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Tag der Trauer. Menschen strömten am Freitag zur niederländischen Botschaft in Kiew und legten dort Blumen nieder.

© imago

Flug MH 17 der Malaysia Airlines: Wie die Welt auf den Abschuss über der Ukraine reagiert

Erst ungläubiges Entsetzen, dann die Ahnung: Der Absturz könnte weitreichende internationale Konsequenzen haben und womöglich eine Wende im Krieg um die Ostukraine bedeuten. Es beginnen Telefonate rund um die Erde.

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Die erste Reaktion ist ungläubiges Entsetzen, als sich die Nachricht am frühen Donnerstagabend europäischer Zeit über die Kontinente verbreitet: Eine Passagiermaschine ist über der Ostukraine abgestürzt, vermutlich abgeschossen mit einer Luftabwehrrakete. Die rund 300 Menschen an Bord sind wohl alle tot.

In den folgenden 24 Stunden verwandelt sich das das ungläubige Entsetzen in eine Ahnung, dass dieser Absturz weit reichende internationale Konsequenzen haben könnte und womöglich eine Wende im Krieg um die Ostukraine bedeutet. Immer mehr Details werden bekannt, die die Zone der Betroffenheit weit über die eigentliche Konfliktregion hinaus ausweiten. Und es beginnt eine Reihe von Telefonaten zwischen Staats- und Regierungschefs rund um die Erde. Auch sie verändern die Dimension des Geschehens.

In Washington ist es Donnerstag, 9 Uhr 20, als der Passagierjet viele tausend Kilometer weiter östlich von den Radarschirmen verschwindet. Der amerikanische Präsident Barack Obama hat das Weiße Haus noch nicht verlassen. Zuvor will er mit Wladimir Putin telefonieren. Der russische Präsident hat um das Gespräch gebeten. Es soll um die Sanktionen gehen, die die USA an diesem Donnerstag verschärfen, weil Russland aus ihrer Sicht die Lage in der Ukraine eskaliert, indem es die Separatisten mit Waffen und Militärberatern unterstützt.

Jetzt droht eine Zuspitzung

Bis zu diesem Moment haben Europa und Amerika den Krieg in der Ukraine als einen regional begrenzten Konflikt behandelt. Sie versuchen mit Diplomatie und Wirtschaftssanktionen auf Moskau und Kiew einzuwirken, um eine Befriedung zu erreichen. Freilich tun sich dabei Risse zwischen ihnen auf. Amerika reagiert härter, Europa zögert mit neuen Sanktionen. Obama wiederholt seine Forderungen an Putin: Er müsse auf die Separatisten einwirken, einer Waffenruhe zuzustimmen, die an der Grenze zur Ukraine versammelten russischen Truppen zurückziehen und verhindern, dass russische Waffen und Kämpfer zu den Separatisten gelangen. Jetzt droht womöglich eine weitere Zuspitzung, das kann Obama zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschätzen. Putin habe die Meldungen vom Absturz eines Passagierflugzeuges über der Ostukraine angesprochen, teilt das Weiße Haus mit. Und: Die Tonlage des Telefonats sei „candid“ gewesen. Das bedeutet, Obama und Putin haben sich deutlich die Meinung gesagt.

Die Rakete muss aus russischen oder ukrainischen Armeebeständen stammen

Wenig später sind Obama, sein Stab und das White House Press Corps unterwegs nach Delaware. Hier wird er in einer öffentlichen Rede ein neues Programm zum Ausbau der Verkehrswege und Infrastruktur vorstellen. In New York erwarten ihn danach Fundraising-Termine, bei denen er Spenden für seine Partei mit Blick auf die Kongresswahl in dreieinhalb Monaten sammeln möchte. Am Vortag war er erst kurz vor Mitternacht von einer ähnlichen Tour zurückgekehrt. An diesem Donnerstag wird sein Arbeitstag noch länger dauern.

An Bord der „Air Force One“ ist er ähnlich in den Informationsfluss eingebunden, als säße er im „Situation Room“ des Weißen Hauses. Inzwischen weiß man: Es geht um Flug 17 der Malaysia Airlines auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur. Die Boeing 777 flog in einer Höhe weit jenseits der Reichweite einfacher Luftabwehrraketen, die in diversen asymmetrischen Kriegen der jüngsten Jahrzehnte eine Rolle gespielt haben. Auch das weist auf eine neue Dimension hin.

10 000 Meter - nichts für Leichtraketen

Ein Flugzeug in niedriger Höhe abschießen, das können auch Guerillakämpfer mit leichten Raketen, die sie auf dem Rücken tragen und von der Schulter abfeuern. Solche Waffen sind gut transportierbar und auf den Waffen-Schwarzmärkten weltweit zu haben. Mit Leichtraketen kann man jedoch kein Flugzeug in 10 000 Meter Höhe vom Himmel holen. Dazu braucht es aufwändige Raketensysteme, über die nur reguläre Armeen verfügen. Sie haben die Abschusssysteme. Ihre Spezialisten haben in sorgfältiger Ausbildung gelernt, wie man die computergestützten Radar- und Zielerfassungssystem benutzt.

Das heißt in der Konsequenz: Das Raketensystem, mit dem das malaysische Flugzeug abgeschossen wurde, muss aus russischen oder ukrainischen Armeebeständen stammen. Ob eine unabhängige Expertengruppe dieses „Oder“ auflösen, die Rakete klar irgendeiner Seite zuschreiben kann, ist allerdings eine völlig offene Frage. Die Systeme stammen alle aus sowjetisch-russischer Produktion; ein Teil der sowjetischen Waffenschmieden lag obendrein in der heute ukrainischen Donezk-Stahlregion.

Jetzt wird deutlich, was es bedeuten kann, Weltmacht zu sein

Selbst wenn sich Raketenteile finden, kann es schwer werden, sie eindeutig zuzuordnen. Ob Radarbeobachtungen, Satellitenfotos, die AWACS-Fernaufklärer der Nato den Abschussort eindeutig genug eingrenzen können, steht ebenfalls dahin. In der Theorie wäre das durchaus möglich, zumal wenn russische, ukrainische und westliche Fachleute ihre Erkenntnisse nebeneinander legten. Aber in der Praxis dieses Konflikts ist die Gefahr unübersehbar, dass das Interesse an Schuldzuweisung und Verschleierung das an Aufklärung bei Weitem überdeckt.

Denn selbst dann, wenn sich der Abschussort der Rakete einkreisen ließe, wäre immer noch nicht klar, wer da am Drücker saß. Dass reguläre russische oder ukrainische Offiziere mit dem nötigen Fachwissen den Abschuss ausgelöst haben, mag sich kaum jemand vorstellen. Haben die Russen solche Systeme an die Separatisten geliefert? Dieser Verdacht stand bereits im Raum, seit ein ukrainischer Militärjet wenige Tage zuvor über dem Grenzgebiet abgeschossen worden war – ebenfalls in einer Höhe, in die leichte Raketen nicht reichen. Aber wer unter den irregulären Truppen wäre überhaupt imstande, ein Raketenabwehrsystem zu bedienen?

An Tagen wie diesen wird deutlich, was es bedeuten kann, Weltmacht zu sein. Obama mag noch so sehr an Ansehen verloren haben und Amerikas internationales Gewicht in den Augen vieler sinken – er ist Präsident eines Landes, das dank technischer Überlegenheit und seines umfassenden Nachrichtenbeschaffungsapparats schneller an mehr Information herankommt als andere Staaten. Ein Land, das eher als andere die Erwartungen zusammenführen kann. Ein Land, dessen Medien viele einen Informationsvorsprung zutrauen. Wie selbstverständlich steuern Journalisten weltweit an solchen Tagen die Internetseiten der „New York Times“ oder des Nachrichtensenders „CNN“ an. Es gebe Radarsignale vom Start der Abschussrakete, verbreiten US-Medien, dazu Satellitenbilder vom Flug MH 17 und von den Geschehnissen am Boden, die dem Absturz vorausgingen. Wenn man den genauen Abschussort in dem umkämpften Gebiet kenne und wisse, wer dort welche Stellungen kontrolliere, liefere das Hinweise auf die Schuldigen.

Auch die vermutlich unfreiwillige indirekte Selbstbezichtigung der Separatisten, die zwischendurch Aufsehen erregt, taucht auf einem amerikanischen „Social Network“ auf: Facebook. Dort rühmt sich ihr Anführer Igor Strelkow Girkin, erneut ein ukrainisches Militärflugzeug abgeschossen zu haben. Wenig später, als klar wird, dass 298 Zivilisten Opfer des Abschusses sind, wird der Eintrag gelöscht.

Die Aufklärung wird sich zum Kampf um die Interpretationshoheit entwickeln

Die Signale zur militärischen Luftaufklärung in Ostmitteleuropa werden im Wesentlichen von Awacs-Systemen der Nato aufgefangen. Doch auch hier scheint es, als stützten sich viele Informations-Erwartungen an die Amerikaner, so als hätten sie schon wegen ihres Gewichts im Bündnis eine Dominanz bei der Auswertung. Obama weist seine Sicherheitsexperten an, alle verfügbaren Informationen zu sammeln.

Am frühen Nachmittag US-Zeit, die Rede in Delaware hat Obama hinter sich, telefoniert er mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko. Über Kiew legt sich die Abenddämmerung. Nichts dürfe an der Unglücksstelle verändert werden, ehe internationale Experten eingetroffen sind, betont Obama. Natürlich bietet er ihm amerikanische Spezialisten für die Untersuchung der Absturzursache an.

Die Aufklärung wird sich zu einem Kampf um die Interpretationshoheit entwickeln. Die Separatisten beschuldigen bereits die ukrainische Regierung, sie stecke hinter dem Abschuss, um internationales Eingreifen zu provozieren. Die Regierung in Kiew beschuldigt wechselweise Moskau oder die Separatisten. Im Internet tauchen erste Verschwörungstheorien, wer die Untersuchung mit welchen Mitteln manipulieren werde.

Der genaue Ort, von dem die Rakete abgefeuert wurde, ist zwar noch nicht öffentlich bekannt. Klar ist aber, dass die Absturzstelle mit den Trümmerteilen in Separatistengebiet liegt. Sie behaupten, die Black Box mit dem Flugschreiber gefunden zu haben. Angeblich sei sie auf dem Weg nach Moskau.

Umso nachdrücklicher dringt Obama in seinem nächsten Anruf auf eine „prompte internationale Untersuchung“. Dieses Telefonat gilt dem malaysischen Ministerpräsidenten Najib. Er drückt ihm sein Beileid für die fürchterliche Tragödie aus. Auch gegenüber Najib bietet der Präsident umfassende amerikanische Hilfe an.

Die Ukraine bleibt Chefsache

In New York berät sich der Präsident am Abend telefonisch mit seinem Außenminister: erstens über die Ukraine, zweitens über die Zuspitzung in Nahost, wo Israel eine Bodenoffensive in den Gaza-Streifen vorbereitet. Es sieht nach einer Arbeitsteilung aus: Kerry wird später mit Israels Regierungschef Netanjahu telefonieren. Die Ukraine bleibt Chefsache. Es folgt eine Konferenzschaltung mit Mitgliedern des Sicherheitskabinetts: CIA-Chef John Brennan, Stabschef Denis McDonough, dessen Vize Ben Rhodes und Terrorabwehr-Beraterin Lisa Monaco.

Dann werden die Passagierlisten bekannt. Mehr als die Hälfte der Passagiere stammen aus den Niederlanden. So bereiten die Mitarbeiter den nächsten Anruf vor. Obama wartet freilich damit noch ein wenig, bis in Europa die Sonne wieder aufgegangen ist. Er ist nach einem langen Donnerstag noch nicht zu Bett gegangen, für Ministerpräsident Rutte in Den Haag hat der Freitagmorgen begonnen, als das Gespräch zustande kommt. Wieder spricht Obama von der Trauer und dem Mitgefühl für die vielen Familien, die einen geliebten Menschen bei dem Absturz verloren haben. Noch eindrücklicher formuliert er seine Erwartungen an die Untersuchung: „prompt, umfassend, glaubwürdig, unbehindert, international“, heißt es in der Abschrift des Weißen Hauses.

Am Freitagabend tritt der UN-Sicherheitsrat in New York zusammen. Es wird immer wahrscheinlicher, dass die Ereignisse der 24 Stunden zuvor eine Wende im internationalen Umgang mit dem Krieg in der Ukraine auslösen werden.

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