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Mutter Ina Seiler, mit ihrem Sohn Lennert auf dem Arm vor dem Inkubator.

© Thilo Rückeis

Hoffnung Intensivstation: Frühchen Lennert will leben

Seit drei Monaten kämpft sich Frühchen Lennert auf der Intensivstation ins Leben. Im Klinikum Neukölln, einem Ort, an dem Wunder zum Beruf gehören.

Gleich geradeaus schläft Lennert. In einem Zimmer mit drei Geräten namens „Giraffe“, am langen Hals die Monitore, im transparenten Maul liegt jeweils ein Kind, die Feuchte so eingestellt, dass die papierene Haut nicht austrocknet. Nahe dem Schwesternzimmer hat er seinen Platz, am Fuß eine rot leuchtende Diode, hier wird die Sauerstoffsättigung des Blutes gemessen, während sein Herzschlag und seine Atmung ohne Pause Kurven auf einen Monitor malen.

Ina Seiler drückt auf die Besucherklingel und im ersten Stock des Klinikums Neukölln klackt die Tür auf. Lennerts Mutter verstaut die Accessoires ihres weltlichen Lebens in einem Spind, dann betritt sie mit desinfizierten Händen einen Ort mit eigener, spezifischer Dichte.

Es ist still um ihren Sohn, denn Frühchen schreien eher kraftlos. Frühchen vertragen keinen Lärm, deshalb hängt im Flur ein Ohr, dass mit rotem Licht anzeigt, wenn es zu laut wird. Die Apparate geben regelmäßige, von Geschulten zu interpretierende Geräusche ab. Es sind keine spitzen Geräusche, eher eine Art leises, stetiges Tuten.

Lennerts errechneter Geburtstermin ist noch Wochen hin. Doch zum 1. März, 27. Woche der Schwangerschaft, entschied man, es sei sicherer für das Kind, auf die Welt geholt zu werden. Seitdem ist sein Zuhause hier. Ina Seiler gleitet in den großen Stuhl neben dem Inkubator und nimmt sich mit Hilfe einer Schwester ihren verkabelten Sohn. Hier sitzt sie nun täglich stundenlang mit ihm auf dem Bauch. Ruhe. Haut und Herzschlag. Nur dass Lennert jetzt auf der Außenseite liegt. Das Licht fällt gedämpft durch die orangefarbenen Vorhänge, sodass das ganze Zimmer in einem Rotstich erscheint, als würde man hinter geschlossenen Augenlidern in die Sonne gucken. Es ist die Farbe, die Bilder aus einem Uterus haben.

Die Station simuliert eine Gebärmutter

Auf der Station 62, der Intensivstation für Frühchen und schwer erkrankte Kinder im Vivantes Klinikum Neukölln, wird in vielerlei Hinsicht das Innerste nach außen gekehrt. Es ist mit 14 Plätzen eine der größten Stationen in Berlin. Von den etwa 8000 Frühgeborenen unter 1500 Gramm, die jedes Jahr in Deutschland geboren werden, liegen rund 100 in Neukölln. Bundesweit überleben bis zu 90 Prozent. Eltern dürfen immer kommen, Todesfälle sind nicht zu vermeiden. Und wenn man verstehen möchte, wie dieses Netz funktioniert, das sich wie ein festes Gewebe stützend um die Frühchen spannt, muss man sich ansehen, wie alle diese Menschen sich mit den kleinsten Handgriffen ergänzen.

Die ganze Station ist ja eine Art Simulation einer Gebärmutter, mit ihrem Licht, den gedämpften Geräuschen, dem Bemühen, eine ideale Umgebung herzustellen, damit passieren kann, was sonst im Mutterleib passiert. Damit die Lungen ausreifen, damit die Frühchen irgendwann ihre Temperatur regeln können. Die Schwestern achten auf Licht, Geräusche, Wärme, Luftfeuchte, Körperkontakt und Nahrung in der idealen Zusammensetzung. Sie prüfen Verdauung und Fieber und Atmung. Die Station pulsiert im Takt der Schichtwechsel, der Besuche durch die Eltern, der Ärzte, der Pflegenden, des Physiotherapeuten, der Psychologen. Wenn dieser Kosmos im Klinikum Neukölln eine eigene Blase ist, dann ist es eine Fruchtblase.

Menschen übernehmen die Funktionen des mütterlichen Körpers für Lennert. Winzigkeiten entscheiden. Die Schwestern wärmen das Wasser und die Nahrung in ihren Händen auf Körpertemperatur vor. Sie wiegen seine vollen Windeln zur Kontrolle - für das Eigengewicht der kleinsten Windel ziehen sie ganze vier Gramm wieder ab. Schon die Beschaffung der Kanülen und Windeln und Pflaster ist eine Herausforderung. Viele Firmen stellen medizinische Produkte in den benötigten Größen gar nicht her. Der Markt ist einfach zu klein. Aber das ist das geringste Problem.

Drei Tage weiß niemand, ob Lennert durchkommt

„Eine Frühgeburt ist eine narzisstische Kränkung“, sagt der Chefarzt der Neonatologie, Rainer Rossi, in seinem Büro im Erdgeschoss. Alle Bilder, die werdende Eltern von sich pflegten, brechen mit einem Mal weg. Es ist eine psychologische Erschütterung, von der sich eine Mutter-Kind-Beziehung, wenn man nicht darauf achtet, auch mal nicht mehr erholen kann. Diese Tatsache, und wie es gelingt, diese Beziehung wiederherzustellen, ist mindestens so ausschlaggebend für die Prognose eines Frühchens wie die hoch spezialisierten Apparate am Anfang.

Apparate, sagt Rossi, sind notwendig, aber nicht hinreichend. Alle Studien sagen, dass vor allem eine gelingende Beziehung die Prognose verbessert. Also muss der Fokus aller Beteiligten auf deren Gestaltung liegen. Rainer Rossi hält deshalb wenig von medizinischen Rekordjagden, die eine Lebensfähigkeit ab der 22. Woche beweisen, er muss nicht Kleinstfrühchen ab 300 Gramm um jeden Preis am Leben erhalten. Er will erreichen, dass Eltern ihre Ohnmacht überwinden. Eltern, denen es schon schwerfällt, die Apparate auszublenden und in dem von der Beatmung geschüttelten Etwas ihr Kind zu sehen. Wie soll man fühlen, dass man selbst die Mutter ist? Wie soll eine Bindung entstehen, wenn man für alles Ärzte fragen muss? Wie sollen Eltern glauben, dass sie eine Rolle spielen? Sauerstoffsättigung ist am Anfang das Wichtigste - aber als Nahrung nicht ausreichend.

Recht früh war klar, dass das Kind von Ina Seiler im Mutterleib unterversorgt wird, Plazentainsuffizienz. Sie und ihr Mann mussten entscheiden, ob sie die Schwangerschaft abbrechen. Das wollten sie nicht, ihr Mann war immer zuversichtlich. Aber seitdem gibt es keine Pläne mehr, nichts Verbindliches, nur noch das Leben von einem Tag auf den anderen. Bei Stress vertikutiert er den Rasen.

Ina Seiler fährt am Wochenende mit dem leisen Tuten und Piepsen der Station im Ohr nach Hause, und dort geht das Geräusch lange nicht weg. Bis sie morgens wieder die Station betritt, mit gemischten Gefühlen, denn bisher ist es immer nur nachts passiert, dass es Lennert ganz plötzlich wieder schlechter ging.

Ina Seiler, 33, Mutter eines Dreijährigen und jetzt auch eines Frühchens, hat am meisten Angst vor einer Hirnblutung oder einem Keim. Es kommt der Keim und mit ihm die Lungenentzündung. Drei Tage weiß man nicht, ob Lennert durchkommt, er muss wieder voll beatmet werden. Die Mutter lässt zur Sicherheit nachts das Licht an: Lennert, beschwört sie ihn, glaub mir, es ist Tag, nicht Nacht. Nur nachts passieren schlimme Dinge.

Fohlen kommen auf die Welt, stehen auf und laufen. Fische schwimmen los. Nur Menschenkinder werden eigentlich zu früh geboren. Das sagt man über Babys, die volle neun Monate im Bauch verbringen konnten, weil sie noch so lange abhängig bleiben. Was aber ist mit denen, die noch früher kommen?

Oft verwenden wir die Sprache des Krieges

Mikosch Wilke, Oberarzt, kaut kurz im Schwesternzimmer eine Art Frühstück. Am Anfang steht oft eine Entscheidung: Behandeln oder Sterbebegleitung? In den letzten Jahren hat sich das Fach rasant entwickelt, aber manchmal ist es besser, den Eltern klarzumachen, dass ein Leben nur mit schweren Schäden möglich ist.

Es ist noch nicht so lange her, da ließ man Kinder unter 1500 Gramm sterben. Heute wiegen die kleinsten Frühchen 300 Gramm. Zugleich werden sie mit viel weniger sensorischen Störungen entlassen als früher. Wilke sagt, man dürfe trotzdem nicht naiv sein. Er weiß, dass seiner Fachrichtung einerseits eine Art Wunderglaube entgegengebracht wird, andererseits der Vorwurf kursiert, zu viele Behinderte zu produzieren. Einen genauen Verlauf kann niemand vorhersehen.

Das Gesetz legt fest: Eine Person ist nach dem deutschen Personenstandsgesetz, wer mindestens 500 Gramm wiegt oder aber lebt. Eine Person lebt, wenn sie atmet, ihr Herz schlug oder die Nabelschnur pulsierte. Als Martina Friedrich, die heute die Pflege leitet, hier 1974 anfing, haben die Eltern die früh geborenen Kinder nur hinter Glasscheiben gesehen. Es war die Zeit, als es noch keinen Ultraschall gab und Eltern nie wussten, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen bekommen. Man ahnte auch nicht, dass Sauerstoff ein aggressives, zellzerstörendes Gas ist, sagt sie. Wenn man es Frühchen in fast 100-prozentiger Konzentration gibt, wie für Erwachsene, zerstört es die kleine Lunge, die dann vernarbt. Das Ausmaß der Schäden, die man den Kindern durch die Behandlung zugefügt hat, wurde über die vergangenen Jahre erst klar. „Man wusste es nicht besser.“

„Und ist Ihnen einmal aufgefallen, wie oft wir Kriegssprache verwenden?“, fragt Martina Friedrich. Man kann auf vielen Ebenen eine sanftere Umgebung schaffen. Sie erinnern sich gegenseitig daran, dass sie nicht sagen sollten, es sehe irgendwo aus wie auf einem Schlachtfeld oder irgendetwas mache sie wahnsinnig. Die Härten der Berliner Gegenwart haben die Mütter ohnehin im Rücken. Da sind ja auch Flüchtlingsfrauen ohne Wohnung, Drogenkranke, Migrantenfamilien, die die Sprache nicht verstehen.

Und doch haben alle auf der Station 62 schon einmal Wunder gesehen. Alle haben von der Frau gehört, die mit 43 Jahren schwanger wurde und eine Frühgeburt hatte, nach Einschätzung aller Beteiligten so unreif, dass sie sich nach eingehender Beratung für eine Sterbebegleitung entschied. Sie legte sich das Baby auf die Brust, um Abschied zu nehmen. Die Zeit verging. Nach vier Stunden lebte das Kind noch immer. Es wurde sogar aktiver, dort bei ihr. Aha, du willst also leben, sagte die Mutter. Und so sollte es sein. Das Mädchen ist heute fünf und kommt öfter zu Besuch.

Vernetzung im Gehirn entsteht durch Antworten

Station 62 ist eine ständige Reifeprüfung, nicht nur für die Kinder. Auch die Eltern reifen in dieser Zeit. Man weiß zum Beispiel, dass ausgerechnet Frühgeburten häufiger misshandelt werden. Die Kinder schreien mehr - und die Eltern sind gestresster. Belasteter, unsicherer. Darauf bereiten sie die Eltern vor. Nur wer Risiken kennt, kann sich wappnen. Und deshalb haben sie hier die „Elternschule“ eingerichtet, wo Mütter und Väter lernen: Schon Streicheln verletzt die dünne Haut, am besten ist es, den Körper großflächig mit der ganzen Hand zu begrenzen. Marmorierte Haut deutet auf Stress oder Kälte hin.

Wie ein erschlaffender Fallschirm senkt sich nun die Hand des Physiotherapeuten auf der Station 62 über einen winzigen Körper und hüllt ihn fast komplett ein. Die Hand übt leisen Druck auf den Brustkorb aus beim Ausatmen und löst ihn beim Einatmen. Indem Ingo von Deest, Physiotherapeut, den Atemrhythmus des Kindes aufnimmt, unterstützt er seine Atmung. 25 Jahre Erfahrung stecken in den Bewegungen seiner Hand. Er spürt, dass die Kinder spüren, dass er da ist. Dass sie ihn wiedererkennen.

Früher wurden die kleinsten Patienten fast alle mit Wahrnehmungsstörungen entlassen, sagt von Deest. Das ist heute nicht mehr so. „Vernetzungen im Gehirn entstehen durch Antworten.“ Babys brauchen den Widerstand von einem Gegenüber, von Haut, Körperkontakt, das weiß man nun. Babys müssen merken, dass eine Bewegung etwas auslöst. Um das zu spüren, müssen sie mit ihrem Mund ihre eigene Hand erkunden. Sie müssen den eigenen Körper erleben, die Schwerkraft, und auf dem Körper der Eltern „känguruhen“.

Er würde den Eltern gerne etwas von seiner Erfahrung abgeben, ihnen die Hemmungen nehmen, ihr Fremdes, Winziges zu berühren. Es aufzunehmen, zu wenden. Es gibt Eltern, die wollen erst gar keinen Kontakt aufbauen, weil sie sich so vor einem möglichen Verlust fürchten.

Singen Sie doch etwas, schlägt eine Schwester Ina Seiler vor. Ich bin nicht so die, die singt, sagt Seiler. Es erscheint ja auch komisch, inmitten dieser Apparate zu singen, in Anwesenheit anderer Eltern. Privatsphäre kann es kaum geben. Ina Seiler berichtet ihrem Kind stattdessen von seinem großen Bruder, der jetzt zu Hause mit den Großeltern ist und mit seinen drei Jahren schon auf den kleinen Bruder wartet. Wenn er doch nur noch ein bisschen wachsen würde.

Abends geht Ina Seiler zurück ins „Elternhotel“. Nur sie, das Tagebuch, der Wecker und die Milchpumpe, die alle drei Stunden für Lennert läuft, der die abgepumpte Milch später über eine Magensonde bekommt. Fünf Minuten sind es von der Station durch den Klinikpark, inzwischen steht er voll in Blüte. An ihrem Fenster steht in einem Wassereimer der Ast einer Korkenzieherweide für ihren Garten. Arbeitsauftrag: Wurzeln schlagen.

Seit drei Monaten schläft Ina Seiler in diesem Zimmer, und sie ist froh, so nah bei Lennert sein zu können. Trotzdem ist sie hier so alleine wie lange nicht mehr. Jeden Abend skypt sie mit Mann und Sohn. Ich bin, sagt sie, normalerweise nicht der Typ, der einen Wecker überhört. Aber hier sei sie auf eine so gründliche Art müde, dass ihr das schon ein paarmal passiert ist. Am nächsten Morgen ist sie wieder um 8.30 auf der Station, wickeln und kuscheln bis 13 Uhr, Mittagspause, nachmittags kommt sie wieder. Sie hat Bekanntschaften im Pumpzimmer geschlossen und ist froh darüber, mit einem anderen Elternpaar gelegentlich eine Pizza essen zu gehen.

Für viele Eltern, sagt die Psychologin Ines Schwager-Engelbrecht, ist nichts mehr planbar. Der Zustand des Kindes schwankt, die Eltern pendeln zwischen Freude und Todesangst, sie tasten sich von Tag zu Tag, „wie auf einer Hängebrücke, die zu reißen droht“.

Und es ist nicht zu verhindern, dass sie manchmal reißt.

Kann man mit dem Sterben jemals Übung haben? Vielleicht keine Übung, aber eine Absicht. Wer mitentscheiden kann, ist nicht völlig ausgeliefert. „Wie wollen Sie den Abschied gestalten?“, fragt die Psychologin. Denn was die Eltern mit dem Kind jetzt noch tun, muss für ein ganzes Leben reichen. Die Literatur empfiehlt, Erinnerungen zu schaffen. Etwa das Abschneiden einer Haarlocke, „falls vorhanden“.

Was für einen schrecklichen Beruf sie habe, sagen Bekannte oft zu Schwester Katja Marx. Dieses Elend! „Welches Elend?“, fragt Katja Marx. Wo es doch um das Leben geht, erste Aufgabe: die Hoffnung zu schüren. Seit zehn Jahren unterstützt sie jeden Tag das Leben. Sie liebt die ersten Male: das erste Baden, die 1000-Gramm-Hürde, ab der die meisten schnell zunehmen. Und am Ende die Dankbarkeit, wenn die Eltern mit einem lebenden Kind nach Hause gehen. Und woher soll das Strahlen auf Marx jungem Gesicht sonst kommen, während sie dies erzählt, als von der Tatsache, dass wahr ist, was sie sagt?

Klingel, Spinde, Desinfektion. Leises Piepen, Ende Mai. Ina Seiler muss es nach drei Monaten ein Zuhause nennen. Alle drei Wochen wiederholt sich in der Cafeteria das Essen. Zum vierten Mal hat Ina Seiler den Zyklus durch. Lennert liegt jetzt weiter entfernt vom Schwesternzimmer, dort, wo die stabileren Patienten sind. Er wiegt 1700 Gramm.

„Na, hat Ingo wieder gezaubert?“, fragt Ina Seiler die Schwester. Trixi lächelt. Ja, Ingo ist da gewesen mit seinen schützenden Fallschirmhänden. Entspannt liegt Lennert da, Sauerstoff super, und gerät in Bewegung, als er die Stimme seiner Mutter hört. Sie hat ihm ein Mobile über den Kasten gehängt, einen ständigen Deckel braucht er nicht mehr. Seit sie in seinem Gesicht Ausdrücke entdeckt hat, die seinem Bruder ähneln, nämlich genau dann, wenn Lennert seine immer noch ziemlich kleine Windel bestückt, zeigt er sich als einer aus ihrer Familie. Jetzt reckt er sich und spreizt die Hände. Wie groß er geworden ist in den letzten Monaten! Es sind noch sechs Tage bis zu seinem Geburtstermin.

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