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Wer führt dieses Land? Umfragen prognostizieren, dass die Ukip mit 30 Prozent der Stimmen die Labour-Party und die regierenden Tories deutlich abhängen wird.

© Reuters

Großbritannien: Rechte Partei Ukip: Mit Kampf gegen Europa zum Wahlsieg?

Am heutigen Donnerstag wählen die Briten ihr EU-Parlament. Die rechte Ukip kämpft gegen Europa – und könnte erstmals zur stärksten Macht auf der Insel werden. Ein Porträt.

Er hat mit Europa abgeschlossen. John Williams, 65 Jahre alt, sitzt in einem Straßencafé in Derby, er hat sich das Wort Hate in Großbuchstaben auf die Fingerknöchel tätowieren lassen. Hass. Früher war Williams Unternehmer, Inhaber einer kleinen Reinigungsfirma. Anders ausgedrückt: Williams Truppe hat Toiletten geputzt. Auf seinen Dienstreisen sei ihm klar geworden, dass die EU zum Scheitern verurteilt ist, sagt der Frührentner. „Die Idee ist gut, aber sie ist missbraucht worden.“ Außerdem seien die Menschen auf dem Kontinent viel zu unterschiedlich, was man ja schon an den Toiletten sehe: Flachspüler, Tiefspüler, französische Hockklos… – so viele Modelle, das könne ja unmöglich gutgehen.

Williams grinst, ihm gefällt dieses Gleichnis. In seiner Heimatstadt Derby leben rund 250 000 Menschen, die Midlands gelten als eines der letzten klassischen Industriezentren Großbritanniens. Im Rolls-Royce-Werk arbeiten fast 12 000 Menschen, bei Toyota 3800. Auf deren Werksgelände endet gerade die Frühschicht. Die Arbeiter strömen durch die Tore auf den Parkplatz. John Williams quatscht noch mit seinen Kumpels. Auch ein 22-Jähriger mit roten Rastas sorgt sich nicht, dass die Bänder hier still stünden, falls Großbritannien die Gemeinschaft verließe, wie die Japaner bereits angedeutet haben. Es sei doch immer das Gleiche, sagt Williams. Auch die EU drohe ständig, wie schlimm alles ohne sie werde, um die Leute bei der Stange zu halten. „Die gehen nicht. Das soll den Menschen bloß Angst machen.“

Früher wählte er die Tories, jetzt will er für die Ukip stimmen

John Williams zählte früher zu den konservativen Tory-Wählern, nun will er erstmals für die europafeindliche „United Kingdom Independence Party“ (Ukip) stimmen. Wie 400 Millionen Wahlberechtigte hat er ab heute die Möglichkeit, über das neue Europaparlament mitzuentscheiden. Die Briten machen an diesem Donnerstag gemeinsam mit den Niederländern den Anfang. Das hat – ähnlich wie der deutsche Wahlsonntag – Tradition.

Im Großbritannien des Jahres 2014 ist die EU-Mitgliedschaft unpopulärer als jemals zuvor. Das offizielle Ergebnis wird zwar erst am Sonntagabend bekanntgegeben, aber die jüngsten Umfragen sehen die Austrittspartei Ukip mit rund 30 Prozent erstmals vorn in der Wählergunst, knapp vor Labour. Die regierenden Tories von Premier David Cameron können bei der Europawahl mit nicht einmal 20 Prozent der Stimmen rechnen. Daran ändert das Versprechen, die Beziehung zwischen London und Brüssel nachzuverhandeln und das Ergebnis dem Volk 2017 zur Abstimmung vorzulegen, ebenso wenig wie die zuletzt positive Entwicklung der Wirtschaft – die soll dieses Jahr um 2,7 Prozent wachsen, die Arbeitslosenquote auf 6,6 Prozent sinken. Doch die Krise steckt den Menschen noch in den Knochen – und die treibt sie zu Ukip.

Rechtsdrall: Mit welchem Programm die Ukip antritt

Wie beispielsweise in Solihull, einem Vorort von Birmingham. 90 000 Menschen leben hier, die Arbeitslosenstatistik fällt sogar noch etwas besser aus als im Landesdurchschnitt. Die Menschen, die an diesem Abend ins Shirley Centre kommen, einem kleinen Gemeindezentrum mit Bingo- und Quizabenden, erzählen aber ganz andere Geschichten. Sie handeln vom Zerfall der öffentlichen Ordnung, da die Polizeidienststelle nachmittags um vier schließt, und dem Ende der Hoffnung, weil auf der Warteliste für 10 000 Sozialwohnungen 18 000 Menschen stehen.

"Ohne Immigranten würden wir nie einen Doktor sehen", ruft einer

Es ist die Welt der Zurückgelassenen, über die bei der Sitzung des Ukip-Ortsvereins von Solihull gesprochen wird. Etwa 25 Zuhörer sind gekommen, jeder hat eine Klage vorzubringen. „Ich bekomme keinen Krankenhaustermin“, sagt eine Frau. Eine andere erzählt, wie sie vor der eigenen Haustür von Jugendgangs angepöbelt werde. „Ich werde aus meiner Wohnung geschmissen, weil dort jetzt Einwanderer einziehen sollen“, berichtet eine Dritte. Ukip-Ortsvorsteher Brian Savory hat da leichtes Spiel. „Die Einwanderung hat dieses Land zum Schlechten verändert“, sagt er. Zustimmendes Nicken. „Ohne Immigranten würden wir nie einen Doktor sehen!“, ruft einer aus dem Publikum. Es ist ein Scherz, den hier jeder versteht, Gelächter.

Aus der Partei tönt es gelegentlich, der Islam sei "böse"

Die Gratwanderung der Partei, aus der es schon einmal tönt, der Islam sei von Grund auf „böse“ und der dunkelhäutige Komiker Lenny Henry solle doch bitte in ein „schwarzes Land“ auswandern, lässt sich auch in Solihull beobachten. So wie Parteichef Nigel Farage beteuert, dass es sich bei solchen Entgleisungen nur um bedauerliche Ausnahmen handele und die Partei keine rassistische sei, schreitet auch dort der Ortsvorsteher ein, wenn es zu abenteuerlich wird. Zum Beispiel, als gefordert wird, die Entwicklungshilfe für Afrika komplett einzustellen.

Einmal nur an diesem Abend wird die Europäische Union ausdrücklich erwähnt. Als der Parteifunktionär Mark Taylor sagt, die Briten müssten „die EU verlassen, damit wir unsere Einwanderungspolitik selbst bestimmen können“. Seine Forderung verhallt ohne Reaktion. Die Menschen sind nicht zu dem Treffen gekommen, um über Europa zu diskutieren, es geht ihnen um die sozialen Probleme. „Viele kommen in Tränen zu uns und erzählen von Hausschulden und ihrer Not“, sagt Janet Mabbott, die gerade das 130. Mitglied im Ortsverein geworden ist. „In London wissen sie nichts davon.“

So ahnungslos ist David Lidington, Europaminister der Regierung Ihrer Majestät, aber nicht. Auch er sagt: „Die Menschen in unserem Land denken nicht dauernd an Europa – sondern an die Wirtschaftslage, das Gesundheitswesen und die Kriminalität.“ Aber es gebe eben auch das „starke Gefühl, nicht gefragt worden zu sein, als aus der Freihandelszone Europa mit dem Lissabonner Vertrag etwas ganz anderes wurde“. Und nun, so Lidington, werde seine Regierung 2017 „den Menschen eine reformierte EU zur Abstimmung vorlegen“.

Erst war er für Nordirland und Nahost zuständig, jetzt für Europa

David Lidington sitzt im Abgeordnetensalon des altehrwürdigen Palace of Westminister, dem Sitz des Parlaments. Es ist Tea Time und Zeit für britischen Humor. „Meine Kollegen seufzen immer mitleidig, wenn sie mich sehen“, sagt der 57-Jährige. Als David Cameron ihn fragte, ob er Europaminister werden wolle, habe er geantwortet: „Du weißt schon, dass meine ersten beiden Jobs Nordirland und der Nahe Osten waren – ich bekomme offenbar immer die einfachen Jobs.“

David Lidington wird wieder ernst. In den vergangenen Wochen hat der Europaminister viele Stunden damit verbracht, für die riskante Referendumsstrategie seines Chefs zu werben, die den Hardlinern in den eigenen Reihen nicht reicht und Ukip-Wählern schon gar nicht. Lidington ist überzeugt, dass sich viele der Londoner Wünsche auch ohne aufwendige Vertragsänderung umsetzen ließen, wie beispielsweise eine wettbewerbsorientierte Wirtschaftspolitik oder mehr Macht für nationale Parlamente. „Eine bestimmte Zahl von Parlamenten sollte einen EU-Gesetzgebungsprozess aufhalten können. Wir brauchen eine Rote Karte“, sagt Lidington. Das Demokratiedefizit könne aus seiner Sicht nicht mit einem Machtzuwachs des Europaparlaments behoben werden. „Ich verstehe den Idealismus hinter dem Projekt“, sagt Lidington und verweist auf seine ersten Jahre als Regierungsmitglied, als die Berliner Mauer fiel und er nach Deutschland fuhr, um die erste freie Wahl in der DDR vor Ort zu beobachten. „Wir Briten tun uns schwer zu verstehen, was Europas Einigung gerade für Deutschland bedeutet.“ Den Briten habe Mitte des vorigen Jahrhunderts die nationale Identität durch den Krieg geholfen. Für europäische Sentimentalitäten ist da wenig Platz.

Warum die Briten so große Schwierigkeiten mit der EU haben

Wer dieser Tage auf der Insel glühende Europäer sucht, braucht Geduld – oder einen Bekannten im Oberhaus, wo die Lords, Earls und Barone sitzen. Der Belfaster Professor Paul Bew ist einer von ihnen. Für seinen Beitrag zur Aussöhnung in Nordirland wurde er 2007 in den Adelsstand erhoben. Er holt den Besucher ab und führt ihn in den prächtigen Sitzungssaal, über den die Statuen der Barone wachen, die bei der Unterzeichnung der Magna Carta 1215 anwesend waren. „Dieses Haus“, sagt Baron Bew, „ist pro-europäisch.“

Er meint das im Gegensatz zum Unterhaus. „Im House of Commons ist jeder emotionale Bezug auf Europa, den es vielleicht mal gegeben hat, tot.“ Das Gleiche gelte auch für die öffentliche Meinung, da „alle Zeitungen bis auf den ,Guardian’ anti-europäisch sind“. Die zumeist männlichen Lords tragen noch die Kriegserfahrung oder die Erzählungen der Eltern in sich, die Jüngeren nicht mehr. „Das ist alles weg“, sagt Lord Peter Hennessy, der den Professor im Sitzungssaal begrüßt. Er und Bew glauben nicht, dass sie daran noch etwas ändern: „Wir können die Dinge im House of Lords nur verzögern“, sagt Bew in Anspielung auf das Referendumsgesetz, „aber nicht aufhalten.“

"Ich konnte nicht mehr einfach in Brüssel sitzen"

In Yorkshire versucht es trotzdem einer. Richard Corbett klopft an Türen, baut Infostände auf und schreibt in einem Blog gegen die antieuropäische Grundstimmung an. Corbett ist Mitarbeiter im Stab von EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, sein Engagement ist freiwillig. „Ich konnte einfach nicht mehr in Brüssel sitzen und zusehen, wie quer die Europadebatte daheim läuft. Ich wollte mich einmischen.“ Er kandidiert für Labour, dessen Chef Ed Miliband nur dann ein Referendum abhalten will, falls neue Kompetenzen von Westminister nach Brüssel übertragen werden.

In der Debatte mit potenziellen Wählern erzählt er von den 3,5 Millionen Jobs, die an den Exporten auf den Kontinent hängen und den 3000 Euro Mehrwert, die Europa jeder Familie nach Berechnungen eines Wirtschaftsverbandes beschert. Am liebsten aber kontert er das Argument, England könne wie das Nicht-EU-Mitglied Norwegen fröhlich mit dem Rest Europas Handel treiben. „Norwegen muss alle EU-Regeln akzeptieren“, sagt er dann, „darf sie aber nicht bestimmen.“ Manchmal ziehe das, meistens aber nicht, wie er zugibt. „Ich habe mir den Wahlkampf hart vorgestellt“, sagt Corbett, „aber er war härter.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite.

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