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Merkel gestikuliert an diesem Mittwoch viel. Vor allem wenn es um Digitalisierung geht.

© dpa/Kay Nietfeld

Generaldebatte im Bundestag: Angela Merkel, die Handwerkerin

Sie lässt die AfD abtropfen. Scheinbar ungerührt. Aus Kanzlerin Merkel wird nur im Notfall eine mitreißende Rednerin. Doch wie ernst ihr jedes Wort ist, zeigt sich in der Generaldebatte ganz woanders.

Von Robert Birnbaum

Will jetzt hier vielleicht mal langsam jemand eine große Linie ziehen? Es geht auf den Mittag zu im Bundestag, der Plenarsaal ist nur noch dürftig besetzt. Auch bei der AfD, die immer so viel hermacht mit ihrer angeblichen Dauerpräsenz, halten nur noch die vorderen Reihen fürs Fernsehen das Bild aufrecht. Das ist also die Generaldebatte, der große Tag, an dem das Parlament nach der Tagesordnung über den Haushalt des Kanzleramts debattiert und nach der Tradition über die gesamte Politik?

Dabei hat es in den letzten drei Stunden nicht gefehlt an Aufrufen zur großen Linie. „Ideen“ und eine „Vision“ fordert Sahra Wagenknecht von der Regierung. „Es geht auch um großes Denken!“, verlangt Katrin Göring-Eckardt. „Führen Sie!“, ruft Christian Lindner sogar der Kanzlerin zu, „führen Sie dieses Land“. Und bitte, vor allem, mit „Leidenschaft“.

In der Frühe – da sind die Sitze noch gut gefüllt – stiefelt Angela Merkel im Graublauen in den Plenarsaal. Sie geht auf einen Schlenker beim Fraktionschef Volker Kauder vorbei, macht einen Abstecher zum Gesundheitsminister Jens Spahn, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren, und nimmt Platz im Kanzlersessel. Sie macht es sich bequem. Zur Tradition gehört, dass die größte Oppositionsfraktion das Recht auf das erste Wort hat, also im konkreten Fall die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel.

Die erste Rederunde besteht aus Frauen und Lindner

Die erste Rederunde bestreiten diesmal übrigens fast ausschließlich Frauen: Weidel, Merkel, SPD-Chefin Andrea Nahles, die Linke Wagenknecht, die Grüne Göring-Eckardt. Nur bei der FDP kommt der Chef – aber gut, die Freidemokraten haben inzwischen ja selber erkannt, dass sie ein ziemliches Frauenproblem haben. Was Göring-Eckardt nicht hindern wird, es ihnen noch mal reinzureiben: „Das mit den Frauen regelt der Markt“, spottet die Grüne. „Machen Sie ein gutes Angebot!“

Doch jetzt ist erst Frau Weidel dran. In den ersten drei Minuten ihrer Rede könnte man versehentlich auf den Gedanken kommen, die promovierte Ökonomin wolle wirklich über den Haushalt diskutieren, so viele Schuldenberge und Schattenetats und Lasten für kommende Generationen tauchen in ihrer Rede auf. Aber Weidel biegt schnell wieder in die Klage über „Abermillionen für die Alimentierung von Flüchtlingen“ ein, für die diese Regierenden „mit vollen Händen das Geld zum Fenster rausschmeißen“.

Das kennt man schon. So bleibt Zeit, ein wenig genauer die Züge des Horst Seehofer zu studieren. Der Bundesinnenminister in der ersten Reihe der Regierungsbank stützt das Kinn in die rechte Hand. Selbst hinter diesem kleinen Schutzwall ist aber unübersehbar, dass immer mehr die Röte in sein Gesicht steigt. Seehofer sieht ganz genau so aus, als ob er jeden Moment platzt.

Die AfD polemisiert und wird gerügt

Seine CSU hat die AfD gerade offiziell zum „Feind“ erklärt. Aber wahrscheinlich hängt der steigende Blutdruck noch mehr mit dem herablassenden Schnöselton zusammen, mit dem die Frau Dr. Weidel gegen „Burkas, Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse“ polemisiert.

Für den Spruch kassiert sie eine Rüge des Bundestagspräsidenten. Kopftuchträgerinnen zu Taugenichtsen zu erklären, diskriminiere diese Frauen, sagt Wolfgang Schäuble. „Ich rufe Sie zur Ordnung.“

Weidel nimmt stehende Ovationen ihrer Fraktion entgegen und die Rüge als vollen PR-Erfolg. Den vermeldet sie samt Widerworten („War das berechtigt? Ich denke nicht!“) und dem Youtube-Link zu ihrer Rede sofort als Werbebotschaft per Twitter: „Jetzt anschauen, weiter verbreiten und Kanal abonnieren.“

Später wird Kauder sie zusammenstauchen, von wegen angeblich das christliche Abendland retten wollen und dann derart Menschen ihre Würde absprechen! „Sie brauchen mir nicht mehr kommen mit christlichem Menschenbild!“ Weidel und ihre Leute protestieren lautstark, aber der Unionsfraktionschef ist in Fahrt: „Sie sind jetzt mal ruhig und hören zu! Großmaulig im Austeilen und schwach im Einstecken, das ist AfD!“ Einen Sofort-Link auf diese Rede findet man bei Weidel natürlich nicht.

Merkel sitzt ihrem Fraktionschef auf Sichtkontakt gegenüber. Sie wird sich schon gedacht haben, was da nachher kommt. Also beschränkt sie sie auf eine Pause. „Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen“ – kurzes Schweigen – noch etwas länger – dann: „Guten Morgen!“ Der Rest des Hauses kichert. Alle haben sich hier schon teils offen, teils heimlich über Merkels chronische Unaufgeregtheit geärgert oder, um mit Lindner zu sprechen, den Mangel an rhetorischer Leidenschaft. Aber im Kontrast zum schrillen Alarmton von rechts wirkt der für den Moment geradezu wohltuend.

Merkel ballt die Fäuste

Übrigens fällt aber, was die Leidenschaft angeht, diese Regierungserklärung der Kanzlerin durchaus unter die engagierteren. Würde man nur den Text lesen oder bloß den Ton hören, fiele das vermutlich nicht auf. Beunruhigende Nachrichten aus aller Welt, Israel, Iran, der Atomvertrag: „Wir glauben, man kann besser sprechen, wenn man in diesem Abkommen bleibt.“ Multilateralismus, europäische Antworten, auch auf den Flüchtlingsdruck, mit dem Franzosen Emmanuel Macron übrigens bis auf einen einzigen Punkt einig, bei dem es ums Geld geht: „Der Finanzminister ist großzügig“, sagt sie zu Olaf Scholz gewandt, „aber irgendwie gelten für ihn auch die Grundrechenarten.“ Scholz lächelt knapp. Es folgt die West-Balkan-Politik der EU.

Aus Merkel wird nur im äußersten Notfall eine mitreißende Rednerin, und der Beginn einer Legislaturperiode ist definitiv noch kein Notfall. Aber ihre Gestik sticht doch ab vom Üblichen. Geballte Fäuste, ausgebreitete Arme; einmal stopft sie sogar die linke Hand in die Hosentasche, wie das hier am Pult sonst nur die Kerle machen, wenn sie lässig wirken wollen oder entschieden oder beides.

An zwei Punkten vor allem werden die Hände lebendig. Der eine ist die Digitalisierung und was sie bedeutet für den Industrieriesen Deutschland. Etwa zu glauben, man könne weiter vorne mitspielen bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz und zugleich den Umgang mit großen Datenmengen bloß als Datenschutzproblem betrachten, das passe nicht. Aus der Opposition links von der Union kommen Zwischenrufe.

"Ich mein' es ziemlich ernst"

„Ich mein’ es ziemlich ernst!“, ruft Merkel zurück. Für ihre Verhältnisse ein leidenschaftlicher Satz. Darin schimmert sogar eine Linie durch. Die Sorge, dass Deutschland vor lauter gut gemeinten Einwänden und Gewohnheiten den Anschluss an die rasante Entwicklung der Weltwirtschaft verpasst, war bei der Frau immer präsent, die ein ganzes System wegen Ineffizienz untergehen sah.

Ernst meint sie auch die Forderung nach mehr Geld für die Bundeswehr. Es gehe nicht um Aufrüstung, sondern um Ausrüstung. Das wird noch ein heißes Thema für die große Koalition. Der Entwurf für den übernächsten Haushalt 2019 soll eigentlich bis zur Sommerpause stehen. Für viele Rüstungsprojekte ist er ein Schlüsselhaushalt – was da nicht angeschoben wird, kommt so schnell auch nicht. Aber die SPD mauert.

Außerdem ist Andrea Nahles sauer, dass Merkel sich hier auch schon wieder für ihre Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ins Zeug legt, und zwar, rügt die Sozialdemokratin, „einseitig ohne Absprache mit anderen“.

Dazu muss man wissen, dass die Fraktionschefs spätestens am Abend vorher den Text von Merkels Haushaltsrede kennen. Dieser Teil der Bundeswehr-Passage stand also nicht drin. Nahles revanchiert sich. Aus ihrer Sicht gebe es keinen Anlass, ohnehin geringe neue Einnahme-Spielräume ausgerechnet in Verteidigung zu investieren.

Die großen Linien fehlen

Merkel gestikuliert an diesem Mittwoch viel. Vor allem wenn es um Digitalisierung geht.
Merkel gestikuliert an diesem Mittwoch viel. Vor allem wenn es um Digitalisierung geht.

© Tobias Schwarz/ AFP

Aber insgesamt herrscht doch ziemliche großkoalitionäre Friedfertigkeit. Nahles rügt zwar noch rasch den CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt für seine „Anti-Abschiebe-Industrie“. Aber der lächelt nur geschmeichelt, weil er weiß: Auch das bringt sein Sprüchlein wieder denen in Erinnerung, die er damit zur CSU locken will. Ansonsten nimmt Merkel Seehofer in Schutz gegen den Vorwurf, sich nicht genug um die Vorgänge beim Bremer Bundesamt für Migration zu kümmern – der Minister sei schließlich noch keine 100 Tage im Amt und habe erst vor kurzem davon erfahren, dass in Bremen offenbar massenhaft widerrechtliche Asylbescheide erteilt worden sind.

Nahles verteidigt Merkel, die SPD und die ganze Koalition gegen den Vorwurf, nur ein Aufguss der zurückliegenden vier Jahre zu sein. Die Pläne für Pflege, Rente, Wohnungsbau und Mieten, nicht zu reden vom Teilzeitrückkehrrecht: „Das sind die Fragen, die die Menschen in unserem Land beschäftigen.“ Große Linien sind dies auch für sozialdemokratische Verhältnisse nicht. Aber jedenfalls, darauf besteht Nahles, sind es auch „keine Kamellen“.

Die Kamellen hat Lindner in die Debatte eingeworfen. So wie die klebrigen Lutschbonbons beim Karneval ins Publikum geschmissen würden, ätzte der alerte Freidemokrat, so werfe diese Koalition mit sozialen Wohltaten um sich. „Mit Geld Zustimmung kaufen“, sagt Lindner. „Als ob die da“ – er zeigt in Richtung AfD – „wegen des Pflegenotstands hier sitzen würden!“

Es wirkt wie die Hauptversammlung der Laubenpieper

Was er selbst will, also mehr Geld in Bildung, kompletter Abbau des Solidaritätszuschlags – das ist alles altvertrauter FDP-Sound. Beim Parteitag am Wochenende hatte sich Lindner noch als engagierter Europäer gezeigt, aber auch das scheint eine Episode zu bleiben. Hier zählt wieder nur mehr ganz kleine Münze. Alle anderen Europäer stellten erst Forderungen an den nächsten EU-Haushalt, bevor sie Mittel zusagen wollten, nur die Bundesregierung gebe das Druckmittel preis: „Die Deutschen sind die einzigen in Europa, die sagen, wir geben mehr Geld.“ Bei der AfD klatschen etliche Beifall. „Europa zuerst“, ruft die Grünen-Chefin Annalena Baerbock in den Saal. „Nur zum Richtigen sollte man Ja sagen“, gibt Lindner zurück.

Und wie war das jetzt mit den großen Linien? Schwierig zu erkennen, vorsichtig gesagt. Man könnte diesen Vormittag nämlich sehr gut auch als Hauptversammlung der Laubenpieper beschreiben. Jeder pflegt sein parteipolitisches Gärtchen und behauptet, es biete das einzig wahre Abbild des Landes. Bei der AfD fällt dies düster aus und „schafft sich ab“. Bei der Linken Wagenknecht ist es auch düster, hier Multimillionäre, dort arme Alte, die in Mülltonnen wühlen, und Kinder in Bruchbuden-Schulen, und außerdem ist Wladimir Putin in Sahraland nicht mal halb so ein Schurke wie Donald Trump.

Die Grüne Göring-Eckardt im kirchenlila leuchtenden Kleid meint mit dem „großen Denken“ auch eher so Sachen wie dass sich die Regierung um bezahlbaren Wohnraum kümmern solle statt um ein Baukindergeld, von dem die Leute in den Städten nichts hätten.

"Wir haben viel Arbeit"

Ansonsten nennt sie die Koalition „das größte ökologische Schweigekartell Deutschlands“ und teilt gerecht in alle Richtungen aus: Der Finanzminister Scholz nur ein Wiedergänger des Vorgängers Schäuble, die CSU mit ihrem bayerischen Parteiaufgabengesetz „torpediert das Grundgesetz“ und was Lindner angehe: „Manchmal reicht es eben nicht, Mut aufs Plakat zu schreiben.“ Einig ist sie mit dem Freidemokraten dann aber wieder, dass es nicht genug sei, wenn Union und SPD nur „an diesem oder jenem Punkt mal’n Bömschen verteilen.“

Bömschen ist westfälisch für Kamelle. Dabei stammt Göring-Eckardt aus Thüringen. Nach ihrer Rede geht sie mit dem FDP-Chef mal eben nach draußen. Es mag ja eine Zeit kommen, da man wieder ernsthaft miteinander verhandeln muss. Nur sind vorerst die anderen dran. „Sie sehen, wir haben viel Arbeit“, sagt Merkel. Von links kommt ein spöttischer Zwischenruf in der Art, dass es auch Zeit werde. „Die letzten Jahre haben wir schon viel gemacht, aber noch nicht genug“, sagt Merkel. „So ist das Leben.“

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