa/ARD-Großproduktion „Die Frau vom Checkpoint Charlie“.

Annette Hess kommt vom Land. Die schlanke Endvierzigerin ist im Dörfchen Helstorf bei Hannover aufgewachsen. Dort gab es einen Tennisverein, der noch „Germania“ hieß (Hess: „Mit zwei Plätzen“), und ihr schwebt als eines ihrer nächsten Projekte eine Kleinstadtsaga aus den 1980er Jahren vor. Da könnte ein Tennisklub, in den Werdezeiten der Generation Boris Becker und Steffi Graf, die Kulisse für ein Gesellschaftsbild der alten und doch schon im Umbruch befindlichen Bundesrepublik sein. „Hab ich erst mal den Plot, dann ist das Schreiben wie eine Kutschenfahrt im Sonnenschein!“

So geschah es beim brillanten „Kudamm 56“

So ähnlich geschah es beim brillanten „Kudamm 56“, wo der Titel das Jahr 1956 und zugleich die Hausnummer einer Tanzschule bedeutete. Der Einfall der Drehbuchautorin war, Gesellschaftstänze zum Spiegel eben der Gesellschaft zu machen und in der Geschichte einer Tanzlehrerfamilie ein Stück deutscher Weltgeschichte zu erzählen. Mit Ex-Nazis, Wirtschaftswunderlingen und einer mit dem noch „Negermusik“ genannten Rock n Roll aufbegehrenden jüngeren Generation.

Auf den Grundeinfall ist Annette Hess gekommen, als sie ihre ältere Tochter zur Tanzschule in die Kreisstadt Hameln kutschierte. Sie geht, wie fast alle Autoren, oft von persönlichen Erfahrungen aus, die dann im Kopf als fiktive Geschichten ihr mitunter fantastisches Eigenleben entwickeln. „Aber ich habe gern etwas zeitliche oder auch örtliche Distanz“, sagt Annette Hess, „das gibt mir mehr Freiheit, als wenn ich etwas aus dem gegenwärtigen Alltag nehme.“

In der Ferne so nah, könnte ihr Motto lauten. Einmal hat sie dafür sogar die Landschaft vor ihren Augen sich anverwandelt. Von ihrem am Hang gelegenen Haus geht der Blick herab über Felder, geht vorbei an einigen hinterm nächsten Dorf aufgepflanzten Windrädern (Realitätseinbruch in der Idylle, dann weit hinüber zu einem bewaldeten Höhenzug, dem Berg Ith. Der Sage nach hat der Rattenfänger von Hameln die Kinder der Stadt mit seinen Flötenklängen dorthin in eine Höhle entführt. Hess hat (in diesem Fall zusammen mit ihrer Schwester Christiane) den Märchenstoff zu einem neuzeitlichen Mysterythriller genutzt: mit bei Kriegsende erschossenen Schuljungen und weiteren Verbrechen. Das wirkte allerdings überfrachtet, und „Die Toten von Hameln“ kamen in der Kritik nicht so gut an. So was kann auch einer Grimme-Preisträgerin mal passieren.

Hess macht das Schwere leicht

Eigentlich gehört zu Annette Hess Begabung, das Schwere leicht zu machen, was Bert Brecht das Schwerste nannte. Auch in ihrem neuesten, am 12. November vom ZDF gezeigten Film aus der Serie „Der Kommissar und das Meer“, Titel „Für immer dein“, spielt ein Wald und das Nächtlich-Neblige eine etwas mystische Rolle. Doch das passt hier und wirkt eher als dunkel-ironisches Zitat. Denn es geht um einen deutsch-skandinavischen Gotland-Krimi. Gotland ist eine schwedische Insel, und neben dem deutschen Kommissar in der hünenhaften Gestalt von Walter Sittler sind einige prominente schwedische Schauspieler mit von der Partie. Unter ihnen, als polizeiliche Pathologin und Spusi-Chefin auch Inger Nilsson, die in ihren jüngeren Jahren einst das internationale Kinopublikum verzückt hat als Darstellerin von Pippi Langstrumpf.

So etwas freut Annette Hess besonders. Obwohl sie große, wunderbare Männer-Rollen schreibt für Schauspieler wie etwa Uwe Kockisch und Jörg Hartmann in „Weißensee“ oder Heino Ferch, Uwe Ochsenknecht und Sabin Tambrea in „Kudamm 56“ - ihre nicht feministische, aber feminine Zuneigung gilt besonders den Frauen. Und so verbinden sich mit ihren Filmen die Namen von Veronika Ferres (als die „Frau vom Checkpoint Charlie“), die Gesichter von Katrin Sass, Anna Loos oder Hannah Herzsprung in „Weißensee“, die fabelhafte junge Sonja Gerhardt in „Kudamm 56“ als erst verhuschte, geschundene, dann im Aufbegehren erwachende Tochter Sonja. Und dazu Claudia Michelsen als ihre Mutter, die Tanzschulenchefin.

Was Michelsen aus der von Hess erfundenen Rolle machte, war eine Wucht. Eine alleinerziehende Mutter, Trümmerfrauengeneration, stählernes Kreuz und Eiswürfel im Blut. Erst eine elegante Bestie mit klirrendem Blick, und allmählich auch eine ums familiäre Glück kämpfende Frau, nicht gebrochen, aber mit einem Sprung in der Seele. Daran hat die Regie von Sven Bohse gewiss ihren Anteil. Ermöglicht hat es freilich die Autorin, die sagt, dass es „immer noch viel zu wenige Frauen“ gibt an den Schaltstellen der Fernsehfilmmacht, als Drehbuchschreiberinnen oder Regisseurinnen. Sie sagt: „80 Prozent der Drehbuchschreiber sind Männer.“ Da herrsche zu wenig Balance.

Sie verbrachte den Sommer in Ingmar Bergmans noch original möbliertem Haus auf der Insel Farö

Annette Hess strahlt nicht nur als blonde Niedersächsin etwas unverkennbar Norddeutsches aus. Sie wirkt anfänglich zurückhaltend, dem Gast begegnen sehr wache, forschende Augen. Doch schnell wechselt das vermeintlich Spröde auch zum aufgeschlossen Direkten. Sie sagt gerne mal „ach, du Scheiße“ und hat Witz, verbunden mit legerem Selbstbewusstsein. Wann immer im Gespräch ihr Handy klingelt, geht sie mit einer kurzen Entschuldigung dran. „Nicht dass ichs verpasse, wenn Hollywood anruft!“

Ihr liegt das Nördliche. „Ich bin nicht so der Typ für Filme von Pedro Almodóvar, nicht für das Spanische oder den Süden. Außer“, setzt sie lachend hinzu, „bei Italo-Western.“

Ihr Lieblingsfilm? Wilde Erdbeeren

Ihr Lieblingsfilm, wenn sie einen wählen müsste, ist „Wilde Erdbeeren“ von Ingmar Bergman. Der Name des großen Schweden steht zudem auf einem ihrer T-Shirts. Eine Hommage. Als Bergman gestorben war, ist sie 2009 zu einer Auktion nach Stockholm gefahren, wo einige Dinge aus dem persönlichen Besitz des Regisseurs angeboten wurden. Bergmans Fernsehsessel hatte ihr jemand für 2500 Euro weggeschnappt. Doch zum Glück erwarb sie für 6500 Euro zwei Figürchen, eine hölzerne Madonna und einen Buddha aus Metall, die Bergman, ein gläubiger Atheist, wie kleine Schutzpatrone auf seinem Nachttisch stehen hatte. Wozu man anfügen darf, dass Annette Hess gerne mit präzisen Zahlen umgeht. Sie checkt immer sofort die Einschaltquoten ihrer Fernsehfilme und weiß auf Anhieb, dass der zweite Teil der „Frau vom Checkpoint Charlie“ mit 9,35 Millionen Zuschauern ihre Hitparade anführt.

Vor einem Jahr durfte sie mit besonderer Erlaubnis fünf Sommerwochen in Ingmar Bergmans noch original möbliertem Haus auf der Insel Farö verbringen und wollte am Schreibtisch des Meisters zur Abwechslung ihren ersten Roman beginnen. Doch stand dann noch die finale Fassung des „Kudamm“-Drehbuchs an.

Berlin, das kannte sie nicht nur von den Recherchen zu „Weißensee“, den Ortsterminen, den Gesprächen mit früheren DDR-Bürgern, die später bescheinigt haben, dass der vermeintlich fremde Blick der (nord)westdeutschen Autorin ihrer untergegangenen Welt sehr nahekam. „Weltuntergänge mag ich sowieso, die haben für mich was Reinigendes. Statt angestrengter Kunstfilme sehe ich zur Entspannung lieber mal die Apokalypse à la Roland Emmerich aus Hollywood.“

In Berlin lernte Hess ihren Mann kennen

Und Berlin? Nach Anfängen mit Malerei und Innenarchitektur an der Fachhochschule in Hannover, wo sie ihren Mann, einen freischaffenden Maler und Bildhauer kennenlernte, hat sie dort von 1994 bis 1998 szenisches Schreiben an der Hochschule (heute Universität) der Künste in Charlottenburg studiert, beim Großdramatiker Tankred Dorst und der Theaterautorin Gerlind Reinshagen. Danach jobbte sie als Programm- und Regieassistentin bei der ARD und verdiente zusätzlich Geld als Drehbuchlektorin für Produktionsfirmen und diverse Sender. 2004 wurde dann aus einem auf ihrer UdK-Abschlussarbeit beruhenden Drehbuch unter Achim von Borries Regie der Kinofilm „Was nutzt die Liebe in Gedanken“: mit Daniel Brühl, August Diehl und Anna Maria Mühe - die Geschichte einer realen Selbstmordtragödie unter Oberschülern 1927 in Berlin-Steglitz.

Bis heute schätzt Annette Hess zwar historische Anregungen, liebt aber die Originalstoffe. Keine Literaturverfilmungen. Die seien verglichen mit den Romanvorlagen meist nur schlechte Kopien. Als sie selber noch Kunst in Hannover studierte, habe sie kein Geld für Aktmodelle gehabt. Deshalb ging sie in die Gärten des Herrenhauser Schlosses und übte dort Aktzeichnen vor den nackten Skulpturen. „Irgendwann habe ich gemerkt, dass meine Skizzen akkurat waren, aber trotzdem nicht gut. Das lag daran, dass ich nicht lebendige Menschen, sondern Figuren aus Stein nachgeahmt habe.“

Sie sitzt in ihrem geräumigen Studio, der ehemaligen Scheune

Sie sitzt in ihrem geräumigen Studio, der ehemaligen Scheune. An der Decke Haken für eine Hängematte, die dient bei Schreibblockaden der „aktiven Hirndurchblutung“ und erinnert sie außerdem an die Schaukel der Effi Briest, einer literarischen Lieblingsfigur. Ihr Arbeitstisch mit dem PC ist ein grün angemaltes Stilmöbel, an der Wand daneben viele Bilder aller Art, sie mischt gerne Kunst und auch mal Kitsch, und über einem kleinen Ölbild von Notre-Dame und der Seine in Paris steht Ingmar Bergmans Spruch „Ich habe diesen Film in drei Monaten geschrieben, ich habe ihn in vier Monaten gedreht. Aber ich benötige für ihn ein ganzes Leben voll Erfahrungen.“

Nicht weit hängt auch ein rosa Luftballon mit weißen Herzen und der Aufschrift „Just married“. Den habe sie auf dem Waldweg hinter ihrem Haus gefunden, kürzlich bei einem Spaziergang mit Maria Furtwängler, als sie sich über ein mögliches Projekt unterhielten.

Annette Hess hat nach mehr als einem Dutzend Erfolgsfilmen und in den Sendern „gestählt durch unzählige Gesprächsrunden mit Bedenkenträgern“ durchgesetzt, dass sie gegenüber Produktion und Regie ein Mitspracherecht bei den Besetzungen hat, und beim Drehen ist sie häufig am Set. Sie gehört zur Oberklasse der Drehbuchautoren, mit wohl sechsstelligen Gagen. Aber richtig berühmt werden, anders als in den USA, meist nur die Regisseure. Das nimmt sie hin. Und macht nicht alles mit. So hat sie eine weitere „Weißensee“-Staffel abgelehnt, weil die Geschichte für sie zuletzt mit dem Mauerfall „schlüssig beendet war“. Mit dem Mauerbau könnte dagegen die Fortsetzung der Tanzstudio-Geschichte enden, genannt „Kudamm 60“. Dafür hat sie gerade das Konzept geschrieben, jetzt folgt die erste Drehbuchversion. Ihre herbstliche Kutschenfahrt.

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