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Nah dran. Haare in 1320-facher Vergrößerung unter dem Elektronen-Mikroskop.

© P.M. Motta, K.R. Port/SPL

FBI-Skandal um falsche Haarproben: Frisierte Ergebnisse

Es ist einer der größten rechtsmedizinischen Skandale in der Geschichte der USA. Jahrzehntelang lieferten FBI-Experten fehlerhafte Haaranalysen. 32 Menschen wurden durch sie zum Tode verurteilt. Der Anwalt Chris Fabricant hat gleich mehrere Erklärungen für das flächendeckende Versagen.

Inzwischen würden auch seine Kinder verstehen, was er von Beruf sei. „Unschuldige aus dem Gefängnis holen: Das ist relativ einfach zu erklären“, sagt Chris Fabricant und deutet auf die Fotos seiner Tochter und seines Sohnes, die über dem Büroschreibtisch hängen. Bei seinem früheren Job sei es komplizierter gewesen. „Bringen Sie mal einer Fünfjährigen bei, dass es auch wichtig ist, für die Rechte von Kriminellen zu kämpfen.“

Der 44 Jahre alte Fabricant arbeitete jahrelang als Pflichtverteidiger in der Bronx und vertrat dort Mörder und Vergewaltiger vor Gericht. Bis er sich 2012 „The Innocence Project“ anschloss, einer Non-Profit-Organisation, die sich um die Aufklärung von Justizirrtümern kümmert. Wie unverzichtbar Fabricants Arbeit und die seiner Kollegen ist, wurde selten so deutlich wie in diesen Tagen.

Die „Washington Post“ hatte am vergangenen Wochenende enthüllt, dass FBI-Spezialisten jahrzehntelang fehlerhafte Haaranalysen an Gerichte geliefert und damit womöglich in Hunderten Fällen Fehlurteile verursacht haben. Die Zeitung zitierte aus einem Prüfungsbericht, den das Justizministerium vor einigen Jahren  in Auftrag gegeben hatte. Demnach stellten 26 von 28 FBI-Forensikern in 257 von 268 der bislang untersuchten Prozesse die Zuverlässigkeit der Haaranalysen übertrieben dar. Es wurden also in 95 Prozent der Fälle Beweise präsentiert, die nicht unbedingt welche waren. In 32 Fällen seien Menschen daraufhin zum Tode verurteilt worden. 14 von ihnen wurde bereits hingerichtet oder sind im Gefängnis gestorben. Das FBI hat den Report bestätigt.

Der Skandal erschüttert das Vertrauen in die Forensik

Es ist einer der größten Rechtsmedizinskandale in der Geschichte der Vereinigten Staaten, der das grundsätzliche Vertrauen in die Forensik erschüttert. Und vielleicht sogar mehr. Es könnte sich ein Paradigmenwechsel vollziehen, der den oft vertrauensseligen Blick auf die Wissenschaft an sich verändert. Genau das ist eines der Ziele von Chris Fabricant.

Als der Familienvater am vergangenen Sonntag in seiner Wohnung in Brooklyn aufwachte, stapelten sich die ungelesenen SMS im Posteingang auf seinem Handy. Der Artikel der „Washington Post“ war wenige Stunden zuvor online publiziert worden. „Viele Anwaltskollegen und Freunde haben es gelesen und mir sofort geschrieben“, erzählt Fabricant. Sie alle wussten, wie viel ihm die Veröffentlichung der Ergebnisse bedeutete. Denn sein Arbeitgeber, „The Innocence Project“, bei dem Fabricant sich langfristig um die wichtigen Fälle kümmert, war selbst an der Prüfung des Justizministeriums beteiligt – als unterstützende Kraft. „Und trotzdem ist diese unglaublich hohe Fehlerquote selbst für mich überraschend“, sagt Fabricant.

Die vergangenen Tage seien anstrengend gewesen. „Viele Anfragen, wenig Schlaf.“ Man sieht es ihm an. Doch der hochgeschossene Mann will nicht missverstanden werden: „Die Woche war großartig!“ Großartig? „Ja, selten gab es so viel Aufmerksamkeit für das Schicksal meiner Klienten.“

329 Menschen konnte "The Innocent Project" aus dem Gefängnis holen

Wer mit Chris Fabricant, der dunkelblaues Sakko zu Jeans trägt, durch die Räume von „The Innocence Project“ im Manhattaner Viertel Tribeca läuft, fällt der Blick auf die Bilder an den Wänden. Dort hängen nicht die typischen Büro-Landschaftsaufnahmen. Man schaut in die Gesichter von Männern. Schwarze, Weiße, Alte, Junge, Glatzen, Dreadlocks. Große Fotos, eingerahmt in Holz. „Das sind alles Menschen, die unschuldig im Gefängnis saßen“, erklärt Fabricant auf dem Weg in sein Büro. „2,7 Millionen Amerikaner befinden sich in Haft“, sagt er. „Wenn ich mir überlege, wie viele davon unschuldig sind ...“

Seit der Gründung durch die zwei Anwälte Peter Neufeld und Barry Scheck im Jahr 1992 konnte die Organisation 329 Männer und Frauen rückwirkend entlasten und ihnen die Freiheit zurückgeben. Viele von ihnen verbrachten Jahrzehnte hinter Gittern, manche wären sonst hingerichtet worden. „The Innocence Project“ hat heute 70 festangestellte und Hunderte ehrenamtliche Mitarbeiter. Finanziert wird der Betrieb hauptsächlich durch private Spenden.

Fabricant schildert den Fall Michael Morton. Der Mann aus Texas war im August 1986 beschuldigt worden, seine Frau im Ehebett ermordet zu haben. Morton wurde 1987 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt – obwohl die Tat ihm nicht nachgewiesen werden konnte. Im Gegenteil. „Polizisten hatten damals den dreijährigen Sohn, der Zeuge war, gefragt, ob sein Vater seine Mutter getötet habe“, sagt Fabricant. Das Kind verneinte. „Auf die Frage, wer es gewesen sei, sagte der Sohn: Ein Monster hat Mommy getötet.“ Doch diese Aussage – wie mehrere andere – hätten vor Gericht keine Rolle gespielt. „Der Sohn wuchs in dem Glauben auf, dass sein Vater seine Mutter getötet habe“, berichtet Fabricant. 2005 rollte „The Innocence Project“ den Fall neu auf. Anhand von DNA-Spuren konnten die Anwälte den polizeibekannten Straftäter Mark Alan Norwood als Täter überführen.

Michael Morton wurde im Jahr 2011 freigelassen – nach 25 Jahren im Gefängnis. „Sein Sohn und er sind gerade dabei, eine Beziehung aufzubauen“, sagt der Anwalt.

Schon sein Vater war Anwalt

Fabricant wurde in New York geboren. In Berührung mit dem Rechtssystem kam er schon als Kind – sein Vater war Pflichtverteidiger. „Er ist heute in Rente. Wir gehen ab und zu ein Bier trinken und sprechen über meine aktuellen Fälle“, erzählt Fabricant, der in Washington D.C. Kriminalrecht studierte und schnell danach selbst als Juraprofessor dozierte. Die Motivation für seine Arbeit sei wie bei seinem Vater stets „der Kampf für soziale Gerechtigkeit“ gewesen. Reich werde man nicht, sagt Fabricant. Aber weise.

Hat er eine Erklärung für dieses flächendeckende Versagen des FBI? Er hat mehrere. „Ein großes Problem ist, dass sich viele Forensiker zu sehr auf ihre Erfahrung verlassen anstatt wissenschaftlich genau zu arbeiten“, meint Fabricant. „So wird zum Beispiel angenommen, dass die zufällige Übereinstimmung zwischen den Haaren eines Verdächtigen und denen einer beliebigen anderen Person so unwahrscheinlich ist, dass sie nicht erwähnenswert ist. Doch genau das ist ein Irrtum.“ Bis heute gibt es keine konkreten Studien, wie oft sich Haare unterschiedlicher Personen mikroskopisch gleichen können.

Forensik werde laut Fabricant oft als etwas objektives, faktisches angesehen. „Dass hier Menschen am Werk sind, die auch befangen sein können, wird gerne ignoriert“, sagt der Jurist und zitiert ein Experiment, das der renommierte Neurowissenschaftler Itiel Dror 2004 durchführte. Dror ließ damals mehrere Fingerabdruck-Spezialisten Fälle untersuchen, die sie bereits in der Vergangenheit untersucht hatten – was diese jedoch nicht wussten. Entscheidend dabei: Dror gab den Spezialisten bei der zweiten Untersuchung andere Kontext-Informationen zum Fall mit auf den Weg. „60 Prozent kamen zu einem anderen Ergebnis als bei der ersten Analyse“, sagt Fabricant.

Chris Fabricant war Strafverteidiger, bevor er bei "The Innocence Projekt" anfing.
Chris Fabricant war Strafverteidiger, bevor er bei "The Innocence Projekt" anfing.

© Lukas Hermsmeier

Es ist bemerkenswert, dass Fabricant die Fehleranfälligkeit der Wissenschaft ausgerechnet mit einer wissenschaftlichen Studie belegt. Doch das stehe nicht im Widerspruch. „Ich bin kein Feind der Wissenschaft. Sie muss nur seriös sein. Dann kann sie Gerechtigkeit bringen“, argumentiert Fabricant, der seit Jahren Vorträge zu diesem Thema hält. „Auch Fingerabdrücke, Blutspuren, Bissabdrücke und so weiter sind keine zweifelsfreien Beweise.“

Ein weiteres Problem sei die Nähe der Forensiker zur Staatsanwaltschaft. Sie arbeiten meist im Auftrag der Anklage. „Der Interessenkonflikt ist unübersehbar. Man sieht, was man sehen will“, kritisiert Fabricant. „Und so laufen im ganzen Land Analysten herum, die vom FBI mangelhaft ausgebildet wurden. Es verbreitet sich wie ein Virus.“

Welche Schuld die Richter trifft

Fehlerhafte Analysen sind das Eine. Doch die Urteile werden noch immer von den Gerichten gefällt. Welche Schuld trifft diese? „Wir versuchen seit Jahren die Richter davon zu überzeugen, sich weiterbilden zu lassen“, sagt Fabricant. „Es ist enorm wichtig, dass genau verstanden wird, wie Falschaussagen zustande kommen. Wie zum Beispiel das Gedächtnis unter Druck reagiert.“

Studien, die Haaranalysen hohe Fehlerquoten bescheinigen, gibt es bereits seit den 80er Jahren. Im Jahr 2012 sorgte ein Artikel der „Washington Post“ für Aufsehen, der diese Zweifel untermauerte. Das US-Justizministerium stimmte daraufhin jener internen Prüfung zu, deren Ergebnisse nun bekannt wurden. Insgesamt wurden dafür 2500 Gerichtsurteile zwischen 1985 und 2000 untersucht . „Kein Analytiker hat bewusst falsche Gutachten vorgelegt oder vorsätzlich gelogen. Man hat damals an die Mikroskop-Technik geglaubt, obwohl sie unzureichend und manchmal fehlerhaft war“, sagte der frühere stellvertretende FBI-Direktor Tom Fuentes dem neuen Bericht zufolge.

Inzwischen würden auch keine Urteile allein auf Grundlage der mikroskopischen Haaranalysen mehr gemacht, erklärten FBI und Justizministerium. Zusätzlich würden die Haare nun auf ihre DNA analysiert. Chris Fabricant allerdings bezweifelt, dass Fehler wie die gemachten heute überall ausgeschlossen werden können „Wir brachen dringend nationale Standards“, sagt er.

Er rechnet mit großem Widerstand bei der Aufarbeitung

Was mit den im neuen FBI-Report erwähnten Fällen nun passiert, sei noch unklar. „Wir fordern, dass sich die Gerichte alles neu anschauen“, sagt Fabricant. Er rechnet mit großem Widerstand. Und zugleich hofft er, dass dieser Skandal etwas bewegt. „Lange Zeit galt es als ausgeschlossen, das Gerichte überhaupt Fehlurteile fällen. Das ist heute zum Glück anders“, sagt Fabricant.

In seinem Büro hängen Plakate der ehemaligen US-Präsidenten Roosevelt und Kennedy an der Wand. Glaubt er also noch grundsätzlich an das juristische System? „Ja schon, auch wenn das System kaputt ist“, sagt der dauerstirnrunzelnde Fabricant und lächelt. „Wir behelfen uns hier aber schon oft mit Zynismus.“

Nah dran. Haare in 1320-facher Vergrößerung unter dem Elektronen-Mikroskop.
Nah dran. Haare in 1320-facher Vergrößerung unter dem Elektronen-Mikroskop.

© P.M. Motta, K.R. Port/SPL

Chris Fabricant hat nie versucht, seine Sorgen und Gedanken vor seiner Familie zu verstecken. Er bespricht aktuelle Fälle mit seiner Frau, die als Psychotherapeutin arbeitet. „Wenn ich traurig bin, soll das meine Familie auch wissen“, sagt er. Zurzeit beschäftige ihn besonders der Fall Eddie Lee Howard, der 1992 eine 84-jährige Frau vergewaltigt und getötet haben soll. Bissspuren sollen Howard damals überführt haben. Er sitzt seit über 20 Jahren im Todestrakt von Mississippi. „Wir haben im Juni eine Anhörung. Ich bin überzeugt davon, dass er unschuldig ist. Doch wenn wir verlieren, wird er vermutlich hingerichtet“, sagt Fabricant.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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