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Nach Hause. Eine Radlerin auf dem Oderbruch-Radweg.

© Patrick Pleul/p-a/dpa

Forscher im Oderbruch: Auf der Suche nach dem Heimatgefühl

Wo sind wir zu Hause? Und wie kann man dieses Gefühl erzeugen? Im Oderbruch sucht Kenneth Anders nach Antworten.

Zwei paar Holzschuhe stehen auf dem Ziegelboden des Bauernhauses. 190 Jahre soll es alt sein, der Eingang ist niedrig. Die robusten Pantinen werden einem Bauernpaar gehört haben, das auf dem Berg-Schmidt-Hof in Altranft im Oderbruch lebte. Heute gehört der Hof zum Museum Altranft. In der Stube steht ein eiserner Ofen, eine Nähmaschine, ein paar Landschaftsbilder hängen an der Wand und ein Spruch auf einer hölzernen Tafel: „Lieber Gott, mach’ mich fromm.“ Manche würden sagen: das ist Heimat. Alles wie früher.

Kenneth Anders will etwas Neues. Er ist Kulturhistoriker, Philosoph, ein großer, schlanker Mann, Jahrgang 1969. Das frühere Freilichtmuseum Altranft will er in die Gegenwart führen. Als Leiter eines seltenen Projektes soll er im Auftrag von Stadt, Kreis, Land und des Bundes herausfinden, was das ist, Heimatgefühl – und wie man es erzeugen kann.

Heimat als Antwort auf die Globalisierung

Derzeit reden viele von Heimat. Rechte, Linke, Grüne, der Bundesinnenminister. Der Begriff hat Konjunktur. In Bayern gibt es seit Jahren ein Heimatministerium, in Nordrhein-Westfalen neuerdings auch. Dessen Chefin, Ina Scharrenbach, findet: „Heimat ist die Antwort auf Globalisierung und Digitalisierung.“ Anders gesagt: Für viele, die auf dem Land leben, ist Heimat das, was Globalisierung und Digitalisierung noch übrig gelassen haben von ihrer Gegend.

Kenneth Anders stammt nicht von hier, sondern aus Naumburg in Sachsen-Anhalt, doch er erinnert sich noch an den Moment, in dem ihm das Oderbruch, das 800 Quadratkilometer große Oderdelta in Brandenburg, zur Heimat wurde. Das war, als er seinen ersten Sohn hier einschulte. Er überließ den Jungen einer Lehrerin und einem Schulleiter, die den Vater und den Jungen mit Vertrauen erfüllten. „Ich muss nicht mein Kind vor den Menschen hier schützen“, habe er gedacht. Zwanzig Jahre ist das her.

Jetzt sitzt er im Schatten des Altranfter Schlosses, das eher einem großzügigen brandenburgischen Gutshaus gleicht, und erklärt, wie aus dem Freilichtmuseum ein Heimat-Katalysator werden soll. Um Geld und Infrastrukturprogramme geht es ihm dabei weniger; es gehe um ein neues Gefühl für das Oderbruch, ein Gefühl, das die Menschen untereinander und mit ihrer Region verbindet.

In Altranft arbeitet Anders mit einem Team an etwas, das über das „So war es früher“ des Freilichtmuseums hinausgeht. Knapp eine Million Euro stellen Geldgeber dafür bereit, darunter die Kulturstiftung des Bundes und eine Schweizer Stiftung. Das Projekt entsteht auf der Basis des Freilichtmuseums, führt dieses fort und erfindet es zugleich neu. Die Institution, deren Programm Kenneth Anders und seine Kollegen gestalten, heißt deshalb nicht mehr „Freilichtmuseum“, sondern einfach Museum Altranft – ein Museum, dessen Macher auch die Gegenwart und die Zukunft im Blick haben.

Kultur auf dem Land - jenseits der gängigen Klischees

Sechs Projekte dieser Art gibt es in Deutschland. Die Kulturstiftung des Bundes finanziert bis 2020 sogenannte Transformationsprojekte in ländlichen Räumen – außer dem Museum Altranft etwa ein Kulturzentrum in Niedersachsen und kleine Bergwerksmuseen im Harz. Kristin Bäßler von der Kulturstiftung des Bundes erklärt sie so: „Bei allen Projekten geht es darum, aus den jeweiligen Regionen heraus die Kultureinrichtungen neu zu denken und weiterzuentwickeln. Wie auch im Oderbruch-Museum setzen sich die Einrichtungen mit regionalen Themen auseinander und zeigen, wie Kultur im ländlichen Raum jenseits der gängigen Klischees gestaltet werden kann.“

Das Schloss, vor dem Anders an diesem Tag sitzt, ist das Hauptquartier des Museums, zugleich Ausstellungsraum, Depot und Veranstaltungsort. Er und sein Kollege Lars Fischer haben vor vielen Jahren begonnen, das Oderbruch zu erforschen, indem sie mit dessen Bewohnern über Themen sprach, die alle angehen: das Wasser, die Landwirtschaft, das Handwerk. „Landschaftskommunikation“ nennt er diese Arbeit, darauf beruht das Konzept für das neue Museum Altranft. Wenn man hier lebe, sagt er, könne man sich dem Raum nicht verschließen – „diese Räume kommen eben auch auf einen zu“, sagt Anders.

Das Oderbruch ist immer erst Heimat geworden. Friedrich der Große ließ das Sumpfgebiet in großen Teilen trocken legen und überließ zuziehenden Familien genügend Hektar, um ertragreich zu wirtschaften. Es waren Migranten aus der Pfalz, aus Mecklenburg oder Westfalen, aus dem, was später zusammen „Deutschland“ werden würde. Theodor Fontane meinte, bei seiner Erkundung des Oderbruchs die unterschiedlichen Herkunftsorte der Neu-Oderbrüchler in den 1860er und 70er Jahren noch „in Erscheinung und Charakter der Bewohner“ erkennen zu können.

Zehn Generationen Arbeit an der Landschaftsmaschine

Das Oderbruch, sagt Anders, sei eine „Landschaftsmaschine“. Die entsteht, wenn Menschen eine Landschaft gestalten, um sie bewohnbar zu machen: mit einem System von Kanälen und Entwässerungsgräben, um Felder zu gewinnen, mit Baumreihen, um den Wind zu bremsen, mit vom König geschenkten Grundbesitz, um die Sesshaftigkeit zu fördern, mit Dorfschulen für die Kinder und Kirchen für das Seelenheil. Es ist der Inbegriff einer „Kulturlandschaft“. Zehn Generationen hätten an dieser Landschaftsmaschine gearbeitet, sagt Anders. Über Krisen, Hochwasser und Kriege hinweg war und ist sie Objekt gesellschaftlicher Arbeit und Pflege.

Die Verständigung über diesen Raum, seine Erforschung und Beschreibung, hat zu einer Reihe von Projekten geführt. An einer Wand des Altranfter Schlosses hängt die vergrößerte Abbildung einer komplizierten Computer-Grafik. Sie entstand im Rahmen des Projekts „Wasser“ und zeigt für das ganze Oderbruch und jeden einzelnen Ort, wie die Entwässerung funktioniert, wo Kanäle verlaufen und welchen Zweck die Polder haben.

Das Gefühl, beheimatet zu sein, stellt sich ein durch die „gelingende Aneignung eines Raumes“, sagt Anders. Das gehe auch, wenn man mit sechzig irgendwo hinziehe, wie das im Oderbruch inzwischen häufiger vorkomme. Und gewiss, meint Anders, könne man auch mehrere Heimaten haben. „Ich war zum Beispiel ein sehr glücklicher Student in Leipzig“, erinnert er sich. Bis heute fühle er sich der Stadt verbunden.

Kern der Heimat. Kenneth Anders leitet das Projekt im Oderbruch Museum Altranft. Für den Kulturhistoriker gehört eine 100 Jahre alte Wasserturbine genauso dazu wie Diskussionsveranstaltungen über Glyphosat.
Kern der Heimat. Kenneth Anders leitet das Projekt im Oderbruch Museum Altranft. Für den Kulturhistoriker gehört eine 100 Jahre alte Wasserturbine genauso dazu wie Diskussionsveranstaltungen über Glyphosat.

© Patrick Pleul/p-a/dpa

Heimat, sagt Anders, „konstituiert sich immer wieder neu“. Früher stifteten Dörfer Identität, heute können sie das nicht mehr leisten, weil sie wirtschaftlich nicht mehr autark sind und kaum Arbeitsplätze bieten. Das Oderbruch erlebt Zuzug. Anders kennt Rentner, finanziell abgesichert, die ihr Wochenendhaus zum Erstwohnsitz machen. Und er kennt Jüngere, „die sich eine Existenz aufbauen“, eine Frau mit Tochter zum Beispiel, die Gemüse anbaue und direkt vermarkte, Bio-Landwirte, junge Leute, die solidarische Landwirtschaft betreiben wollen. Das Oderbruch sei ein bisschen anders als die Uckermark; dorthin – so sein Eindruck – ziehe ein eher intellektuell-künstlerisches Milieu, ins Oderbruch eher „schillernde Figuren“. Manchmal denkt er, „dass Leute hier regelrecht angespült werden“.

Mit Heimat verbinden die meisten Menschen ein klares Gefühl, doch der Begriff ist diffus. Heimat gehört zu Identität, hat Anteil am Wissen, woher man kommt und an dem Gefühl, irgendwo hinzugehören. Karen Joisten hat untersucht, wie der Begriff sich über Jahrzehnte verändert, Bedeutung verloren und wieder gewonnen hat. Die Professorin für Philosophie aus Kaiserslautern sagt, dass Heimat immer dann Konjunktur hat, „wenn man Umbrüche, Unsicherheiten und Verluste erlebt“. So war es schon während der Industrialisierung. So war es in den achtziger Jahren, als Umweltkrise und Waldsterben die Menschen beunruhigten und der Filmemacher Edgar Reitz mit seinen „Heimat“-Mehrteilern Fernsehgeschichte schrieb. So ist es heute, durch Globalisierung und Digitalisierung.

"Bewahrung ist ein problematisches Wort"

Karen Joisten findet es nicht falsch, dass die Politik sich nun verstärkt darum kümmert. Darin liege „eine echte Chance“, sagt sie. „Wir fangen an, darüber zu reden, was uns wichtig ist.“ Wie für Kenneth Anders ist auch für die Philosophin der Prozess der Aneignung viel wichtiger als das Bewahren. „Bewahrung ist ein problematisches Wort“, sagt Karen Joisten. Es könne nicht darum gehen, etwas zu tun, weil man es vor hundert Jahren schon so getan habe. Auch Traditionen müsse man sich aneignen, damit sie „lebendige Traditionen werden, die sich im Gegenwärtigen dem Zukünftigen nicht verschließen. Darum geht es.“

Wenn Lebensumstände sich schnell verändern, werden einem die Region oder die Stadt fremd, die mal Heimat waren. So ungefähr hat es das Institut für Demoskopie in Allensbach vor Kurzem dargestellt. 78 Prozent der Befragten nannten es in der Umfrage eine Gefahr für ihre Heimat, „dass viele alteingesessene Geschäfte schließen und dafür die immer gleichen Filialen großer Einkaufsketten aufmachen“. 62 Prozent sahen es als Gefahr für ihre Heimat, „dass Traditionen nicht bewahrt und gelebt werden“.

Daran kann man arbeiten. Einmal im Jahr veranstalten sie vom Museum Altranft aus im Schloßpark ein Erntedankfest. Anders muss lachen, als er sagt, dass von den jährlich 10.000 Besuchern des Museums allein 2000 zum deutsch-polnischen Erntedankfest nach Altranft kommen. Die wichtigste Herausforderung für ländliche Räume sei, dass sie sich regionalisierten, sagt Anders. Das Oderbruch sei „weit, aber nicht groß“. 60 000 Menschen leben hier, 20 000 von ihnen in den Dörfern, die anderen in den Städten Bad Freienwalde, Wriezen und Seelow. In den drei Jahren, die Anders und sein Team an der Neuerfindung des Museums arbeiten, habe sich ein fester Stamm von Interessierten entwickelt, sagt er. Etwa tausend Leute rechnet er dazu, die sich für die Programme des Museums interessieren, die zu Veranstaltungen kommen.

Nicht nur die "Ökos" sollen das Wort haben

Auf seinem Laptop hat Anders eine Serie von Schwarzweiß-Fotos gespeichert, Produkte eines anderen Projekts für eine andere Ausstellung. Die Bilder zeigen die Bewohner des Oderbruchs. Veit Templin zum Beispiel, einen bekannten Handwerker im Oderbruch, einen Mann mit einem Rauschebart, Zimmermann, Dachdecker, Maurer und Autor in einer Person. Die Bilder wechseln, Anders kommentiert: „der letzte Müller der Region“. Ein Gartenbauer mit eigenem Betrieb. Zwei junge Leute „aus dem Westen“, sie haben einen Milchviehbetrieb gekauft. Ein Pferdezüchter. Ein Mann mit einem „Archehof“ für alte Hühnerrassen. Ein junges Paar, Anders nennt sie bei den Vornamen. Sie kommen von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde und sind Landwirte, „knallhart nur mit Pferden“, sagt Anders.

Die Fotos haben ein Lächeln auf sein Gesicht gebracht. „Was das für eine Vielfalt ist, mit der man es zu tun hat“, schwärmt er versunken. Aber es ging bei dem Projekt nicht bloß um gute Fotos von interessanten Menschen. Es geht auch um die Konflikte zwischen ihnen – auch die können verbinden. Das „Theater am Rand“, zehn Kilometer weiter östlich direkt am Oderdeich gelegen, organisierte vor zwei Jahren einen Thementag zum Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat unter der Überschrift „Am Rand der Vernunft“. Anders und Kollegen begleiteten ihn in Interviews mit 25 Landwirten.

Nicht nur „die Ökos“ sollten das Wort haben, „die anderen haben auch einen Kopf“, sagt er – „wir sind Intellektuelle, aber wir sehen uns nicht als Avantgarde“. Kulturarbeit, wie er sie versteht, ist nicht konfliktfrei. Das sei nicht wichtig. „Wir sind auch zum Hähnchenbaron gegangen“, grinst er. „Der muss auch sagen können: Wir machen das schon ordentlich. Da geh’ ich nicht hin und distanziere mich davon.“

Politik ist für Kenneth Anders selbstverständlich Heimat-relevant. Dabei gehe es nicht um Fördermittel, „sondern um die Fähigkeit der Kommunen, sich zu erhalten“. Für die Leute im Oderbruch ist die kommunale Verwaltung der erste Ansprechpartner. Und Verwaltung, sagt Anders, „ist wirklich ein tolles Handwerk – ich hab’ das früher unterschätzt!“

Dann erklärt er genau, was er damit meint. Einerseits seien da die festgelegten Regeln, Strukturen und Gesetze. Andererseits gebe es viele Einzelfälle, die – im Rahmen des Regelwerks – individuell entschieden werden. In der kommunalen Verwaltung gebe es eine „hohe Kunst der Regelauslegung“. Anders gesagt: Bei jedem Um- oder Neubau stellt sich die Frage, was genau genehmigt werden kann und wem es genehmigt wird. Vorschriften kann man enger oder weiter auslegen. Es geht um Zufriedenheit oder Groll. Wer seiner Heimat grollt, der geht.

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