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Gemeinsamer Nenner. Europas Sozialdemokraten wollen Martin Schulz am Sonnabend zu ihrem Spitzenkandidaten küren.

© picture alliance / dpa

Europawahl: Martin Schulz will an Jacques Delors anknüpfen

Am Samstag wird EU-Parlamentschef Schulz als sozialdemokratischer Spitzenkandidat zur Europawahl nominiert - er möchte an Jacques Delors anknüpfen.

Es gibt Tage, an denen Martin Schulz vermutlich ganz froh ist, dem Berliner Politikbetrieb entrinnen zu können. Und dieser gehört zweifelsohne dazu. Als Schulz, der Mann der Sozialdemokraten für Europa, die Treppe des Willy-Brandt-Hauses hochsteigt, hat der SPD-Vorstand gerade eine quälende Debatte über den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy hinter sich. Schulz hat es jetzt eilig, er muss in Tegel seinen Flug nach Rom erwischen. Er wechselt ein paar Worte mit seinem Vertrauten Matthias Machnig, der ihm den Europawahlkampf organisiert. Dann schnell runter mit dem Aufzug in die Tiefgarage, wo bereits der Chauffeur wartet. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt zum Flughafen. In der hat Martin Schulz Zeit. Zeit zum Reden.

Europas Sozialdemokraten wollen Schulz am Sonnabend in Rom zu ihrem Spitzenkandidaten für die Europawahl küren. Dass vor der Wahl im Mai die Affäre Edathy hochkocht, passt ihm gar nicht. Der EU-Parlamentspräsident weiß, wie schnell ein Streit in Berlin eine noch so gut geplante Europa-Kampagne verhageln kann. „Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass kurzfristig aufwallende nationale Themen oder auch internationale Fragen Europawahlkämpfe überlagern“, schimpft er und lässt sich auf den Rücksitz fallen.

Schulz hat schon viele Europawahlkämpfe erlebt, bei denen es schlecht lief für die SPD. 1999 beispielsweise blieben etliche sozialdemokratische Wähler wegen des Kosovo-Krieges der Abstimmung fern, beim nächsten Mal schreckte sie die Agendapolitik des Bundeskanzlers Gerhard Schröder massenhaft ab. Bei der Wahl am 25. Mai steht für Schulz mehr auf dem Spiel denn je. Denn der 58-Jährige führt nicht nur die Liste der SPD an, sondern steht auch an der Spitze aller Sozialdemokraten in Europa.

Als der Wagen das Willy-Brandt-Haus verlässt, hat der Kandidat das Jackett ausgezogen, bleibt aber in Lauerstellung. In den vergangenen zwei Jahren hat Schulz selten ein Blatt vor den Mund genommen und damit einen für europäische Verhältnisse beachtlichen Bekanntheitsgrad erreicht. Beim SPD-Parteitag in Leipzig wurde er im November mit knapp 98 Prozent zum Europabeauftragten der Partei gewählt – zehn Prozentpunkte mehr als noch 2011. „Wir haben jetzt fünf, sechs Jahre hinter uns, in denen Europa die Schlagzeilen jeden Tag stark mit beherrscht hat – durch die Euro-Krise, die Debatte um die Staatshaushalte, die Haftung.“ Deshalb gehe es in diesem Wahlkampf nicht mehr darum, den Leuten zu erklären, wie dieses Europa funktioniert, sagt er. „Welchen Kurs nimmt diese EU?“ Das sei die Frage, über die die Leute bei der Wahl entscheiden wollten. Und daran richte er seinen Wahlkampf aus.

An diesen Plänen ändert auch die Entscheidung der Karlsruher Richter nichts, die am Mittwoch die in Deutschland bislang geltende Drei-Prozent-Hürde für das Europaparlament gekippt haben. Schulz hätte sich ein anderes Urteil gewünscht, ist aber sicher, dass es den Wählern auch bei ihrer Entscheidung über das Europaparlament – trotz aller Unterschiede zum Bundestag – letztlich um eine Richtungsentscheidung gehen wird. Jetzt komme es darauf an, „dass möglichst keine extremistischen Parteien ins Europaparlament einziehen“.

Schulz’ Fahrer hat sich für den Weg durchs Regierungsviertel entschieden. In Sichtweite des Kanzleramts kommt Schulz auf seinen „telefonischen Draht“ zu Angela Merkel zu sprechen: „Den gibt es schon seit Jahren.“ Als Parlamentspräsident ergebe sich der Kontakt zur Kanzlerin zwangsläufig, etwa bei der Abstimmung über die Ukraine, die Bankenunion und die mittelfristige Finanzplanung der EU. An Angela Merkel schätzt er den Pragmatismus, auch wenn die gemeinsame Kompromisssuche „nicht jeder Linke gern“ sehe. Aber seine „institutionelle Rolle“ als EU-Parlamentspräsident verpflichte ihn nun einmal zur Absprache mit der Regierungschefin des größten Mitgliedslandes der Europäischen Union. Man darf allerdings gespannt darauf sein, wie Martin Schulz demnächst seine Amtspflichten und seine Ambitionen in einem Wahlkampf, in dem sich SPD und Union wenig schenken dürften, vereinen will.

Vom Bürgermeister in NRW zum Kandidaten für die Barroso-Nachfolge

Der Verkehr stockt auf der Straße des 17. Juni, eine Kolonne mit Blaulicht umrundet die Siegessäule. „Guckt mal, da kommt der belgische König“, ruft Schulz amüsiert. Während König Philippe und Königin Mathilde vorbeifahren, gerät er ins Plaudern und erzählt von Albert II., der bei seinem Parlamentsbesuch vor einem Jahr ganze 20 Minuten zu spät dran war. Aber: „Ein König ist nie zu spät, es ist die Uhr, die sich täuscht“, habe der Brüsseler Monarch zu ihm gesagt. Genüsslich erzählt Schulz die Anekdote, im französischen Originalton und auf Deutsch mit rheinischem Singsang. „Herr Schuuhulz!“, schallt es durch den Wagen, als der EU-Parlamentschef die Entrüstung des Königs nachahmt.

Der König und der Herr Schulz. Die Geschichte des Martin Schulz aus Würselen ist auch die Geschichte eines Mannes aus einfachen Verhältnissen, der sich im europäischen Betrieb ganz nach oben gearbeitet hat. Sein Vater stammt aus einer saarländischen Bergarbeiterfamilie und wurde Polizist. In der Schule entwickelt Sohn Martin zwar eine Begeisterung für Sprachen, aber bis zum Abitur schafft er es nicht am katholischen Heilig-Geist-Gymnasium.

Mit 19 tritt er in die SPD ein. Schulz beginnt eine Ausbildung zum Buchhändler, doch mit Mitte 20 ist es für ihn zur Gewohnheit geworden, zu viel Alkohol zu trinken. Als Schulz sein Problem nicht mehr verheimlichen kann, verliert er seine Stelle im Buchladen. Gut möglich, dass Schulz sich heute, mehr als drei Jahrzehnte später, so vehement für junge Arbeitslose im Süden Europas einsetzt, weil er weiß, wie es sich anfühlt, jung jede Perspektive zu verlieren.

Sein älterer Bruder Erwin ist Arzt, er hilft damals dem Jüngeren, sich von der Sucht zu befreien. So schafft Schulz es, eine eigene Buchhandlung in Würselen zu gründen. Auch der Gang in die Politik, für die er sich schon früh interessiert hat, erscheint ihm plötzlich als eine realistische Chance. Als er 1987 Bürgermeister wird, ist er der jüngste unter seinen Amtskollegen in Nordrhein-Westfalen.

Mit demselben Ehrgeiz verfolgt der Politiker dann auch seine Karriere in Europa. 1994 bekommt er ein Mandat fürs Europaparlament, zehn Jahre später wird er Fraktionschef der Sozialisten. Öffentlich bekannt wird er 2003, als es im EU-Parlament zu einem Wortgefecht mit dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi kommt, der ihn mit einem KZ-Aufseher vergleicht. Es ist nicht das letzte Mal, dass Schulz’ Name auf den Titelseiten steht.

Ist er jemand, der bewusst den schlagzeilenträchtigen Eklat sucht? Der sein Amt für parteipolitische Zwecke missbraucht? Schulz macht ganz gerne mal Rabbatz, weil er die Regeln der medialen Aufmerksamkeitsökonomie genau kennt. Vorletzte Woche erregte er wieder einmal Aufsehen, als er auf Israelbesuch eine Rede in der Knesset hielt. Schulz hatte die Wasserknappheit der Palästinenser angesprochen, dabei falsche Zahlen kolportiert und den nationalreligiösen Vertretern der Siedler auch einen willkommenen Vorwand geliefert, um den Plenarsaal in Jerusalem zu verlassen. „Ich habe eine sehr pro-israelische Rede gehalten“, verteidigt sich Schulz. „Ich habe versucht, in sehr behutsamer Weise eines der Hauptthemen, das alle Resolutionen des Europaparlamentes beinhaltet, vorzutragen – nämlich die Wasserversorgung.“

Wenn die Kameras nicht dabei sind, kann es auch mal passieren, dass Schulz aus der Haut fährt. Jemand, der bei den Berliner Koalitionsverhandlungen Ende 2013 dabei war, erinnert sich jedenfalls, dass Schulz in der Unterarbeitsgruppe zur Bankenregulierung, Europa und dem Euro von den eigenen Genossen nicht viel Widerspruch duldete. Als er doch kam, wurde Schulz laut. „Er wollte als der große Hauptverhandler für die SPD da herauskommen“, sagt einer der Teilnehmer.

Die Fähigkeit, andere wegzubeißen, braucht man wohl, wenn man in der Politik so weit nach oben kommen will wie Schulz. Und jetzt träumt er vom ganz großen Karrieresprung. Nach der Europawahl möchte der SPD-Politiker die Nachfolge von EU-Kommissionschef José Manuel Barroso antreten. Das geplante Verfahren zur Besetzung ist neu, man muss es sich so vorstellen: EU-Ratschef Herman Van Rompuy wird nach der Wahl die Fraktionschefs im Europaparlament fragen, wer aus ihrer Sicht für die Nachfolge Barrosos infrage kommt.

Die Antwort aus dem Europaparlament wird Ratschef Van Rompuy dann Merkel und Co. – also den Staats- und Regierungschefs in der EU – vorstellen, die ihrerseits eine Entscheidung fällen müssen. Das Verfahren stellt genauso ein Novum dar wie die Aufstellung europaweiter Spitzenkandidaten durch die Parteienfamilien. Doch auch wenn es bislang unerprobt ist, steht eines bereits fest: Wenn Schulz wirklich EU-Kommissionschef werden will, muss er zunächst einmal das jämmerliche Ergebnis der SPD von der letzten Europawahl – 20,8 Prozent – erheblich verbessern.

Schulz hat schon feste Vorstellungen, was sich mit ihm als Kommissionspräsidenten verändern würde. Er glaubt, dass Europa – zumindest was das Kräfteverhältnis zwischen den Brüsseler Institutionen anbelangt – zurückkehren müsse zu den Zeiten des französischen Kommissionschefs Jacques Delors. Vor zwei Jahrzehnten habe die EU-Kommission noch wie ein „koordinierendes Zentrum“ gewirkt zwischen den Interessen der souveränen Staaten und der Brüsseler Ebene, die den EU-Bürgern Schutz im globalen Wettbewerb verspreche. „Damit der Vogel fliegen kann, müssen beide Flügel beweglich gehalten werden.“

Jetzt steht ihm erst einmal ein kräftezehrender Wahlkampf quer durch die Europäische Union bevor. Seine Wochenenden, die schon jetzt aus einem Samstagnachmittag und einem Sonntagvormittag bestehen, dürften noch kürzer werden. Zu seinem 1. FC Köln hat er es das letzte Mal im vergangenen April ins Stadion geschafft. Vermutlich wird es bis auf Weiteres sein letztes Spiel gewesen sein. Um abzuschalten hat Schulz sich ein Ritual aus der Vergangenheit bewahrt. Damals, als ihm die Alkoholsucht so zusetzte, habe er versucht, „Ordnung in meinen Kopf, meine Gefühle und mein Leben zu kriegen“. Dies sei ihm am besten gelungen, wenn er sich jeden Tag mit einem Buch in der Hand eine kurze Auszeit nahm. „Das hat zwei Effekte: Es entspannt mich enorm. Und Literatur macht mir einfach großen Spaß.“ Als Buchhändler habe er „von der Pike auf“ gelernt, sich schnell in ein Buch vertiefen und den Inhalt erfassen zu können. „Anders kann ein Buchhändler gar nicht arbeiten.“ Wenn er dann wieder auftauche, sei er „ein Stück freier“. Diese Übung helfe ihm bis heute, seine innere Ruhe zu finden. Schulz lacht, als er in Tegel aus dem Wagen steigt. „Sofern man von diesem Phänomen überhaupt bei mir sprechen kann.“

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