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Überschwänglich. Als ersten Schritt auf einem langen Weg in die Freiheit – so sieht die Chefin des Front National, Marine Le Pen, das gute Ergebnis ihrer Partei bei der Europa-Wahl.

© Andreas B. Krueger

Frankreich nach dem Sieg des Front National: Entsetzen, Jubel - und Tennis

Die einen sind entsetzt, die anderen kommen aus dem Jubeln gar nicht mehr heraus, dritte schauen Tennis. Frankreich ist nach dem Sieg des rechtsextremen Front National bei den Europawahlen zerrissen. Auch eine Woche später weiß niemand, wohin das führen kann.

Rund um das legendäre Stade Roland Garros im noblen 16. Arrondissement von Paris herrscht in diesen Tagen Verkehrschaos. Auf den Tribünen verfolgen tausende Zuschauer die 113. Auflage der French Open. Es werden Erdbeertörtchen und Champagner gereicht, während unterm Eiffelturm Hunderte die Spiele auf einer Großbildleinwand verfolgen. Ergriffen vor Tennisbegeisterung scheint es, die Stadt habe bereits vergessen, was am vergangenen Wochenende geschehen ist.

Sonntag, 25. Mai, kurz nach 20 Uhr: Marine Le Pen tritt vor Dutzende drängelnde Journalisten. Soeben haben die Hochrechnungen bestätigt, was Umfragen bereits seit langem prognostizierten: Ihre Partei, der rechtsextreme Front National (FN), hat mit 25 Prozent der Stimmen die Europawahlen in Frankreich deutlich gewonnen. Zum ersten Mal ließ sie sowohl die konservative Oppositionspartei UMP (20 Prozent) als auch die regierende Parti Socialiste (PS) mit mageren 14 Prozent hinter sich.

Selbstbewusst und bemüht staatstragend

Sichtlich genießt Le Pen den überschwänglichen Jubel ihrer Anhänger. Im Siegesrausch wird spontan die Marseillaise angestimmt. Dann ergreift die platinblonde Parteivorsitzende mit der rauen Stimme selbstbewusst und mit bemüht staatstragendem Ton das Wort. Hinter ihr hängen bereits vorab gedruckte Poster in Trikolore-Farben: „Front National – Erste Partei Frankreichs“.

„Das souveräne Volk will die Zügel seines Schicksals wieder in die Hand nehmen“, erklärt die 45-Jährige. „Die Franzosen haben dem Front National die großartige Verantwortung übertragen, die mit ihrer heutigen Wahl zum Ausdruck gebrachten Entscheidungen umzusetzen.“ Sie hätten den ersten Schritt auf dem langen Weg in die Freiheit getan und die Botschaft des FN bestätigt: „Ja zu Frankreich, nein zu Brüssel!“

Es wurde eine lange Nacht in den Zeitungsredaktionen. Umso kürzer fielen am nächsten Morgen die Überschriften auf den Titelseiten aus: „Erdbeben“, „Big Bang“, „Schock“, oder „Ganz Frankreich Front National“. Auf allen medialen Kanälen bemühten sich Politiker, Journalisten und Experten, das Abschneiden der Partei zu verstehen und zu verdauen. Jean-Luc Melanchon, Vorsitzender des kommunistischen Front de Gauche, appelliert den Tränen nahe an die französischen Arbeiter: „Lasst dies nicht in eurem Namen geschehen. Lasst nicht zu, dass Frankreich etwas anderes ist als das, was es im Herzen der ganzen Welt darstellt.“

Was der Front National will

Auch Jean-Yves Camus, Politikwissenschaftler am Pariser Institut für internationale und strategische Beziehungen absolvierte in der vergangenen Woche einen regelrechten Marathon an Interviews und Fernsehdebatten. Er gehört zu den gefragtesten Experten zum Thema Rechtsextremismus. Er erklärt, wägt ab, und vermeidet, den Erfolg der Populisten zu dramatisieren. Er wisse um die internationale Besorgnis über das französische Votum. Aber rückt ganz Frankreich nun deswegen nach Rechtsaußen? „Schaut man genauer hin, dann erreichte Marine Le Pen bei diesen Europawahlen um die vier Millionen Wähler. Das sind zwei Millionen weniger als bei den Präsidentschaftswahlen 2012. Stärkste Partei wurde der FN vor allem auf Grund der geringen Wahlbeteiligung von nur 43 Prozent.“

Jean-Marie Le Pen führte den Front National fast 40 Jahre.
Jean-Marie Le Pen führte den Front National fast 40 Jahre.

© Andreas B. Krueger

Dennoch, sagt Camus, gebe es keinen Zweifel: Die Le-Pen-Partei profitiere innerhalb der französischen Gesellschaft von einer neuen Akzeptanz, der Enttäuschung über die etablierten Parteien und den ausbleibenden Erfolgen der Regierung. „Ich glaube, dass seit einiger Zeit die Wahl des Front National auch eine wirkliche Zustimmung zu dessen Positionen zum Ausdruck bringt. Die Partei bietet sehr vereinfachte Antworten auf die Krise, aber genau diese Vereinfachung ist ihr Erfolgsrezept“, sagt er.

Ihre Antwort: raus aus dem Euro

Le Pens Antworten auf die hohe Arbeitslosigkeit und die sinkende Kaufkraft lauten: raus aus dem Euro, Neuausrichtung des Schengener Grenzabkommens und eine drastische Beschränkung der Einwanderung. Dass zum Parteiprogramm des Front National auch die Wiedereinführung der Todesstrafe sowie die Rückkehr zu traditionellen Werten mit der Erschwerung von Abtreibungen und der Ablehnung zeitgenössischer Kunst gehören, blenden viele FN-Wähler einfach aus.

So wie der 35-Jährige Philippe. Auf dem Rasen vor dem Eiffelturm hat er sich mit Freunden zum Picknick verabredet. Pünktlich zum Himmelfahrtsdonnerstag hat der tagelange Regen aufgehört. Gerade spielt sich der Spanier Rafael Nadal gegen den Österreicher Dominic Thiem zum verdienten Sieg, und Philippe, Informatiker aus dem südfranzösischen Toulouse, verteilt Plastikbecher für den mitgebrachten Rotwein. „Mich stört ja nicht Europa an sich, aber die Gesetze, all die Vorgaben aus Brüssel. Uns Franzosen wird eine Sparpolitik aufgezwungen, die unsere Wirtschaft erstickt“, sagt er. Einige seiner Freunde nicken.

Das Beispiel zeigt: Die Zustimmung zu den Positionen des Front National ist in den Jahren der tiefgreifenden Wirtschaftskrise immer weiter angestiegen. FN-Wähler sind heute nicht mehr nur alternde Herren: Sie stammen aus allen Generationen und sozialen Schichten. Seit Marine Le Pen 2011 den Parteivorsitz von ihrem Vater Jean-Marie übernommen hat, zähmte sie ihre Truppen und stockte sie auf. Akademiker, junge Frauen und selbst Franzosen mit Migrationshintergrund traten als Kandidaten für sie an.

Dutzende Male wurde Le Pen senior verurteilt

Zuvor hatte Le Pen senior fast 40 Jahre die Geschicke der Partei gelenkt, häufig krakeelend, hetzerisch, hasserfüllt. Dutzende Male wurde er aufgrund von rassistischen Äußerungen zu Geld- und Bewährungsstrafen verurteilt. Zu zweifelhafter Berühmtheit brachte es seine Einschätzung, der Holocaust sei „ein Detail der Geschichte“.

Noch in den 1980er und 1990er Jahren wirkte der Front National wie ein Sammelbecken für Nazis, Rassisten und Holocaust-Leugner. Gesellschaftliche Außenseiter, die von etablierten Politikern und den Medien ignoriert, verteufelt oder totgesagt wurden. Die vermeintliche Opferrolle hat Marine Le Pen nur in die Hände gespielt. Mit moderateren Tönen drängte die gelernte Anwältin mehr und mehr in die Öffentlichkeit. Plötzlich boten ihr auch die großen französischen Medien eine Tribüne. Anfang April lieferte sie eine dreistündige One-Woman-Show im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Befragt von Ökonomen, Soziologen und Journalisten schmetterte sie jeden Angriff professionell ab und überspielte inhaltliche Defizite mit sarkastischen Einwürfen und Witzeleien.

Unsympathisch, unseriös, unwählbar

Doch wo immer Marine Le Pen auftaucht, begleitet ihr Vater sie stets wie ein Schatten. Nie um einen süffisanten Scherz verlegen à la: „Die Tochter des Teufels kann verführerisch sein.“ Der diabolische Patriarch galt vielen Franzosen als unsympathisch, unseriös, unwählbar. Aber dann gelang es ihm, bei den Präsidentschaftswahlen 2002 mit knapp 17 Prozent am Sozialisten Lionel Jospin vorbei, in die Stichwahl gegen Jacques Chirac zu ziehen. Damals wie heute erlitt das Land einen kollektiven Schock. Seinerzeit gingen hunderttausende Menschen landesweit auf die Straßen und zur Stichwahl an die Urnen: Chirac siegte überragend mit über 80 Prozent. Frankreich konnte aufatmen – und vergessen.

Am vergangenen Sonntag dann siegte der 85-jährige Le Pen, Ehrenvorsitzender des FN, in seinem Wahlbezirk im Südosten Frankreichs mit 30 Prozent und übertraf damit noch das landesweite Ergebnis seiner Partei. Seit 2004 sitzt er als fraktionsloser Abgeordneter neben seiner Tochter im Straßburger Plenarsaal. Nun bekommt das Vater-Tochter-Gespann Gesellschaft von 22 weiteren französischen Parlamentariern, und bereits am Mittwoch verkündete Marine Le Pen an der Seite des rechtspopulistischen Niederländers Geert Wilders, sie wolle eine Fraktion aus mindestens sieben anti-europäischen Parteien bilden.

Wie die Franzosen im Internet und auf der Straße protestieren

Doch das energische Auftreten der selbstproklamierten Retterin Frankreichs brachte auch entsetzte und wütende Stimmen auf den Plan. Nicht nur die politische Klasse war bemüht, sich ausdrücklich zu Europa zu bekennen, zuallererst Präsident Hollande: „Europa kann ohne Frankreich nicht voranschreiten, aber die Zukunft Frankreichs liegt in Europa. Ich bin Europäer“, sagte er bei seiner kurzen Fernsehansprache am Montagabend. Viele vornehmlich junge Franzosen verbreiteten schon am Wahlabend pro-europäische Botschaften in sozialen Netzwerken. Die Internetseite: „Dear Europe, we are sorry“ wurde von zehntausenden Usern auf Facebook und Twitter geteilt. Die Entschuldigung ist unterzeichnet mit: „With much love, - France (The pro-Europe one)“.

"Weinen nach dem Wahlergebnis"

Andere bestätigten ihre Teilnahme an der spontan ins Leben gerufenen Facebook-Veranstaltung „Pleurer après les résultats“ („Weinen nach dem Wahlergebnis“). Manche verlinkten passende Trauermelodien zur Lage der Nation auf Youtube, so wie den Rapsong „Marine“ der griechisch-französischen Rapperin Diams: „Marine, meine Wut ist immens, wenn ich an deinen Vater denke, der Hass predigt, während wir den Frieden wollen. (...) Marine, ich habe Angst davor, dass du uns alle hinauswirfst, wenn du kommst.“ Der bekannte Chansonnier Benjamin Biolay reagierte mit einem über Nacht komponierten Song: „Freund, hörst du den schwarzen Flug des Raben über das flache Land?“ Die Toten, so singt er, würden sich im Grab umdrehen, weil das Land der Aufklärung auf den Allerwertesten gefallen sei.

An Himmelfahrt kam es dann zu einigen kleinen Demonstrationen in mehreren französischen Städten. In Paris folgten mehrere hundert Menschen dem Aufruf von Schüler- und Studentenvertretungen und versammelten sich rund um die Place de la Bastille unter dem Motto „Non au F-Haine“ („Nein zum F(N)-Hass“).

Unterdessen ging am anderen Ende der Stadt, am Fuß des Eiffelturms das große Tennis-Fanfest weiter. „Am besten, wir äußern uns nur zu den Matches“, scherzen Magalie und David. „Wir sind Tennislehrer und seit 20 Jahren bei den French Open dabei. Wir kennen alle Spieler!“, entgegnen sie auf die Frage, ob der Sieg des FN und die angebliche Schockstarre im Land denn schon vergessen sei?

„Ich kann über die letzten Tage nur lachen“, sagt der 43-jährige David. „Nicht über Le Pen, aber darüber, dass gleich darauf ein Skandal bei der Opposition aus dem Hut gezaubert wird.“ Am Dienstag war die komplette Führungsspitze der UMP zurückgetreten, nachdem sich Hinweise auf eine millionenschwere illegale Finanzierung des Präsidentschaftswahlkampfes von Nicolas Sarkozy 2012 erhärtet hatten.

700 Euro weniger haben sie jetzt im Monat, sagen sie

„Aber das eigentlich Erbärmliche ist in meinen Augen die Tatsache, dass François Hollande nur noch von 14 Prozent der Franzosen unterstützt wird.“ Zu Recht, wie das Pärchen aus dem nordfranzösischen Amiens findet und rechnet vor, wie sich ihre Einkommenslage unter der sozialistischen Regierung verschlechtert habe: „Wenn ich die Steuererhöhungen einberechne, die gestiegenen Sozialabgaben und unsere Lebenshaltungskosten, dann haben wir jetzt beide zusammen 600 bis 700 Euro weniger monatlich zur Verfügung.“ Da sei es wenig tröstlich, dass Regierungschef Manuel Valls nach der Wahlschlappe neue Steuererleichterungen versprochen hat. Eine weitere Reaktion: Gestern rückte die Regierung von dem Vorhaben ab, das Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger auf Kommunalebene einzuführen. Es gebe nach dem desaströsen Wahlergebnis dafür keinen Rückhalt mehr in der französischen Bevölkerung.

In diesem Moment unterbricht Philippe das Gespräch noch einmal: „Entschuldigung, darf ich noch kurz was sagen? Schreiben Sie jetzt bitte nicht, ich sei rechtsextrem! Ich sage ja nur, dass Marine Le Pen recht damit hat, dass wir mehr nationale Souveränität brauchen und unsere französische Identität bewahren sollten. Ich habe absolut nichts gegen Ausländer.“ Magalie dringt derweil darauf weiterzugehen und fügt ironisch hinzu: „Heute ist erst mal Tennis wichtig. Das gehört auf jeden Fall zur französischen Identität!“

Der Text erschien auf der Dritten Seite.

Romy Strassenburg

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