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Übrig geblieben. Erika Kühne und Paul Urbanek sind die letzten Mieter im Haus Nummer 104.

© dpa/Patrick Pleul

Ein Brandenburger Dorf wird versteigert: Das letzte Gebot für Alwine

Normalerweise biegt niemand zu ihnen ab, von der Landstraße L65. Aber jetzt. Denn ihr Dorf soll versteigert werden. Komplett. 125.000 Euro für ein paar Häuser und Schuppen.

Von Andreas Austilat

Die Plane hängt an einem Maschendraht an der Landstraße, grünes Moos haftet auf dem weißen Plastik. Ein Zipfel weht einem vorbeifahrenden Lkw hinterher, verdeckt einen Teil des ohnehin lückenhaften Textes: „Preiswerte _ohnungen mit G_rten zu vermieten“, das klingt wie ein verlockendes Versprechen. Doch es fehlt nicht nur das „W“ in Wohnungen und das „a“ in Garten. Auch die letzte Ziffer der Telefonnummer des Maklers, sie kam irgendwann abhanden.

Die Nummer zog nicht, selbst als sie noch vollständig war. Jetzt werden keine Mieter mehr gesucht in den Häusern hinter dieser Plane: Ganz Alwine kommt unter den Hammer, eine „Siedlung mit Dorfcharakter“, wie es im Auktionskatalog heißt. Alwine in Brandenburgs südwestlicher Ecke, dem Elbe-Elster-Kreis, das sind fünf Doppelhaushälften, ein Zweifamilienhaus, ein Einfamilienhaus, zwei Mehrfamilienhäuser, mehrere Nebengebäude, Schuppen und Garagen, das sind etwa 20 Bewohner und mindestens fünf Hunde.

Ein ganzes Dorf wird versteigert? Wann hat es das je gegeben?

Seines Wissens noch nie, versichert Matthias Knake vom Berliner Immobilien-Auktionshaus Karhausen. Am 9. Dezember wird er Alwine als Nummer 58 aufrufen, das Mindestgebot beträgt 125.000 Euro – und zwar für das ganze Dorf.

„Naja, Dorf“, sagen sie im Rathaus der Gemeinde Uebigau-Wahrenbrück, deren knapp 5500 Einwohner sich auf 21 Orte verteilen. „Wir nennen so etwas Gemeindesplitter", weil Alwine nur eine Abspaltung von einem dieser 21 Orte ist. Dieser Splitter liegt ganz für sich einsam im Wald.

Es herrscht Stille auf Alwines einziger, schmaler Straße, die sich ringförmig durch die Siedlung zieht. Links stehen drei Autowracks vor dem Waldrand, rechts blättert der Putz von einer Fassade, liegen die roten Ziegel frei wie rohes Fleisch. An einer Außenwand hängt ein Lichtschalter aus Bakelit, wie man sie manchmal in alten Kellern findet. Zwei kleinere Häuser stehen ein wenig abseits, die Fensterhöhlen sind leer. Nur noch eine Frage der Zeit, dann werden sie vom Gestrüpp überwuchert sein. Vor einem Schuppen steht eine runde verzinkte Mülltonne aus DDR-Produktion, so eine, in die man auch heiße Asche einfüllen darf.

Neben der Tür von Nummer 103 – seltsam, dass alle Nummern der paar Häuser hier dreistellig sind – öffnet sich eine Klappe. Heraus stürmen vier sehr große Hunde, springen hinter dem Zaun auf und ab, fletschen die Zähne, gebärden sich wie toll.

„Ich würde dort nicht reingehen“, die Stimme kommt aus dem Parterrefenster von Nummer 104, einem mausbraunen Zweigeschosser mit spitzem Giebeldach. Sie gehört Erika Kühne, ihr Name steht draußen auf dem Klingelschild, neben dem Namen Urbanek. Alle anderen Felder sind leer. „Früher wohnten hier mal zwölf Personen“, sagt die 79-Jährige und lädt ein, in ihrer Küche Platz zu nehmen, da sei es wärmer. Den Kachelofen in der guten Stube heizt sie erst mittags an, dann reicht die Glut bis abends. Sie trägt eine sehr lange rote Strickjacke über ihrer Kittelschürze.

Den Wert der Briketts, mit denen Erika Kühne auch den Herd in ihrer Küche befeuert, kennt sie gut. Viele solcher Kohlestücke hat sie schon in der Hand gehabt, drüben im Braunkohlenwerk Wildgrube. Mit dem Fahrrad waren es nur 15 Minuten. Wegen dieser Nähe zur Arbeitsstelle seien sie hergezogen, am 13. Oktober 1963, wie sich Frau Kühne ganz genau erinnert, sie und ihr Mann, der fuhr die Kohlenlok. Heute, ihr Mann ist längst verstorben, ist sie die älteste Einwohnerin Alwines.

Als junge Frau, als der Rücken noch mitmachte, hat sie immer fünf Briketts zusammengedrückt und vom Band gegriffen, jedes einzelne ein Pfund schwer. Immer 50 hat sie zu einem Gebinde verschnürt. Die Briketts aus Wildgrube wurden überall hin geliefert, auch nach West-Berlin, damals noch Ofenheizungsmetropole. Wer seinerzeit ein Brikett mit der Aufschrift „Rekord“ in den Ofen steckte – der Name wurde hier erfunden – möglich, dass Erika Kühne es vorher in der Hand gehalten hatte.

Lange interessierte sich niemand für Alwine

Alwine stand im Braunkohleland. Und war eigentlich schon früher gar kein echtes Dorf. Alwine war eine Zeche, möglicherweise benannt nach einer Bergwerksdirektorentochter. Die Häuser stehen seltsam zusammengewürfelt in der Gegend rum, nicht säuberlich entlang der Straße oder rings um einen zentralen Platz, wie es für Dörfer üblich ist. Erst als vor 100 Jahren die Grube erschöpft war, da wurden die Schuppen, Werkstätten und Bürogebäude zu Wohnhäusern für die Arbeiter umgebaut, die ringsum weiter nach Kohle gruben.

„Stand der Wind schlecht, konnte man draußen keine Wäsche aufhängen“, erinnert sich Erika Kühne an die 1960er Jahre und wischt dabei ein unsichtbares Körnchen von der Tischdecke. 16 Tonnen Staub blies allein die Brikettfabrik Louise gleich um die Ecke täglich in die Luft. Durch die Wälder hallte das Klackern der Briketts, die aus ihren Presswerken auf stählerne Rinnen geschoben wurden, in drei Schichten rund um die Uhr. Bis Anfang der 90er Jahre mit der Wende Schluss war.

Die Brikettfabrik Louise wurde zu einem Museum. Und Alwine irgendwie auch – eines ohne Kassenhäuschen und Gruppenführungen.

„Da drüben, in der 103, da hatte Dr. Kuhl seine Praxis“, sagt Erika Kühne. Gleich neben dem Werksarzt praktizierte der Zahnarzt Schulz. Weggegangen, alle beide. Mit jedem Einwohner, der Alwine verließ, wurde es hier stiller. Neu gebaut wurde nicht. Alwine verwandelte sich allmählich in ein Museum der angehaltenen Zeit aus den letzten Tagen der DDR. Die Treuhand Liegenschaften übernahm, überall im Land veräußerte sie die alten Gewerbeimmobilien des Ostens, für Alwine interessierte sich lange niemand.

Wenn keiner etwas sagt in Frau Kühnes Küche, dann hört man nur das Blubbern des Kühlschranks, allenfalls mal ein Knacken im Herd. Von draußen kommt kein Mucks. Ob das nicht manchmal unheimlich sei, diese Stille? Überhaupt nicht, sagt Erika Kühne. Eigentlich fürchtet sie viel mehr, dass es mit der Ruhe bald ein Ende haben könnte. Denn seit bekannt ist, dass Alwine versteigert wird – „Sie glauben gar nicht, was da los war.“ Natürlich seien viele Journalisten gekommen. Aber auch Leute, die einfach so über die einzige Straße liefen und sich Notizen machten. Interessenten vielleicht, Frau Kühne weiß es nicht. Sie weiß nur, normalerweise biegt niemand von der Landstraße L 65 zu ihnen ab.

Außer an diesem Tag damals, im Jahr 2001. Da kamen zwei Männer in langen Mänteln. Der eine war Immobilienmakler, der andere sein Bruder. „Geschwärmt haben die, was sie hier alles machen würden.“ Die Treuhand wurde Alwine doch noch los, die beiden kauften das Dorf. „Gemacht haben sie dann gar nichts“, sagt Frau Kühne.

Der Immobilienmakler von damals ist unlängst gestorben. Und sein Bruder will mit dem Ganzen nichts mehr zu tun haben, nicht einmal seinen Namen in der Zeitung lesen. Immerhin, am Telefon erzählt er, dass sie damals 95 000 DM für die 16 000 Quadratmeter bezahlten, sein Bruder habe geglaubt, er könne aus Alwine etwas machen. Wie auch immer die Pläne ausgesehen hätten, nun sei der Immobilienbruder tot. Und weil er selbst eigentlich aus einer anderen Branche komme, er verdiene sein Geld mit Zoo-Geschäften, wolle er Alwine loswerden.

120 Kilometer bis Berlin

Frau Kühne ist nicht gut zu Fuß, geht an Krücken. „Schauen Sie nur, das ganze Gelumpe muss ich schlucken“, mit bitterem Lachen zeigt sie zu den Tablettenpackungen auf ihrem Küchentisch. Über dem Tisch hängt das Foto eines jungen Mannes. Ihr Sohn? Nein. Leider habe sie nach einer Fehlgeburt keine Kinder mehr bekommen können. Der Junge, das ist Christian, der 18-jährige Sohn ihrer ehemaligen Nachbarn. Die Nachbarn seien weggezogen, lebten heute nicht weit von hier in einem Eigenheim. Der Christian aber, den kenne sie, da war er noch ein Baby. Und bis heute komme er regelmäßig nach Schulschluss. Sie macht ihm Essen, er bringt ihr die Kohlen rein, hilft ihr bei den Besorgungen, wenn Herr Urbanek nicht da ist, der einzige im Haus verbliebene Nachbar.

Das sei ja gerade das Besondere an diesem Dorf, das doch eigentlich keines ist: Die, die noch da sind, helfen einander. Plötzlich ist sie es, die eine Frage stellt: „Glauben Sie, jemand wird Alwine kaufen?“

Das ist eine Frage, die jeden hier interessiert, auch Andreas Claus, Bürgermeister von Uebigau-Wahrenbrück. Wobei er seine Gemeinde durchaus im Aufwind sieht. „Das Leben“, sagt er, „findet doch auch dezentral statt“ und nicht mehr nur in den Metropolen. Dresden sei 75 Kilometer von Alwine entfernt, Leipzig 90 und Berlin 120 Kilometer.

Manch einer würde jetzt vielleicht sagen, damit sei man ziemlich weit weg von allem. Doch Andreas Claus zählt auf, wer sich in der Gemeinde Uebigau-Wahrenbrück mit ihren 21 Orten alles niedergelassen habe: ein Büromöbelhersteller, der Marktführer für Kunststoffschachtböden, ein Logistiker, ein Schaltanlagenbauer. Hier habe sich ein guter Mittelstand etabliert, die Bevölkerungszahl entwickle sich stabil und würde nicht mehr sinken wie nach der Wende.

Tatsächlich tut sich etwas in den verstreut liegenden Teilen seiner Gemeinde. Viele Häuser sind renoviert. Und den Bus, der nicht weit von Alwine an der „Kumpelklause“ in Domsdorf hält, den gab es zu DDR-Zeiten noch nicht.

An Alwine allerdings fährt er ohne Halt vorbei.

Aus einem Fenster im Obergeschoss von Nummer 103 schaut jetzt ein Mädchen. Die Hunde sind verstummt und im Haus verschwunden. Dafür kommt ein junger Mann heraus, seine bloßen Füße stecken trotz der Kälte in offenen Sandalen. Nein, hineinlassen könne er leider niemanden, der Hausherr sei krank und dann seien da ja noch die Hunde. Im gleichen Moment fährt ein Auto vor.

Aus der Beifahrertür steigt Angela Köhn, eine große blonde Frau, die beim Reden sehr viel blinzelt. Vor 15 Jahren sei sie mit ihrem Mann aus Frankfurt am Main hierhergezogen, wegen eines Jobs, den man ihm in der Nähe versprochen hatte. Seitdem leben sie in Alwine, mit einigen Freunden und sechs ihrer acht Kinder, von denen eines hier geboren wurde. Ihr Mann erkrankte schwer, erlitt dann noch einen Schlaganfall, nun kann er mit 52 Jahren gar nicht mehr arbeiten.

Da ist es ein Glück, dass wenigstens die Wohnung günstig ist, 750 Euro für zwölf Zimmer. Wo sollten sie so etwas je wieder finden? Im Übrigen würden sie auch diese 750 Euro nicht mehr zahlen. Der Vermieter vernachlässige die Siedlung sowieso. Was nun werde? „Das wollen wir doch mal sehen“, sagt Angelika Köhn und reckt das Kinn vor.

Auf der Fahrerseite ist inzwischen auch Paul Urbanek ausgestiegen, der Nachbar von Erika Kühne. Urbanek spricht mit dem Dialekt der Küste, sein Tonfall und der weiße Vollbart geben ihm etwas von einem Seemann. Tatsächlich war er in Kiel Friedhofsgärtner. Wie er nach Alwine kam? Das war nach seiner Scheidung. Die Einzelheiten sind ein wenig kompliziert und fast klingt es so, als wisse Paul Urbanek die Antwort selbst nicht so genau. Eines aber weiß er: Weg geht er hier nicht mehr, denn „die Stadt“, sagt er, „da will ich nicht geschenkt hin“. Hier habe er alles, was er brauche, vor allem seine Ruhe.

Geld hat hier keiner

Urbanek ist 71 und rüstig. Er hackt das Holz für sich und Frau Kühne, der Jagdverein hat ihm erlaubt, was sie brauchen aus dem Wald zu holen, so sind die Leute hier. Aber er kann auch schimpfen, darüber, dass sich jahrelang keiner um irgendetwas gekümmert habe, dass bei ihm die Wände feucht sind und das Dach wohl undicht. Stolz zeigt er auf ein paar Buchsbäume vor dem Haus Nummer 104, die hat er in Form geschnitten, so wie er das vielleicht in seinem früheren Leben auf dem Friedhof gemacht hat.

Ob irgendjemand hier oder vielleicht alle zusammen die 125.000 Euro Kaufpreis für Alwine aufbringen könnten? Da lacht er und schüttelt den Kopf. Hier habe keiner Geld. Nein, er glaube ohnehin nicht, dass überhaupt irgendwer Alwine kaufen werde. Und wenn doch einer käme – dann würde der bestimmt alles abreißen.

Mit dem Abreißen ist das so eine Sache, erzählen sie im Rathaus von Uebigau. Im Flächennutzungsplan ist das Terrain, auf dem Alwine steht, als landwirtschaftliche Fläche ausgewiesen. Dort darf man nichts neu bauen. Nur die existierenden Gebäude genießen Bestandsschutz. Stehen die nicht mehr da, gibt es auch keinen Bestand. Dann müsse der Flächennutzungsplan geändert werden, müsse ein Bebauungsplan her, heißt es. „Schwierig“, sagt die Frau vom Bauordnungsamt in Uebigau, das könne sowieso nur in der Kreisstadt Herzberg entschieden werden.

Paul Urbanek öffnet die Eingangstür zum mausbraunen Haus Nummer 104. Hinter seiner Wohnungstür schlägt ein Hund an. Leider könne er niemanden Fremdes hineinbitten, wegen des Hundes. Zum Abschied sagt er noch, man müsse unbedingt mal abends hierherkommen, oder frühmorgens, wenn die Rehe aus dem Wald treten. Manchmal säßen er und Frau Kühne dann einfach nur vor dem Haus und guckten in die Gegend.

Erika Kühne hat derweil einen Topf mit Wasser aufgesetzt. Es soll Makkaroni geben, Christians Leibgericht. Der Junge müsse gleich aus der Schule kommen, sagt sie. Ab dem nächsten September werde er sie wohl nicht mehr häufig besuchen, weil er dann zum Studieren nach Cottbus gehe. Oder nach Senftenberg. Auf jeden Fall weg.

Wieder einer weniger, hier in Alwine.

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