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Für die SOS-Mission ideal. Die MS Aquarius wurde ursprünglich als Begleitboot für die deutsche Hochseeflotte gebaut.

© SOS Mediterranée

Flüchtlinge im Mittelmeer: Die Kurskorrektur

Europa habe das Mittelmeer zu einem Friedhof werden lassen, sagt Seenotretter Klaus Vogel. Es hätte die Mittel, Leben auf offener See zu retten. Mit der Aquarius ist der Gründer von SOS Mediterranée nun aufgebrochen, selbst etwas gegen das Sterben zu tun.

Es haben schon neue Zeitalter begonnen, nur weil ein Schiff ausgelaufen ist. Es nahm Kurs auf die offene See, und wenn daran auch nichts Außergewöhnliches war, so hatte sich die Welt doch verändert, als das Schiff, das den Namen Santa Maria oder Victoria oder Endeavour oder Fram oder Spray getragen haben mag, sein Ziel erreichte. Die Aquarius, die an einem nebeltriefenden Januartag an der Außenmole des Hafens von Sassnitz lag, könnte ebenfalls ein solches sein. Man sieht es Schiffen ja nicht an, für was sie ein Anfang sind. Am Samstag ist sie ausgelaufen.

In der Bordkantine sagte Klaus Vogel ein paar Tage zuvor, dass er es nicht erwarten könne, endlich aufzubrechen. Das zurückliegende Jahr sei aufreibend gewesen. „Auf See werden die Dinge im Verhältnis dazu einfach sein. Wir können uns auf unsere Aufgabe konzentrieren, nämlich Menschen zu retten.“

Aber noch sah Vogel durch die runden Fenster der Messe nur Rügen, Klippen an einem trüben Tag, grau und schwer wie Blei. Seit Mai 2015 hatte er seine Idee erklärt und Geld gesammelt, hatte geredet und geredet, obwohl ihm das gar nicht behage, wie er sagte. Er sei eher einer, der seine Arbeit gut mache und mit Resultaten überzeuge. 270.000 Euro kamen zusammen, mit dem Geld charterte er die Aquarius für drei Monate. Nun wartete Vogel auf seine möglicherweise wichtigste Rede. Er würde der neunköpfigen Besatzung der Aquarius gegenüberstehen, die über ihren neuen Job unterrichtet zu werden wünschte.

Ziviles Engagement auf Hoher See

Normalerweise steuert Klaus Vogel riesige Containerschiffe für die Hamburger Reederei Hapag-Lloyd über die Weltmeere. Und das wäre auch so weitergegangen, wenn er nicht bestürzt gewesen wäre über die humanitäre Notlage im Mittelmeer. Die europäischen Staaten hätten zugelassen, dass es ein Friedhof geworden sei. „Auf dem Meer braucht man Schutz“, sagt Vogel, „Wir haben Tausende von Jahren in Schiffbaukunst investiert und die Sicherheit auf See erhöht. Aber bei den Schlauchbooten, mit denen Flüchtlinge sich auf das Meer hinauswagen, zählt das nicht mehr.“ Deren Boote würden es eben aus den libyschen Hoheitsgewässern herausschaffen. „Offene Boote auf offenem Meer“, sagt Vogel wie über ein Naturgesetz, „bedeuten immer Lebensgefahr“.

Als im Herbst 2014 die italienische Rettungsaktion Mare Nostrum beendet wurde und es kein Konzept für die Folgezeit gab, wusste Vogel als Seemann, dass gewöhnliche Schiffsbesatzungen überfordert wären mit der Rettung so vieler Menschen, die ungeachtet europäischer Beschlüsse weiterhin versuchen würden, europäische Küsten zu erreichen.

Es brauche, dachte Vogel bei sich, eine Seenotrettung, wie es sie hierzulande mit der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gibt: ein zivilgesellschaftliches Engagement auf See, das Menschen zu Hilfe eilt und die passenden Schiffe dafür hat.

Die Idee für die Gründung von SOS Mediterranée, Sitz in Berlin, war so naheliegend, dass Vogel sich fragte, warum er sie nicht früher gehabt hatte. Und warum kein anderer.

Die Idealisten von Sea Watch haben ein wichtiges Signal gesetzt - dass Hilfe möglich ist

Die politische Debatte um Obergrenzen für Flüchtlinge sei das eine, sagte der Kapitän. Sie dürfe einen andererseits aber nicht davon abhalten, das Nötige zu tun. Man könne diese Aufgabe nicht Kriegsschiffen der Marine überlassen, wenn im siebenseitigen Parlamentsbeschluss nur drei Zeilen von Seenotrettung handeln. Sicher, Klaus Vogel hat in dem Jahr auch solche Landsleute getroffen, die meinten, das Mittelmeer sei weit weg und die Probleme am Lageso und an anderen Aufnahmestellen seien viel drängender. Warum also der Aufwand?

SOS-Mediterranée-Gründer Kapitän Klaus Vogel.
SOS-Mediterranée-Gründer Kapitän Klaus Vogel.

© SOS Mediterranée

Wegen desselben Gedankens, der in der alten Ballade "Nis Randers" steckt. Sie handelt von einer sorgenvollen Mutter, die ihren Sohn Nis davon abhalten will, im Sturm zu dem Wrack auf der Sandbank hinauszufahren, in dessen Mast noch ein Mann ums Überleben kämpft. Die Mutter klagt, dass sie ihren Ehemann ans Meer verloren habe sowie zwei Söhne. Nicht also auch noch den einen, der ihr geblieben ist, nicht Nis! Die Pointe ist, dass der sich trotzdem auf den Weg in das Unwetter macht, und wen rettet er? Den eigenen verschollenen Bruder.

Wobei, ein Laie hatte Vogels Idee durchaus auch gehabt: Harald Höppner, Kleinunternehmer aus Berlin, war noch nie zuvor auf See gewesen, gründete Sea Watch im vergangenen Mai, kaufte einen alten Kutter, hatte in der Talkshow von Günther Jauch einen denkwürdigen Auftritt und rettete im vergangenen Jahr 2000 Menschen. Das Sea-Watch-Team konnte sie nicht selbst an Bord nehmen, dafür war der Kutter zu klein, aber es leistete Erste Hilfe, bis Verstärkung eintraf. Die Situation auf dem Meer war für die Aktivisten oft aufreibend. Im Spätsommer erhielt Vogel eine Mail von Sea Watch mit der Bitte, sich zu beeilen.

Als im Herbst das Wetter vor Libyen zu hart wurde, wandte sich Sea Watch der bedrohlichen Lage in Griechenland zu. Mit einem Schlauchboot operieren die Retter auf der Meerenge zwischen türkischer Küste und der griechischen Insel Lesbos. Neuerdings dürfen sie offiziell nur tätig werden, wenn sie von der Coast Guard um Hilfe gebeten werden. Den Einsatz vor Libyen möchte Sea Watch mit einem neuen Schiff wieder aufnehmen.

Es brauche nicht ein Schiff, sondern eine Organisation, um Hilfe auf See professionell zu leisten. Davon war Klaus Vogel überzeugt, als er auf der Aquarius in blauem Oberhemd und beigefarbener Hose, zurückgelehnt in einem abgewetzten Schalenstuhl der Messe saß, die Hände auf dem Tisch übereinander gelegt. SOS Mediterranée sei kurz davor, nicht mehr infrage gestellt zu werden, sagte er. Vielleicht war dieser Erfolg nur durch Vogels ungewöhnlichen Lebensweg möglich.

Der sanfte Mann, Jahrgang 1956 und aufgewachsen in Heidelberg, der seine Laufbahn bei Hapag-Lloyd eher zufällig begann, hat in späteren Jahren Geschichte studiert und war Universitätsdozent, Spezialgebiet: die Sphärenlehre des Mittelalters. Im Jahr 2000 nahm er seine Seemannstätigkeit wieder auf. In den Monaten, die er zwischen den Seereisen als Kapitän in seinem Haus in Berlin verbringt, treibt er seine Forschung am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte voran. Er bewegt sich gewissermaßen selbst zwischen Sphären. Da ist das Meer, das er auch gegen sich hat wüten sehen. Und er sagt, man gelange trotz aller Erfahrung immer wieder an eine Grenze, hinter der man nicht weiter wisse. Wie bei dem Taifun im Pazifik vor zwölf Jahren, dem sein Schiff hatte ausweichen wollen. Dann schwoll der Wind an. Ein solches Brüllen hatte er nicht für möglich gehalten. Jeder an Bord fragte sich besorgt, ob er persönlich auch noch etwas zuzusetzen habe.

Die meisten Mittelmeerstaaten haben eine lange diktatorische Geschichte

Und da ist das Kolloquium, der Ort der Gelehrten, der Grenzen nicht akzeptiert. Daher kommt es wohl, dass Vogel das Meer in etwas verwandeln will, das es nach Ansicht vieler nicht sein kann – ein humaner Ort. Es sei selbstverständlich, sagte Vogel, dass Freiwillige Feuerwehren und Rettsungssanitäter vorgehalten werden. „Wir geben uns die größte Mühe“, sagt Vogel auf seine ruhige nüchterne Art, „um Hilfsfristen zu verkürzen und die medizinische Versorgung am Einsatzort zu verbessern. Nur auf dem Meer soll all das nicht gelten?“

Die Aquarius vor der Abreise nach Lampedusa Ende Januar im Hafen von Sassnitz.
Die Aquarius vor der Abreise nach Lampedusa Ende Januar im Hafen von Sassnitz.

© KM

Der Historiker in ihm suchte den Grund dafür in der politischen Entwicklung des Mittelmeerraums. Die europäischen Anrainerstaaten haben eine lange, diktatorische Geschichte. Deren Erbe sei ein starkes Militär und autoritäre Grenzschutzinstitutionen. Entsprechend behäbig reagieren sie auf Herausforderungen von außen und koordinierte Maßnahmen. Die Coast Guard ist überall ein politisches Instrument, dem Innenministerium unterstellt. Seenotrettung hat nicht die oberste Priorität. „Es ist ein langsamer Prozess anzuerkennen“, seufzt Vogel, „dass wir so nicht weitermachen können“.

Vor 150 Jahren hatte man an der deutschen Nordseeküse dasselbe Gefühl. Zu jener Zeit gerieten jedes Jahr mehr als 50 Schiffe vor den Nordseeinseln in Seenot. Die Auswanderungswelle nach Amerika änderte, wie die Menschen darüber dachten. Als die Einheimischen am 6. November 1854 hilflos mitansahen, wie der Dreimaster Johanne in einem Herbststurm vor Spiekeroog auf eine Sandbank gedrängt wurde, da war das ein Schock. Das Schiff war voll besetzt mit armen Menschen, Wirtschaftsflüchtlingen. Die Wellen zerschlugen die Bark, zertrümmerten Holz und Knochen, wuschen alles von Bord. „Das Wasser rings um die Unglücksstelle sei vom Blute gefärbt gewesen“, hieß es in der „Weser-Zeitung“ nach einem Augenzeugenbericht. 84 Personen kamen ums Leben.

Schon vor 150 Jahren hieß es, Seenotrettung sei "erste Pflicht der Humanität".

Doch etwas veränderte sich. Und zwar mit den ersten Badegästen, die zu jener Zeit auf die Inseln gelangten. Als einer von ihnen am 10. September 1860 Zeuge eines Schiffsunglücks vor Borkum wurde, drückte er seine Empörung über die Untätigkeit der heimischen Dorfbewohner in einem Zeitungsbericht aus. Die "Mitwisser der Gefahr" hätten absichtlich geschwiegen, "um beim Strandraub die Ersten sein zu können", schimpfte er in der "Weser-Zeitung". Hilfeschreie der neun Besatzungsmitglieder seien ignoriert worden, während Männer "lauernd in den Dünen lagen". Statt zu dem Wrack zu eilen, was für eine geübte Ruderbootbesatzung möglich gewesen wäre, klaubten die Insulaner an Wertvollem zusammen, was an ihren Strand gespült wurde, Holzscheite, Stricke, und sie brachen angeschwemmte Truhen und Schubladen auf. Die toten Seeleute ließ man liegen und verscharrte sie später "ohne irgendeine Feierlichkeit".

Infolge dieses makabren Schauspiels forderte der Navigationslehrer Adolph Bermpohl in der Vegesacker „Wochenschrift“ die Errichtung von Rettungsstationen, wie es sie in England bereits gab, was den Grundstein für die DGzRS legte. Sie sollte sich aus privaten Spenden finanzieren, weil Männer ihr Leben zur Rettung anderer auf dem Meer nur riskieren würden, wenn sie die Anteilnahme im ganzen Land spürten. Der Beginn einer Erfolgsgeschichte.

Auf die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer reagierten die deutschen Seenotretter zunächst reserviert, um nicht in den Ruf zu geraten, Spendengelder ihrem Zweck zu entfremden. Vor wenigen Tagen entschloss sich die Organisation, an dem internationalen Einsatz in der Ägäis mit einem ausgemusterten Seenotrettungskreuzer teilzunehmen.

"Es ist eine andere Aufgabe", meinte Vogel, "Menschen auf offener See zu retten, als von den Sandbänken vor der eigenen Küste."

Die Männer, auf die es dabei an Bord der Aquarius ankommt, hauptsächlich Russen und Ukrainer, saßen in ihren roten und orangefarbenen Overalls in der überhitzten Messe, schweigend. Sie waren es gewohnt, auf irgendwelche Missionen geschickt zu werden, meist zu Vermessungsarbeiten für Windkraftanlagen oder Rohstoffterminals. Davor war die 77 Meter lange Aquarius jahrzehntelang als Fischereischutzschiff im Nordatlantik eingesetzt worden, wo sie der deutschen Hochseeflotte als eine Art Pannenhilfe gedient hatte.

"Es ist eine andere Aufgabe", sagte Kapitän Vogel, "Menschen auf dem offenen Meer zu retten."
"Es ist eine andere Aufgabe", sagte Kapitän Vogel, "Menschen auf dem offenen Meer zu retten."

© KM

Vogel stand breitbeinig vor der Mannschaft, wie auf schwankendem Grund. Er stellte sich ihr als „Rettungskoordinator“ vor, einen Kapitän gab es an Bord bereits. Und er erklärte, dass es darum gehe, Menschen, die aufs Meer hinausführen, ohne es zu kennen, vor dem Ertrinken zu bewahren. „In Libyen sagen die Schleuser zu den Leuten im Boot: ,Cross the river’.“

Da schüttelten einige der Männer ganz leicht den Kopf.

Vogel erzählte, dass er als junger Offizier Ende der 70er Jahre selbst erlebt habe, wie sein Kapitän im südchinesischen Meer einen weiten Bogen um die vietnamesischen Boatpeople fahren ließ. Der Frachter war leer, hätte Platz für tausend Personen geboten. Aber das hätte nur Scherereien bedeutet, wusste der Alte. Also mied er die Region in der 250000 Flüchtlinge in den folgenden Jahren umkamen. "Wir wollen den Unterschied machen", sagte er.

Als er im Frühjahr in Lampedusa geweilt hatte, um zu hören, wonach die Helfer vorort am dringlichsten verlangten, da hatte er sie mit einem Versprechen verlassen: Ich kehre mit einem großen Schiff zurück.

Die Aquarius sei gut geeignet für diese Aufgabe, fuhr Vogel fort. Die Bordwand sei niedrig, so dass man erschöpften Menschen hinaufhelfen könne. Unter Deck würden 200 Menschen Platz finden, notfalls 500, und 48 Stunden lang versorgt werden. Es gebe Räume für ein Hospital und Werkstätten, um bei Bedarf Latrinen und Unterstände zu bauen. Aber er sagte auch: „Wir werden tote Körper im Meer treibend vorfinden und Menschen nicht retten können.“ Die Stammbesatzung und die freiwilligen Helfer des Rescue-Teams müssten einander deshalb unterstützen, „um schlimme Erinnerungen zu vermeiden“ und damit jeder heil zu seiner Familie zurückkehren könne. Es werde „eine andere Art Job“, versprach er.

Der Schiffskoch wollte wissen, ob er für 200 zusätzliche Personen kochen müsse. „Wir sind kein Hotel“, sagt Vogel, „sondern eine Zuflucht.“

Als er geendet hatte und sich die Männer stumm erhoben, wandte sich einer von ihnen mit einem Vorschlag an Vogel. Man könne, sagte er, die Leichen in speziellen Plastikbehältern lagern. Humanität kann hart sein.

In der Messe wartete die Mannschaft auf den "Rettungskapitän", um zu erfahren, was ihr Job sein würde. Es werde eine "andere Art Job", sagte Vogel.
In der Messe wartete die Mannschaft auf den "Rettungskapitän", um zu erfahren, was ihr Job sein würde. Es werde eine "andere Art Job", sagte Vogel.

© KM

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