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Lkws warten auf einem Rastplatz.

© Milan Noga reco - stock.adobe.co

Europäischer Fernverkehr: Lkw-Fahrer – die Sklaven der globalisierten Welt

Wochenlang unterwegs, Nächte und Sonntage fern der Familie. Früher galten Lastkraftfahrer als Kapitäne der Landstraße. Das hat sich geändert.

Sonntag ist Filmtag. Bartek hat die große Frontscheibe seiner Zugmaschine mit einem Vorhang verdunkelt. Der Laptop zum Filmegucken liegt auf dem Armaturenbrett. Bartek sitzt, wo er immer sitzt, auf seinem breiten und bequemen Fahrersessel. Der federt zehn Zentimeter hoch, wenn Bartek aufsteht. Barteks Frau und sein kleiner Sohn lächeln von Fotos auf ihn herunter. Der Innenraum seiner Fahrerkabine ist mit schwarzem Kunstleder verkleidet. Von der Decke hängt ein kleines Holzkreuz.

Bartek ist Fernfahrer, 28 Jahre alt, ein bisschen schwer um die Hüften, einer von tausenden Berufskraftfahrern, die im grenzenlosen Europa Tag und Nacht außer an Sonntagen unterwegs sind, damit die Supermarktregale mit irischer Butter, spanischen Paprikas, portugiesischem Rotwein und Trauben aus Griechenland gefüllt sind. Den Sonntag verbringt er auf einem Rastplatz am Berliner Ring. Die Kennzeichen der Sattelzüge sagen nichts über den, der am Steuer sitzt. Polen, Tschechen, Rumänen, Russen fahren Laster mit deutschen oder österreichischen Kennzeichen, deutsche Spediteure gründen Niederlassungen in Rumänien, um ihre Fahrzeuge dort zuzulassen. Es heißt, man könne dort auch Prüfplaketten kaufen, als Nachweis der jährlichen Fahrzeuguntersuchung.

Die Fahrer mit ihren Vierzigtonnern sind Arbeiter auf dem Fließband der großen Straßen, die rollenden Nachschublager einer Wirtschaft, die ohne Lagerkosten auskommen will. Sie leben das Leben motorisierter Nomaden mit 500 PS unter und mehr als 30 Tonnen Last hinter sich, unterwegs im endlosen Rauschen des Autobahnverkehrs – ein modernes Prekariat im grenzenlosen Europa. Der Job ständig bedroht von noch billiger fahrenden Kollegen aus noch weiter im Osten liegenden, wirtschaftlich darbenden Ländern.

Früher waren sie die Kapitäne der Landstraße, in Filmen glorifiziert, mal „nachts auf der Straße“ (mit Hans Albers), mal unterwegs zum „Lohn der Angst“ (mit Yves Montand), mal als ausgekochtes Schlitzohr auf amerikanischen Landstraßen. Heute wirken sie wie Sklaven – und manche bezeichnen sich selber so. Auf die Kosten kommt es an in ihrem Gewerbe.

Über Wochen leben die Fahrer auf drei Quadratmetern. Einer wie Bartek muss von der Zahnpasta über den Wasserkocher bis zum Saft oder Bier für den Filmnachmittag alles dabei haben, einschließlich Toilettenpapier. Manche Fahrer haben sogar Campingkocher dabei. Wenn es kalt wird, hocken sie neben den Rädern, schützen sich mit Pappe gegen den Wind, und machen sich, wie auf dem Campingplatz, etwas zu essen, während ihre Frauen zuhause allein die Kinder groß ziehen, die ihre Väter im Zwei- oder Vierwochenrhythmus neu kennenlernen. Wie sich das anfühlt für einen wie Bartek, dessen Junge erst vier ist? Jeden Tag, sagt er, vermisse er ihn, suche er nach einem guten Job in Polen. Ein bisschen Fußball spielen mit dem Jungen kann er nur, wenn er mal frei hat.

Eine gefährliche Branche

Die Trucker – Frauen sieht man so gut wie nie in dieser Männerwelt – fahren, pausieren und schlafen in ihren Lastwagen. Sie rauchen, um wach zu bleiben. Sie überziehen ihre Fahrzeiten. Sie fahren mit Minimalabstand zum Vormann, um in dessen Windschatten Diesel zu sparen. Nicht selten bringen sie sich und andere in Lebensgefahr. Schwere Unfälle passieren fast jeden Tag, mehr als 19 000 waren es laut Statistik 2016, bei denen Menschen verletzt oder getötet wurden.

Wie gefährlich es zugeht in der Branche, zeigte sich im blitzenden Blaulicht Ende 2017, als ein betrunkener Fahrer aus der Ukraine auf der Autobahn 61 bei Viersen ein Polizeiauto rammte, dessen Besatzung den Sattelzug stoppen wollte. Eine junge Polizisten kam dabei ums Leben, eine Kollegin und ein Kollege wurden schwer verletzt.

Unfälle wie dieser sind selten. Doch die Polizeimeldungen mit der Formulierung „aufgefahren auf Stauende“ kommt immer mal wieder von den großen Transitstrecken wie dem Berliner Ring. Wann Übermüdung, Unaufmerksamkeit, Alkohol die Ursache ist, zeigt sich erst, wenn es zu spät ist. Wenn es Abend wird und sie ihre elf, zwölf, dreizehn Stunden unterwegs waren, fahren sie auf die Parkplätze an der Autobahn – wer zu spät kommt, muss in der Einfahrt stehen. Die Infrastruktur dort? Zwei Dixi-Klos. An den Sonntagen sind die Park- und Rastplätze des Autobahnrings voller Sattelzüge, in denen die Fahrer auf Mitternacht warten. Erst dann dürfen sie weiter.

Erlaubt sind diese Wochenendübernachtungen nicht. Der Bundestag hat 2017 das „Fahrpersonalgesetz“ geändert und beschlossen, dass regelmäßige wöchentliche Ruhezeiten „nicht im Fahrzeug“ verbracht werden dürfen. Verstöße können dem Arbeitgeber und dem Fahrer hohe Bußgelder einbringen – bis zu 1500 Euro für die Spediteure. Doch die Fahrer seien nicht verpflichtet, Hotelrechnungen aufzubewahren, sagt Jörg Heinze vom Bundesamt für Güterverkehr.

An einem Morgen im April sind Heinze und seine Kollegen mit drei Fahrzeugen auf der A 9 unterwegs. Sie machen Lenkzeitkontrollen, fahren mit ihren Fahrzeugen vor den Lkw, signalisieren ihm „Folgen“ und lotsen ihn auf den Rastplatz. Dann lesen sie per Laptop den digitalen Tachometer des Lasters aus und prüfen, ob der Fahrer zu lange gefahren ist und zu wenig Pausen gemacht hat, prüfen außerdem die Fahrerkarte – die Lizenz zum Lkw-Fahren – und den Führerschein. Die Fahrerkarte wird in den digitalen Tacho gesteckt. Sie speichert die Arbeitszeiten.

Alkohol am Steuer

Die Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten sind ungefähr so vielseitig wie die deutsche Behördenlandschaft. Es gibt lange und kurze Wochenenden für die Fahrer und Möglichkeiten, kurze Wochenenden auszugleichen. Es gibt die Vorschrift, nach einer Fahrzeit von viereinhalb Stunden eine Pause von 45 Minuten zu machen, die man allerdings in 15 und dreißig Minuten aufteilen kann. Es gibt übervolle Parkplätze, so dass eine Pause nicht möglich ist, elektronische Bauteile, um den digitalen Tacho mal auszuschalten, das Bundesamt für den Güterverkehr, BAG, die Polizei und den Zoll.

„Unsere Befugnis“, sagt Jörg Heinze, „endet bei einer Straftat. Da sind wir raus.“ Beispiel Alkohol am Steuer. Wenn Heinze und seine Kollegen den Eindruck haben, dass ein Fahrer angetrunken ist, wenn es in der Kabine auffällig intensiv nach Pfefferminz-Raumspray riecht, dann holen sie die Polizei. Bis die da sei, sagt Heinze, müsse man die Fahrer genau im Auge haben. Sonst könnten sie behaupten, sie seien aufgeregt wegen der Kontrolle und hätten dagegen schnell einen Schnaps getrunken.

Heinzes Kollegen haben einen Sattelzug mit polnischem Kennzeichen auf den Parkplatz geholt. Der Fahrer, wie die meisten in Jogginghose und T-Shirt, guckt irritiert und zündet sich erstmal eine Zigarette an. Dann fragt er, ob er auf Toilette gehen kann, während der Tacho ausgelesen wird. Nach einer Viertelstunde ist alles erledigt. Lenk- und Pausenzeiten sind korrekt, zu schnell gefahren ist er auch nicht. Seine Ladung, schwere Holzplatten, ist perfekt gesichert. Der junge Mann lächelt erleichtert, steigt in die Zugmaschine und fährt weiter.

Jetzt rollt ein Laster mit Hänger hinter dem BAG-Transporter auf den Rastplatz. Er hat etagenweise Schweine geladen. Kaum steht er, hört man das Scharren und Grunzen und die Belüftungsventilatoren gehen an. Aufgeregt wirbeln die Tiere Sägespäne aus ihren Verschlägen.

Die Politik hält sich zurück

Mit den beiden Fahrern aus den Niederlanden gibt es immerhin keine Verständigungsprobleme. Der grauhaarige Alte hat am Steuer gesessen, der junge mit dem schütteren Bärtchen in der Kabine geschlafen. Sie transportierten Zuchtschweine, sagt einer der beiden, sollen nach Italien gefahren werden. Jetzt ist erstmal eine längere Pause angesagt. Ein kräftiger Geruch verbreitet sich. Die Tacho- und Lenkzeitkontrolle dauert. Vor allem der jüngere Fahrer hat – das Programm auf dem BAG-Laptop zeigt es genau – eine Serie von Verstößen zusammengefahren. Seit 23 Stunden sind die beiden unterwegs, einer hat zehneinhalb Stunden „reine Lenkzeit“, sagt ein Kontrolleur. 250 Euro Kaution müssen sie zahlen, dann rollt der rot-silberne Lastzug mit den Schweinen weiter, der Tiergeruch verzieht sich. Die meisten Fahrer seien auf Strafgelder eingestellt, heißt es bei den Kontrolleuren, haben eigens dafür von ihren Chefs Prepaid-Kreditkarten bekommen.

Dass die Spediteure mit Kontrollen auf deutschen Autobahnen dazu gebracht werden können, den massiven Druck von den Fahrern zu nehmen, glaubt keiner hier auf dem Parkplatz Borker Heide. „Jedes Jahr zehn Prozent mehr Verkehr“, sagt Heinze. Hühnereier würden von Holland nach Polen gebracht und dort ausgebrütet, Hotelwäsche werde in Berlin gesammelt und in Polen gewaschen. Die Zahl der Kontrolleure des BAG sei von 245 im Jahr 2008 auf „unter 200“ gesunken.

In der Politik gibt es allenfalls ein theoretisches Problemverständnis. Die Logistikbranche mache rund 250 Milliarden Euro Umsatz in Deutschland, heißt es in einer Resolution des Bundestags zum Güterkraftverkehrsgesetz, Transport und Logistik hätten „enorme Relevanz für die deutsche Volkswirtschaft“. Die Verkehrs- und Wirtschaftspolitiker wissen, dass es ein starkes Lohn- und Sozialkostengefälle zwischen West- und Osteuropa gibt. Sie regen an, Sozialvorschriften in Europa zu vereinheitlichen. Das wird dauern.

Die Tristesse des Trucker-Daseins wird selten zu Worten und Geschichten. Schon weil die wenigsten osteuropäischen Fahrer Fremdsprachen können. Sie ist zu erahnen, wenn man Fotos von Frauen und Kindern auf den Smartphones der Fahrer sieht. Wenn man die Sonntags-Langeweile auf den großen Rastplätzen fast zu greifen können meint. Wenn Asphalt und Beton über Wochen zum Lebensraum werden und der Geruch von Gummi und Diesel dessen Atmosphäre.

Die Fahrer haben keine Lobby

Die Fahrer haben in Deutschland keinen Interessenvertreter, keinen Lobbyisten. Vielleicht deshalb hat der Kölner Autor Jan Bergrath diese Szene zum Hintergrund eines Krimis gemacht, in dem es um tödliche Folgen der Ausbeutung osteuropäischer Fahrer geht: „Spur der Laster.“ Bergrath, Jahrgang 1958, ein großer, schwerer Mann, erzählt beim Treffen in einer Moabiter Kneipe gern davon, wie er als Student selber Lkw gefahren ist. Aber das waren andere Zeiten, ohne permanente Kontrolle durch den Chef, der auf dem Computerschirm sieht, dass sein Lkw gerade nicht fährt und den Fahrer gleich anruft: „Warum stehst du?“

Am Kölner Containerbahnhof Eifeltor frischt Bergrath seine Kenntnisse und Eindrücke regelmäßig auf, er wohnt in der Nähe. Bergrath spricht von einem riesengroßen Ost-West-Konflikt, den es in der Branche gebe.

Im Transitland Brandenburg rechnen die Fachleute damit, dass der Lkw- und Transporterverkehr bis 2030 noch einmal um 38 Prozent zunehmen wird. Der Präsident des Bundesamts für Güterverkehr, Andreas Marquardt, hat die Brandenburger Politiker auch darauf hingewiesen, dass es an den Autobahnen viel zu wenig Parkplätze gibt: „Wir können nicht auf der einen Seite von den Unternehmen verlangen, dass die Fahrer ihre Lenk- und Ruhezeiten einhalten, ihnen auf der anderen Seite aber keine Chancen dazu geben.“ Verständlich, dass Marquardt zugab, der Kontrolldruck sei „nicht besonders groß“.

Bartek aus Polen wartet auf dem Rastplatz am Berliner Ring weiter auf das Ende des Sonntags und den Beginn einer Arbeitswoche, die ihn seiner Familie näherbringt. Er verdiene fünfzehnhundert Euro im Monat, sagt er in gebrochenem Englisch – in Polen bekäme er bloß fünfhundert. Zwei Wochen sei er unterwegs, dann eine Woche zuhause. Ein Arbeitsleben als Zwangseinzelgänger.

Das jetzt, seine Freizeit, sei reines Zeitschinden. Bartek wagt es selten, seinen Sattelzug allein zu lassen – wo soll man auch hin, wenn das Arbeitsgerät auf einem Rastplatz weit entfernt von der nächsten Stadt parkt und mit seiner Ladung einige hunderttausend Euro wert ist?

Rekord: 28 Tage auf Achse

Auf einem deutlich größeren Rastplatz als der, auf dem Bartek immer weitere Filme guckt, in Stolpe, waschen Männer ihre Sachen. Ein Fahrer hat die in Tarnfarben gemusterte Hose an der Laderampe zum Trocknen aufgehängt. Zwei Tschechen stehen zwischen den Zugmaschinen und plaudern. Ein anderer hat seinen Kochtopf auf den Lkw gestellt, ein Netz Kartoffeln liegt in der Nähe. Vier Polen haben die Plane hochgeschlagen, die Ladefläche dient als Tresen. Es gibt Pils aus Deutschland und Zigaretten.

Stolpe ist ein großer Rastplatz. Wenn es nicht zu voll ist, können die Fahrer ihre Sattelzüge so weit weg von der Autobahn parken, dass sie in Ruhe schlafen. Und sonst? Zwischen zwei in Deutschland zugelassenen Sattelzügen stehen ein großer Mann mit einem mächtigen Bauch und ein kleinerer mit grauen Haaren, der anders aussieht als der Normal-Trucker in der Jogginghose. Er trägt Jeans und eine schwarze Fleecejacke. Er sei Russe, sagt er. Hier auf diesem Parkplatz hält er wohl den Fahrerrekord: 28 Tage am Stück, dann per Bus nach Hause. Soldat sei er gewesen, bei der sowjetischen Marine. Auf dem linken Unterarm ist blassblau verwaschen ein tätowierter Anker zu sehen.

Nach dem Ende der Roten Armee – Russland „kaputt“, wie er sagt, sei er Lkw-Fahrer in Spanien geworden. Dann kam dort die Krise. Spanien „kaputt“, sagt er und macht einen Fußtritt nach, um zu zeigen, was das für Menschen wie ihn bedeutete. 56 sei er, sein Leben „Arbeit und Arbeit und Arbeit“. Dass er fitter wirke als andere, komme davon, dass er nicht rauche und nicht trinke. Und morgens Liegestützen mache auf dem Rastplatz, jedenfalls sonntags. In der Woche gehe das nicht. „Keine Zeit“.

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