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Eichner hat vier Schrauben im Rücken, die Wirbelsäule ist verformt, oft hat sie Schmerzen. „Das kann man aber überwinden.“

© Felix Hackenbruch

78-jährige Extremsportlerin aus Berlin: Sie läuft um ihr Leben

Über 2000 Marathons hat Sigrid Eichner bestritten – so viele wie wohl keine Frau weltweit. Und sie läuft immer weiter. Ankommen? Will sie gar nicht.

Dann fällt der Startschuss. Und Sigrid Eichner läuft. Langsam und gebeugt, aber entschlossen. Sie läuft weg vor dem, was sie ängstigt und langweilt und vor dem, was ihr schadet, vor ihrem Sofa, ihrer Wohnung, dem Alleinsein. Eichner läuft nur für sich. Hin zu dem, was sie glücklich macht und sie erfüllt. Wenn es stimmt, was sie sagt, dann läuft sie um ihr Leben.

Airfield Run auf dem Tempelhofer Feld, zehn Kilometer über Rollbahnen, Wiesen und durch Hangars, an einem Sonntag im April. Rund 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind da, Sigrid Eichner ist mit 78 Jahren die älteste. Sie trägt rote Fäustlinge, eine dicke Funktionsjacke und ausgelaufene gelbe Schuhe.

17 Stunden ist es her, dass sie beim Kyffhäuser-Marathon in Thüringen in ebendiesen Schuhen ins Ziel gekommen ist. Nach 42 Kilometern, 700 Höhenmetern und 6 Stunden und 40 Minuten. Dazu ein Grad Celsius, Nebel und Schnee. „Richtig dicke Flocken waren das“, sagt Eichner. Und nun die zehn Kilometer hier auf dem stillgelegten Flugplatz. „Beine locker machen“, sagt Eichner. Muskelkater kennt sie keinen.

Über 3500 Kilometer läuft sie pro Jahr

2165 Läufe über die Marathon-Distanz oder weiter hat Sigrid Eichner absolviert. So viel wie wohl keine andere Frau auf der Welt. Und auch wenn sie vier Schrauben im Rücken hat und bei Wettkämpfen längst nur noch hinterherrennt, denkt sie nicht ans Aufhören. „So lange ich laufe, lebe ich“, sagt Eichner. Und so läuft sie und läuft und läuft. 3500 Kilometer im Jahr – allein bei Wettkämpfen. Fast jedes Wochenende reist sie durch Deutschland, nimmt an Rennen teil, manchmal auch an Serien, bei denen sie Tage unterwegs ist.

Eichners Wohnung ist voller Urkunden und Pokale. Im Arbeitszimmer hängt eine Wand voller Medaillen – der Rest ist im Keller.
Eichners Wohnung ist voller Urkunden und Pokale. Im Arbeitszimmer hängt eine Wand voller Medaillen – der Rest ist im Keller.

© Felix Hackenbruch

Am Start in Tempelhof, auf den ersten paar Metern der zwei Fünf-Kilometer-Runden, wird die zierliche Eichner geradezu von den anderen Läufern überrannt, schnell ans Ende des Feldes durchgereicht. Langsam verlässt sie den Hangar, hinaus in den Berliner Regen, vor ihr liegt die Weite der alten Landebahn.

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Das erste Mal weggelaufen, um am Leben zu bleiben, ist Eichner, Jahrgang 1940, im Krieg. Sie flieht mit ihrer Mutter und den drei Geschwistern vor den Bomben und dann den Russen aus Neukölln, später aus Lübben. Erst in Ilfeld, einer kleinen Gemeinde im Harz, ist die Familie in Sicherheit. Der Vater kehrt nicht aus dem Krieg zurück, es herrscht Armut, Eichner bleibt schmächtig. Weil sie im Turnen talentiert ist, darf sie mit ihrer Schwester auf das Sportinternat ins nahe Nordhausen. „Das war die einzige Chance, uns ordentlich zu ernähren“, erinnert sich Eichner. Erstmals strukturiert der Sport ihren Alltag. Morgens Schule, mittags Training, abends Nachtruhe. Mit sieben anderen Mädchen teilt sie sich einen Schlafsaal. „Da war nichts mit Disko – aber es hat uns auch nichts gefehlt.“

Durch das Laufen emanzipierte sie sich

20 Jahre später, inzwischen hat Eichner Ökonomie studiert, geheiratet, drei Kinder. 1976 zieht die Familie zurück nach Berlin. Storkower Straße, Platte. „Die Stadt war irgendwie schrecklich“, sagt Eichner. Lärm, Stress, weite Wege, schlechte Luft. Oft ist sie mit den Kindern allein, ihr Mann auf Montage. Eichner fühlt sich allein und überfordert. Wenn ihr Mann doch mal zu Hause ist, soll sie sich ihm unterordnen, erzählt sie. Erniedrigt und gedemütigt habe sie sich gefühlt. „Und dann kam das Laufen“, sagt Eichner. Sie lächelt.

Im Stadtpark Lichtenberg beginnt sie, Runden zu laufen. Wieder eine Flucht, diesmal eine aus dem Alltag. „Egal wie lang, es war immer Erholung. Kein Verkehr, niemand rief ,Mama’. Der Kopf wurde frei, und auf einmal kamen gute Gedanken.“

Mein größter Respekt gilt vor allem der Bescheidenheit [...] Auch, wenn sie mittlerweile als Letzte durchs Ziel läuft, schafft sie sportlich mehr als die meisten Menschen. Einfach bewundernswert.

schreibt NutzerIn berlinradler

Im Stadtpark lernt sie andere Läufer kennen, wird Mitglied im Verein. 1980 nimmt sie zum ersten Mal am Rennsteiglauf teil. Die 45 Kilometer schafft sie auf Anhieb. Ein Erfolgserlebnis. Weitere Wettkämpfe folgen, Eichner wird schneller und mutiger. „Das Laufen hat mir Sicherheit und Unabhängigkeit gegeben“, sagt Eichner. 1981 beantragt sie die Scheidung von ihrem Mann. Freundschaften gehen zu Bruch. Sigrid Eichner füllt die Lücke mit Läufen. Jahr für Jahr steigt die Zahl der Trainings- und Wettkampfkilometer, sie reist durch die DDR, nimmt an Meisterschaften teil, sammelt erste Medaillen.

Jetzt will sie ins Guinness-Buch, um einen Sponsor zu finden

Zeugnisse dieser frühen Tage finden sich in Eichners Wohnung in Berlin-Friedrichshagen. Sie wohnt allein in einem grün-weiß getünchten Neubaublock. Die drei Zimmer wirken wie ein Laufmuseum. Überall stehen Pokale, Fotos von Zieleinläufen, Maskottchen von Laufevents, Preise für ihre Siege. Ihre Erfolge sind für Eichner allgegenwärtig, Familienfotos sieht man kaum. Im Arbeitszimmer hängen an einer Wand von der Decke bis zum Boden Medaillen. Der Rest ist im Keller. „Das ist mein Leben“, sagt Sigrid Eichner.

Sie ist gerade dabei Urkunden, Zeitungsberichte und Ergebnislisten zu scannen. Fünf Wäschekisten voller Ordner stehen in Gang und Wohnzimmer, im Arbeitszimmer sind zwei weitere Regale voll mit Papier. Eichner sortiert nicht nach Jahren, sondern nach Lauf. Für manche Wettkämpfe wie den Rennsteiglauf, bei dem sie 37 Mal startete, hat sie mehrere Ordner. Jetzt muss alles digitalisiert und nach London geschickt werden. So wollen es die Statuten des Guinness-Buchs der Rekorde. Eigentlich ist Eichner die Aufnahme gar nicht so wichtig, doch sie hofft, dadurch einen Sponsor zu finden.

Sigrid Eichner (78) in ihrer Wohnung in Friedrichshagen.
Sigrid Eichner (78) in ihrer Wohnung in Friedrichshagen.

© Felix Hackenbruch

Seit sie ihren Zuverdienstjob – Eichner arbeitete als Verpackerin – aufgeben musste, bringt ihr Hobby sie an ihre finanziellen Grenzen. Startgebühren werden immer teurer, hinzu kommen Anfahrt, Übernachtung und Verpflegung. Über alle Ausgaben führt Eichner Protokoll. Die Kosten von jedem Lauf werden in eine Excel-Tabelle eingetragen. Früher waren es mal 15 000 Euro, 2018 hat sie insgesamt 3412 Euro ausgegeben – für 88 Rennen und alles drumherum. Im Schnitt sind das nicht mal 40 Euro.

Eichner ist sparsam und streng zu sich. Wann immer es geht, reist sie in Fahrgemeinschaften oder nimmt billige Busse. Ins Hotel geht sie nie. Stattdessen Mehrbettzimmer in Hostels oder Jugendherbergen. „Mich stört das nicht. Ich will nur schlafen“, sagt Eichner. Am liebsten übernachtet sie mit anderen Läufern in der Sporthalle des Veranstalters.

Ihre Laufschuhe trägt sie, bis sie sich auflösen - nach 3000 Kilometern

Um zu laufen, verzichtet Eichner nicht nur auf Komfort während ihrer Reisen. „Ich probiere, mit 200 Euro im Monat auszukommen“, sagt Eichner. Sie trinkt Leitungswasser, isst hauptsächlich vegetarisch und geht nie ins Theater oder Kino. Ihre Laufschuhe trägt sie so lange, bis sie sich auflösen. 3000 Kilometer im Schnitt, Experten empfehlen etwa ein Drittel. Das Paar, in dem sie aktuell läuft, hat Löcher, mehrfach hat sie es besohlen lassen. „Die fühlen sich an wie Hausschuhe“, sagt Eichner. Spätestens zum Mauerweg-Lauf im August, wenn es 161 Kilometer auf dem ehemaligen Grenzstreifen um Berlin geht, will sie sich aber neue Schuhe besorgen.

Besondere Trophäen. 2016 lief sie ihren 2000. Marathon.
Besondere Trophäen. 2016 lief sie ihren 2000. Marathon.

© Felix Hackenbruch

Eichner ist eine puristische Läuferin. Keine Gels, kein Trainingsplan, keine Pulsuhr. Heute werde zu viel Aufwand betrieben, findet sie und beklagt die vielen Plastikbecher, die Reklame im Starterbeutel, die Kommerzialisierung der Läufe. „Die Veranstalter sind nur noch gewinnorientiert.“ Dass das Laufen heute boomt – „ist doch wunderschön, dass ich beim Berlin-Marathon aus dem letzten Block starte und wir immer noch 15 000 Läufer sind“, sagt Eichner.

Für sie ist es so etwas wie eine späte Genugtuung. „Die Milch wird sauer“, haben sie ihr früher hinterhergerufen. Eine Frau, die läuft! Spinnerin.

Beim Airfield Run hat Eichner inzwischen die erste der beiden Runden absolviert. Gebeugt und unbeugsam, an ihrem Stil erkennt man sie schon von Weitem. Der Sieger ist bereits im Ziel, hinter Eichner rollt nur noch ein Begleitfahrzeug. viele Zuschauer schauen überrascht und beginnen dann zu klatschen. Eichner ist durchnässt, am Getränkestand im Hangar stoppt sie nicht. „Für zehn Kilometer braucht man nicht zu trinken“, sagt sie. Auf dem Vorfeld spielt eine Band. Sigrid Eichner deutet eine kleine Tanzeinlage an und klatscht in Richtung der Musiker.

Bis zur Auflösung nutzt Eichner ihre Laufschuhe.
Bis zur Auflösung nutzt Eichner ihre Laufschuhe.

© Felix Hackenbruch

Stück für Stück ist die Laufszene ihre Familie geworden. Heute lebt ihre Tochter in der Nachbarschaft, manchmal passt Eichner auf die Enkel auf. Früher sei sie zu wenig zu Hause gewesen, sagen ihre Kinder manchmal zu ihr. Einige Jahre lang hat sie die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr mit Läufern aus der ganzen Welt verbracht. Tagsüber Marathon, abends Essen in der Runde und gemeinsam „Dinner for One“ schauen. Eine Gemeinschaft, die ihr in Friedrichshagen fehlt. „Wenn ich nach Etappen-Läufen nach Hause komme, fühle ich mich allein in meiner Wohnung. Richtig verloren.“

Heute, sagt Eichner, habe sie außerhalb der Laufwelt keine Freunde. „In dieser Hinsicht bin ich etwas einsam.“

Wenn sie nicht gerade bei einem Wettkampf ist, steht sie früh auf, trainiert, wäscht die Sportklamotten, organisiert die Logistik für neue Läufe, füllt ihre Statistik aus. Nur nie rasten. Es hat etwas Suchtartiges. „Laufen führt einen zurück auf das Ursprüngliche, das Einfache.“ Vor ihrem Fernseher bekommt sie nach kurzer Zeit die Krise. Manchmal hilft ein Buch. Harry Potter und den Hobbit mag sie, viele Klassiker stehen in ihrem Regal. Aber „wenn ich aus meinem Fenster schaue und jemand vorbeijoggt, denke ich: Verdammt! Das will ich auch.“

Sie lief in der Antarktis und auf den Seychellen

Bei vielen Wettkämpfen wird Eichner erkannt. Sie mag die Gemeinschaft. Pasta-Party am Vorabend, gemeinsam in der Turnhalle übernachten, im Morgengrauen Start. Hier hat die 78-Jährige ihre vertraute Rolle und vielleicht auch ihre Bühne. Und sie erhält Respekt.

Nach dem Mauerfall wird Eichner arbeitslos, die Bauakademie der DDR, an der sie arbeitete, wird 1991 aufgelöst. Die Kinder sind inzwischen ausgezogen, und wieder schließt das Laufen eine Lücke – jetzt gibt es für Eichner keine Grenzen mehr. Sie läuft Marathon in Paris, Taipeh und Tokio. „Nur durch das Laufen habe ich die Welt entdeckt“, sagt Eichner, die von vielen Läufen noch detailliert berichten kann.

In Ägypten wird sie wegen ihrer kurzen Laufkleidung mit Eselkot beworfen, in Island muss sie in einer Holzhütte Schutz vor einem Schneesturm suchen, in der Antarktis rennt sie neben Pinguinen. Auf Réunion läuft sie 167 Kilometer und 8000 Höhenmeter quer über die Insel beim „Lauf der Verrückten“, auf den Seychellen nimmt sie am „Umweltfreundlichen Marathon“ teil, in Neuseeland läuft sie wenige Wochen nach einer Bauchoperation die 42 Kilometer.

Glücklich, wenn sie läuft. Im August will sie 161 Kilometer beim Mauerweglauf rennen.
Glücklich, wenn sie läuft. Im August will sie 161 Kilometer beim Mauerweglauf rennen.

© AFP

In den 90er Jahren läuft Eichner mehr als 6000 Kilometer im Jahr. Krankheiten und Verletzungen können sie nicht lange stoppen. Einmal wird sie bei einem Autounfall schwer verletzt. „Wir dachten oft, dass es jetzt mit ihrer Lauferei zu Ende geht, aber sie hat ein unglaubliches Durchhaltevermögen“, sagt Hans-Joachim Meyer, ein guter Freund von Eichner. Gemeinsam haben die beiden den „100 Marathon Club“ gegründet. Rein kommt nur, wer mindestens 100 Marathons oder Ultramarathons absolviert hat. „Sie hat sehr viel für den Sport getan“, sagt Meyer, der wegen Arthrose im Knie im vergangenen Jahr mit dem Laufen aufhören musste. Er traut Eichner noch viele Wettkämpfe zu. „Wäre sie ein Mann, würde ich sie ein Stehaufmännchen nennen.“

Eichner redet nicht gerne über Verletzungen und Beschwerden. Natürlich gebe es bei langen Läufen Probleme. „Das kann man aber überwinden. Laufen ist nicht nur ein Gang durch Schmerzen. Es ist doch schön und macht Spaß.“ Ihr Credo: Was vom Laufen kommt, verschwindet auch wieder durch das Laufen. Wichtiger als die Beine ist der Kopf.

Im Ziel bekommt sie so viel Applaus wie der Sieger

Beim Airfield Run marschiert Sigrid Eichner dem Ziel entgegen. Nach einer Stunde und 20 Minuten biegt sie auf die Zielgerade. Ein paar Männer johlen ihr zu. „Na junge Frau, gleich geschafft.“ Eichner klatscht die ausgestreckten Hände ab, noch ein paar Meter. Als sie Hangar 5 betritt, brandet respektvoller Applaus auf. So laut war es nur beim Zieleinlauf des Siegers 45 Minuten zuvor. Eichner blickt nicht auf, läuft durchs Ziel, noch ein paar Meter weiter, dann stoppt sie und schaut auf die Uhr. „Ich bin Letzte geworden, oder?“ Mit Blick auf die Zeit der schnellsten Frau sagt sie: „Das bin ich früher auch gelaufen.“

Kurz vorm Ziel: Sigrid Eichner beim Airport Run.
Kurz vorm Ziel: Sigrid Eichner beim Airport Run.

© Felix Hackenbruch

Im nächsten Jahr will sie – wenn sie denn einen Sponsor findet – die sechs großen Marathons in Boston, New York, Chicago, Tokio, London und Berlin laufen. „Das hat in meiner Altersklasse noch niemand geschafft.“ Den Gedanken, dass es irgendwann nicht mehr gehen könnte, schiebt sie weg. „Notfalls mache ich den Marathon eben mit einem Rollator.“ Sie lacht nicht.

Sie schultert ihren Rucksack. Nach Hause, erholen. Am darauffolgenden Freitag will sie den nächsten Marathon laufen. Samstag, Sonntag und Montag auch. Vier Marathons an vier Tagen. „Die ersten 30 Minuten werden mühsam, aber dann geht es“, prophezeit Eichner. „Man muss es sich nur trauen.“

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