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Glanz und Elend. 100000 Menschen tauchen jährlich in Italien unter. Die Hälfte davon setzt sich vom reichen Mailand aus nach Nordeuropa ab. Im Mai findet dort auch die Expo statt.

© imago

Expo-Stadt: Als Flüchtling in Mailand gestrandet

Acht Menschen von seinem Boot sind auf See gestorben. Abrahm hat überlebt, nun ist er am Bahnhof von Mailand gestrandet. Die Stadt der aktuellen Expo hat sich zum Drehkreuz tausender Flüchtlinge entwickelt.

Es riecht nach Pisse und nach Blüten. Der Großstadtverkehr lärmt, Baumaschinen rattern. Abrahm sitzt da und füttert Tauben. Oder besser: Er spielt mit ihnen. Er sucht eine Beschäftigung. Zu tun hat er ja nichts. Und zu füttern nur winzige Krümel. Was Abrahm besitzt, füllt nicht mal die gelbe Einkaufstasche neben ihm. „Schau“, sagt er. In der Tasche sind zwei Packungen Kekse, eine schon halb leer. Mehr nicht.

Abrahm erzählt – in mühevollem Englisch – von zu Hause. Von einem Äthiopien, aus dem er davongelaufen ist, weil er politisch irgendwie nicht ins Konzept passte. „Die sperren dich einfach ein“, sagt er. Nach der zweiten Haft ist er abgehauen, hat seine Mutter alleine gelassen, und jetzt sitzt er in Mailand vor dem Hauptbahnhof. Wie so viele seinesgleichen auch. Ausgemergelte Gestalten, müder Blick, leere Augen, viele erst vor drei, vier Tagen irgendwo zwischen Libyen und Sizilien aus dem Meer gezogen. „Acht Leute“, sagt Abrahm und zeigt die Zahl mit seinen Fingern noch mal, „sind auf meinem Boot gestorben.“ Dann wendet er den Blick ab. „Wir haben die Leichen ins Wasser geworfen.“ Und jetzt? Abrahm zuckt mit den Schultern. „Ich will weg von hier. Schweden. Germany is good. Aber ich habe kein Geld.“

Nach drei, vier Tagen sind viele schon weitergereist

Mailand, die reiche Groß- und Finanzstadt, ist in den vergangenen Monaten immer stärker zur Anlaufstelle für den internationalen Flüchtlingsverkehr geworden. Die Geretteten kommen hier an aus den sizilianischen und kalabrischen Hafenstädten. Nach drei, vier Tagen sind sie wieder weg, auf den gleichen dunklen Wegen, auf denen sie angereist sind: geschleust, gelotst, aufs Geratewohl. Alle ohne Papiere. Höchstens mit ein paar Telefonnummern auf der Handfläche oder im Kopf. An die 55 000 Flüchtlinge, schätzt die Stadtverwaltung, sind allein in den letzten zwölf Monaten in Mailand durchgereist. Wenn es stimmt, dass vergangenes Jahr 170 000 Flüchtlinge in Italien angekommen, aber nur 70 000 im Land geblieben sind, dann sind von den 100 000 Verschwundenen mehr als die Hälfte durch Mailand gekommen.

„Wir müssen uns um sie kümmern“, sagt Gabriella Polifroni vom Sozialdezernat der Stadt, “aber wir können nicht mehr!“ Der Menge wegen zum einen, zum anderen wegen der Weltausstellung, der Expo 2015, die sich mit dem Thema Nahrung beschäftigt und zu der täglich Zehntausende von Touristen nach Mailand kommen: zahlende in diesem Falle, die das Bild der Stadt, das sich ihnen bietet, zu Hause weitergeben, so oder so. Ein Hauptbahnhof, wo Flüchtlinge jeden Tag in Pulks schlafen, kauern, sitzen, gilt da als unpassender Empfang für die erwarteten 20 Millionen Besucher. So hat die Stadt ein älteres Aufnahmelager an der Peripherie reaktiviert, hat Zelte aufgestellt und Container, und täglich schickt sie Busse am Hauptbahnhof vorbei, um die Afrikaner einzusammeln.

„Aber Mailand? Was ist Mailand?“ Die vier Schwarzen auf dem nächsten Mäuerchen, zwei aus Mali, zwei aus Togo, wissen nicht einmal, wo sie sind. Sie wissen nur, dass man sie diese Nacht aus einem Bus hier abgeladen und ihnen gesagt hat, sobald sie Geld für die Weiterreise aufgetrieben hätten, könnten sie sich ja wieder melden. „Jetzt warten wir“, sagt einer. Er knetet nervös eine alte Zeitung. Und woher soll das Geld kommen? Schulterzucken. Dann der eine: „Ich habe da einen Freund in Frankreich, vielleicht ...“ Wenn man nur ein paar Münzen bekäme, ihn anzurufen ... Und einer der Togolesen trommelt mit den Fingern einer Hand auf der anderen herum: Auch er will Telefontasten drücken.

Vor dem Regierungsgebäude sammeln sich die Gestrandeten

Scharen von Touristen klackern mit ihren Rollkoffern vorbei, durchgestylte Geschäftsleute und Börsenhändler in modisch knappen Anzügen stürmen im Schnellschritt über den Bahnhofsvorplatz. Gleich daneben hat die Regionalregierung der Lombardei ihr elegantes, grau-metallenes Hochhaus, einmal das höchste in Europa, mit den Fahnen aller 145 Expo-Teilnehmerstaaten bunt verkleidet. Und unten versammeln sich Gestrandete aller Länder. Die üblichen Stadtstreicher, sie haben wenigstens noch etwas, das sie ihr Eigen nennen können, ganze Einkaufswagen voll. Der vielleicht 40-jährige Senegalese daneben, der sich Samba nennt, der hat selber nicht viel mehr als die zwei frisch angekommenen, klapperdürren Eritreer neben ihm, um die er sich gerade zu kümmern scheint.

Samba in der glänzenden schwarzen Kunstlederjacke behauptet, dass er schon seit 15 Jahren in Mailand lebt, dass er „immer regulär gearbeitet und Steuern gezahlt“ hat. Vor zwei Jahren hat er den Job verloren: „Und ohne Job kriegst du in Italien nichts mehr, keine Sozialhilfe, keine Aufenthaltsgenehmigung, gar kein Papier, und wenn du keine Papiere mehr hast, dann geben sie dir selbst bei der Caritas kein Essen mehr.“ Dann, sagt Samba und zeigt auf einen kaum Dreißigjährigen, der da vor dem Bahnhof – „rattattattatatt“ – mit seiner Krücke auf Passanten zielt wie mit einer Maschinenpistole: „Dann, Bruder, geht’s dir so wie diesem Ahmed da. Er ist Marokkaner oder Mauretanier, irgend so was, und er hat sich kopfüber in den Alkohol gestürzt.“

Samba sagt, die beiden Eritreer, sie bräuchten so dringend Geld für ein wenig Essen. Man versucht, ihnen ein paar Münzen zu geben, doch die Hand des Senegalesen drängt sich dazwischen: „Ich geb’s ihnen weiter“, sagt er. Und die Eritreer blicken einem verzweifelt nach.

Wie ein Sozialarbeiter helfen will

Glanz und Elend. 100000 Menschen tauchen jährlich in Italien unter. Die Hälfte davon setzt sich vom reichen Mailand aus nach Nordeuropa ab. Im Mai findet dort auch die Expo statt.
Glanz und Elend. 100000 Menschen tauchen jährlich in Italien unter. Die Hälfte davon setzt sich vom reichen Mailand aus nach Nordeuropa ab. Im Mai findet dort auch die Expo statt.

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Flüchtlingsgeschichten hat Desio De Meo gehört, die – sagt er – sind „so schrecklich, so unvorstellbar.“ Dabei kennt sich der 70-jährige De Meo mit menschlichen Schicksalen aus nach einem Leben voller Arbeit mit Obdachlosen, Junkies, jungen Straftätern, Arbeitslosen, in Mailand wie in Equador. Seit zwei Jahren, seit dem Beginn der Flüchtlingsströme, leitet er die „Casa Suraya“, wo Flüchtlinge aus Syrien Aufnahme finden für die drei, vier, fünf Tage eben, in denen sie in Mailand bleiben. Nonnen haben in ihrem Konvent ein ausgedientes Mädchenwohnheim freigeräumt, und De Meo hat sich auf einem der weiten Flure eine Bürokajüte eingerichtet, fliederfarben gestrichen, die Regenbogenfahne mit der Aufschrift „Pace“ an der Wand und einem aufblasbaren Globus auf dem Aktenschrank.

Draußen im üppig grünen Klosterpark lärmen Kinder herum, eine Spielzeugtrompete trötet ohne Unterlass. „Das ist eine Oase des Friedens hier“, sagt De Meo. „Nach den Bombardements in Syrien, den drei bis neun Monaten in der Wüste, dem Elend in libyschen Baracken und auf dem Meer fühlen sich die Kinder hier so richtig befreit.“

Sofern sie überhaupt angekommen sind. „Vor einem Jahr hatte ich junge Eltern aus Syrien da, die haben alle ihre vier Kinder auf dem Meer verloren“, erzählt De Meo: „Acht, vier, zwei Jahre und ein Jahr alt. Und der Vater hat sie auch noch eigenhändig ins Wasser gestoßen.“ Die Situation war ähnlich wie bei der großen Tragödie vom 19. April: vor lauter Aufregung der Flüchtlinge gerät ein überfülltes Boot exakt bei der Annäherung der Retter ins Schlingern. Der Vater hat Angst, beim Kentern könnten die Kinder mit untergehen, er zieht ihnen Schwimmwesten an und drängt sie von Bord. „Bis heute suchen die Eltern verzweifelt überall nach ihren Kindern. Sie müssen doch überlebt haben, sie müssen. Aber wer hat sie gerettet, wo sind sie?“

Sie berichten von Streit, Misshandlungen

De Meo erzählt, was seine Gäste ihm berichtet haben: von tödlichen Streitigkeiten um Rettungswesten an Bord der Flüchtlingsboote, von Misshandlungen in Libyen, davon, dass man sie „sogar für die Luft bezahlen lässt, die sie atmen.“ Er erzählt von einem Gewittersturm, bei dem im Sudan ungezählte Flüchtlinge ertrunken sind – „tatsächlich ertrunken! In einer Wüstengegend!“. Er erzählt von Christen aus Aleppo, „die zuerst fünf zusammengebombte Mauern überwinden mussten, bevor sie sich aus ihrem Haus befreien konnten“, und vom Besitzer einer syrischen Schuhfabrik, „der erst aufgegeben hat, als Granaten alle seine 38 Mitarbeiter getötet hatten“. Diese Leute, sagt De Meo, „erklären mir, dass sie sich in Syrien schon gestorben fühlten. Da machte die Lebensgefahr auf dem Meer für sie auch nichts mehr aus.“

Einmal sei ein 11-Jähriger im Klostergarten auf eine hohe Stange geklettert, sagt De Meo: „Der Vater saß unten und hat geraucht. Ich bin rausgestürzt, hab den Vater gewarnt, der Junge könnte runterfallen. ,Ach, lassen Sie‘, hat mir der gesagt, ,wir haben so furchtbare Dinge erlebt, da ist es schon gar nicht mehr schlimm, wenn er sich jetzt das Bein bricht. Hauptsache, er hat ein bisschen Spaß.‘ Und er hat seelenruhig an seiner Zigarette weitergezogen.“

In der „Casa Suraya“, betrieben von der katholischen, Caritas-nahen Sozialkooperative „Farsi Prossimo“ (übersetzt etwa: „Machen wir uns zum Nächsten für die Hilfsbedürftigen“), kommen vorwiegend Familien unter. Bisher waren fast nur Syrer da, „praktisch alles gehobene Mittelklasse, Akademiker, Ärzte, Ingenieure“. Einmal sei sogar eine berühmte syrische Schauspielerin dabei gewesen. Neuerdings reisen immer mehr Eritreer ein. Die Stadt schickt sie – jeden Morgen, sofern De Meo Platz hat – aus dem Hauptbahnhof hinaus.

Über welche Kanäle sie nach drei, vier, fünf Tagen die Weiterreise organisieren, weiß De Meo auch nicht: „Sie sind dann einfach wieder weg.“ Beziehungsweise: „Es sind schon welche weinend zurückgekommen, einer sogar dreimal, weil man ihnen wertloses Papier als angebliche Bahntickets verkauft hat. Die haben dreitausend Euro ausgegeben und Mailand nie verlassen.“ Und wenn die Schleuser sich allzu eng und allzu auffällig um die „Casa Suraya“ drängeln, „dann rufen wir die Polizei.“

Auch sein Sohn ist arbeitslos

Aber was passiert, wenn De Meo versucht, die Flüchtlinge in Mailand, in Italien zu halten? „Dann umarmen sie mich und entschuldigen sich. Deutschland und Schweden sagen sie, bieten ihnen doch viel mehr Chancen. Sie fragen mich, welche Arbeit zum Beispiel mein Sohn hat. Dann muss ich ihnen sagen, er ist arbeitslos.“ Von 12 000 Flüchtlingen, die in den letzten beiden Jahren bei „Farsi Prossimo“ durchgekommen sind, haben nur acht einen Asylantrag in Italien gestellt.

Die Gefahr, dass Schutzsuchende in die Hände von kriminellen Menschenhändlern fallen und mit Leib und Leben für ihre Flucht bezahlen müssen, halten Sozialarbeiter gerade in der Drehscheibe Mailand für „sehr groß“. Einblicke in die Transportstrukturen sind aber rar. So versucht die Stadt wenigstens, die unbegleiteten Minderjährigen zu halten. Wie viele von ihnen unter den 58 000 Flüchtlingen waren, die seit Oktober 2013 durch Mailand gegangen sind, teilt die Stadt nicht mit, nur: „Eine Notlage sehen wir bei Syrern und Eritreern nicht“, mailt Gabriella Polifroni vom Sozialdezernat: „Die nicht begleiteten Minderjährigen werden von Polizei, Jugendgericht und Stadt in eigenen Einrichtungen untergebracht. Sie stehen unter dem Schutz des Gesetzes.“

Aber ob einer wie Semir sich in Mailand festhalten lässt? Nach vierzehn Monaten Flucht? Nach den 1400 Dollar, die „meine Familie und alle unsere Freunde“ allein für die Etappe Sudan-Libyen bezahlt haben und den weiteren 2000 Dollar für die Überfahrt nach Italien? Semir ist 17 Jahre alt, hochgeschossen und abgemagert. Mit seinem Landsmann Andat (19) sitzt auch Semir auf einem Mäuerchen vor dem Mailänder Hauptbahnhof. Und wartet. Auf den letzten Teil der Reise, über die Alpen, nach Deutschland. „Drei Tage noch!“, sagt er zum Abschied. Woher er das so genau weiß?

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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