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Abgefahren. Die Nachtbuslinie 8 verbindet die Partykieze von Mitte über Kreuzberg bis Neukölln. Wer einschläft, wacht spätestens in der Hermannstraße auf.

© Kai-Uwe Heinrich

Im Nachtbus durch Berlin: Gute N8

Die Passagiere schmuggeln Pizzableche, der Fahrer spielt Seelsorger – und die Party geht einfach weiter. Eine Nachtbuslinie, so wild wie Berlin.

Kurz nach zwei in Kreuzkölln, schwer angesagtes Party-Berlin. Vor der Ankerklause, auf halber Strecke zwischen Kottbusser Tor in Kreuzberg und dem Neuköllner Hermannplatz, macht der Bus, was ein guter Bus halt irgendwann mal machen muss. Er rüttelt und schüttelt sich und schnauft und pustet. Für einen Augenblick wird es kühl im Nachtbus der Linie N8, und dann ist es auch schon geschehen um den Duft der großen weiten Welt. Um die Schwaden von Döner, Currywurst, Pizza, Bier, Wodka, Marihuana und was die Damen und Herren Fahrgäste sonst noch so alles mitgebracht haben. So eine computergesteuerte Klimaanlage schert sich nicht um olfaktorischen Internationalismus. „War ja wieder ganz schön was los“, sagt Karsten Prösgen, „hätte ich gar nicht gedacht so kurz vor Silvester, aber der N8 ist nun mal wie eine Wundertüte. Du weißt am Anfang nie, was du am Ende bekommst.“

Der N8 ist der unbesungene Held unter den Berliner Buslinien. Ein Superstar, der in der öffentlichen Rezeption viel zu kurz kommt. Jeder kennt den 100er Bus, die Touristenlinie zwischen Zoo und Alexanderplatz. Oder den M41, der sich mit ewigen Verspätungen durch Neukölln und Kreuzberg quält, Gegenstand von Diskussionen auf Facebook ist und Anwärter auf die Hauptrolle in einem Musical. Wer aber weiß schon um den Zauber des N8? Um das internationale Publikum, das er nächtens zusammenbringt, Woche für Woche von Sonntag bis Freitag, wenn sich die U-Bahn schlafen legt? Der N8 verbindet die Partykieze von Mitte über Kreuzberg bis Neukölln und macht sich dabei an der Basis um die Völkerfreundschaft verdient. „Was die Sehenswürdigkeiten draußen betrifft, gibt es wahrscheinlich attraktivere Linien“, sagt der Busfahrer Karsten Prösgen. „Aber nirgendwo sonst siehst du auf so engem Raum so viele skurrile und lustige Menschen.“ Der N8 ist der am meisten frequentierte Nachtbus im Netz der BVG.

Alle paar Wochen decken Magazine zwischen New York und München auf, dass es mit dem Berlin-Hype nun endgültig vorbei sei. Also diesmal wirklich! Und dass die Karawane nun weiterziehen werde, nach Leipzig, Warschau oder Tel Aviv. Steigende Mieten und Clubsterben und so. Allerdings hält sich das gemeine Volk nicht an die Erkenntnisse dieser Investigativrecherchen und kommt einfach weiter nach Berlin, auch aus Leipzig, Warschau oder Tel Aviv. Im Kleinen wird die Silvesterparty am Brandenburger Tor wie üblich alle Rekorde sprengen. Und im Großen die Besucherzahlen für das gesamte Jahr. Erstmals könnte 2015 die Marke von 30 Millionen Berlin-Touristen überschritten werden. Und im Mikrokosmos des N8 ist die Berlin-Müdigkeit so virulent wie die Samba-Verdrossenheit an der Copacabana.

Strenge Hausordnung, is mir egal

Karsten Prösgens Nachtschicht mit dem N8 beginnt um 1.21 Uhr am Wilhelmsruher Damm. Märkisches Viertel, weit weg vom Epizentrum des hippen Berlin. Mit seinen 35 Jahren, dem kahlen Kopf und dem kecken Kinnbart sieht er aus wie einer, der sich jetzt selbst ganz gern ins Partygetümmel stürzen würde. Vor ihm liegen 53 Stationen und 62 Minuten, so richtig interessant wird es meist erst im letzten Drittel. Prösgen rechnet mit einer ruhigen Nacht, „ist zu kalt für die Clubgänger“, aber schon in Wedding wird es voll. Am U-Bahnhof Osloer Straße sind sämtliche Sitz- und Stehplätze belegt, sehr zum Unwillen des gerade zugestiegenen Flaschensammlers, „ey, mach doch mal Platz da“.

Ein Bursche mit kurz geschorenem Haar wuchtet seinen Koffer auf den Radkasten hinter dem Fahrersitz und sich selbst hinterher, was natürlich streng verboten ist, aber die Szene spielt sich im toten Winkel des Busfahrers ab. Ein paar Reihen weiter döst ein dunkelgelockter Schönling, sehr zur Irritation einer Japanerin, die sich gern auf den Sitz daneben setzen würde, aber nicht ganz zu Unrecht zurückschreckt vor dem Gedanken, der Schläfer könnte seinen Kopf in ihren Schoß legen.

Ein anderer balanciert ein Pizzatablett vorbei an Prösgen, auch das verstößt gegen die Hausordnung, aber die wird in der Nacht immer ein bisschen lockerer ausgelegt – „was glauben Sie, was die Leute schon so alles mit in den Bus nehmen wollten?“

Das könnte eine Steilvorlage für Kazim Akboga sein. Der Neuköllner Comedy-Rapper arbeitet sich in diesen Tagen daran ab, mit seinem Song „Is mir egal“ das Image der BVG ein bisschen aufzuhippen. In einem Video tänzelt er mit dunkler Weste, weißem Hemd und Schaffnermütze durch eine U-Bahn und singt, was ihm so alles egal ist: „Mann auf Pferd, is mir egal. Oma mit Gruftis, is mir egal. Bart an Ladys, is mir egal.“ Eine nächtliche Fahrt im N8 oder eine Unterhaltung mit Karsten Prösgen würde ihm viele schöne neue Verse bescheren: „Mann mit Fahrrad, is mir egal. Frau mit Einkaufswagen, is mir egal. Paar mit Badezimmerschrank, is mir egal.“

Der Busfahrer als Seelsorger

Dichtes Gewusel am Rosenthaler Platz. Das Publikum wandelt sich, hin zu Männern, die ihre Bärte so lang tragen wie die Frauen das Haar. Ein Hipster mit Hut steigt ein, unter dem Arm trägt er ein Skateboard mit Urwaldmuster, das er zum Sitz umfunktioniert. Neben ihn quetscht sich eine Frau, sie versucht Milan Kunderas Buch von der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins zu lesen, aber weil das im Gedränge nicht so einfach ist, knabbert sie lieber an den Fingernägeln.

Weiter zum Hackeschen Markt. Ein neuralgischer Punkt, „kann schon mal sein, dass da hundert Leute stehen und rein wollen“, sagt Karsten Prösgen, aber in dieser Nacht hält sich der Andrang in Grenzen. Um die 30 Nachtgeister steigen ein, darunter fünf Holländer, sie stehen großzügig geschätzt vor ihrem 13. Geburtstag und sind doch irgendwie in den Besitz von zwei Sechserträgern Bier gekommen, ihrem Gang nach zu urteilen sind es nicht die ersten in dieser Nacht. Ein dickes Mädchen mit dicken Kopfhörern faltet sich ein Kopfkissen aus der spanischen Zeitung „El Pais“. Draußen drängen sich die Leute vor dem AM to PM, einem Touristen-Club, der wie gewohnt brechend voll ist. Ein paar Meter weiter wärmen sich Hipster mit Wolldecken in Liegestühlen, misstrauisch beäugt von den Obdachlosen im Torbogen einer Sparkassen-Filiale.

Längst ist der Bus so überfüllt, dass der Rückstau der Fahrgäste bis zur Vordertür reicht. Ein Mann mit blonden Locken kämpft sich zu Prösgen durch und formuliert mit schwer belegter Stimme eine Frage über eine Umsteigemöglichkeit zur Landsberger Allee mit Inanspruchnahme der Straßenbahn, die ihren Betrieb allerdings schon vor zwei Stunden eingestellt hat. Gespräche während der Fahrt sind auch verboten, aber eine Erklärung dieser Dienstanordnung würde nicht ganz mit der Aufnahmefähigkeit des Fahrgastes korrespondieren. „In diesem Bus sind Sie Stadtführer und Seelsorger zugleich“, sagt Karsten Prösgen. Liebes- und Lebensgeschichten auf Deutsch, Englisch, Spanisch werden vorn am Lenkrad vorgetragen und mit wohlwollendem Nicken zur Kenntnis genommen. Und immer mal wieder halten ihm die Leute ihr Mobiltelefon unter die Nase, „da muss ich hin“, und er möge doch bitte direkt vor der Tür halten.

Berlin bei Nacht ist eine andere Welt mit ihrem ganz eigenen Sound. Am Fenster zieht der Alexanderplatz vorüber mit seinen Baustellen, Billigdiskos und windumtosten Freiflächen. Im Bus ist es heiß, stickig und laut. Weiter hinten unterhalten sich drei Jungs über die Eroberungen der Nacht. „Sogar der Fette mit der Baseballkappe hat noch eine abbekommen“, sie selbst sind wohl leer ausgegangen, was auch daran liegen mag, dass sie am Bier nicht gespart haben.

Internationalismus im Bus

Karsten Prösgen steuert seinen Bus über die Jannowitzbrücke, vorbei an der chinesischen Botschaft, einem silbergrauen Bau, der in der Nacht riesengroß und leer und einschüchternd wirkt. Was für ein Kontrast zum Partyleben, zum Gewimmel um das Golden Gate mit seinen gefürchteten Türstehern direkt unter der Brücke. Drei Jungs und zwei Mädchen steigen in den Bus, sie tragen Basecaps und reichlich Metall im Gesicht. Die drei Jungs brüllen sich ihr Reiseziel zu: „Geinrich-Geine-Straßä“ – ah, Russen.

An der Tür versammelt sich eine Horde Spanierinnen, eine ruft: „Hasta las cinco!“, was wohl bedeuten soll, dass die Nacht noch lange nicht zu Ende ist. Die Punk-Mädchen erobern einen freien Sitzplatz, schmiegen sich übereinander und fallen sofort in tiefen Schlaf. Nebenan spielt sich ein italienisches Beziehungsdrama ab. Eine sehr elegante Frau mit sehr hohen Absätzen redet minutenlang auf ihren sehr distinguierten Begleiter ein, was dieser mit sehr majestätischem Schweigen quittiert.

Mittendrin im Getümmel thront ein geschätzt 70 Jahre junger Mann mit lila Rock, Strumpfhose und Armbändern. Das würde in Leipzig, Warschau oder Tel Aviv einen schönen Aufruhr geben. Im N8 guckt keiner hin, nicht einmal gelangweilt.

Das untere der beiden schwäbischen Punk-Mädchen gleitet sanft auf den Fußboden und döst weiter.

U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße, ein Pflichtstopp für routinierte N8-Passagiere. Das liegt nicht so sehr an der städtebaulichen Grandezza mit den grauen Fünfziger-Jahre-Bauten auf der einen und der rosa bemalten Platte auf der anderen Straßenseite. Sondern an den Clubs Kit Kat, Sage und Tresor. Ein Späti bewirbt mit blinkender Leuchtreklame seine Attraktionen: „Sternburg und Pilsator inkl. Pfand nur 50 Cent.“

Bis zur Endstation und weiter

Kreuzberg naht, der Moritzplatz, er hat einen festen Platz im Mythos um den N8. Die Legende berichtet von einem Busfahrer, der in den früheren Morgenstunden das Prinzip Kreisverkehr ein wenig ausgeweitet habe, rum und rum und rum, so um die sechs Mal, dazu soll er laut gesungen und gelacht haben. Offizielle Bestätigungen seitens der BVG-Pressestelle stehen aus. Egal. Der Bus leert sich ein wenig, denn der Moritzplatz beherbergt eines von gefühlt tausend Berliner Hotels der Kette Motel One, dazu die Clubs Prince Charles und Ritter Butzke und eine Kneipe mit einem politisch nicht ganz korrekten Namen: zum kleinen Mohr.

Die lauteste der drei Spanierinnen demonstriert brüllenderweise, dass sie den Trip nach Berlin auch als Bildungsreise in Sachen deutscher Sprache angelegt hat: „Ich hasse dich, du Hurensohn!“ Johlendes Gelächter im Bus.

Vorbei am Oranienplatz, die Zentrale meldet sich bei Karsten Prösgen. Polizeieinsatz am Kottbusser Tor, und dann heulen auch schon die Sirenen, gleich hinter dem Mas y Mas an der Adalbertstraße, einem mexikanischen Imbiss, der eigentlich immer geöffnet ist. Mannschaftswagen rasen durch die Nacht, einer parkt direkt auf dem Rondell am Kottbusser Tor. Links rennen Menschen, rechts rennen Menschen, und aus der naiven Perspektive des N8-Fahrgastes ist nicht ganz ersichtlich, ob sie nun vor der Polizei flüchten oder nur rechtzeitig zur Bushaltestelle auf der anderen Seite des Platzes kommen wollen. Die Spanierin arbeitet an der Weiterentwicklung ihrer Sprachkenntnisse und trägt ein Gedicht vor: „Magst du Hitler? No! magst du Pizza? Yo!“

Und dann, auf Höhe der Ankerklause, bläst schließlich die Klimaanlage den Geruch der Partynacht hinfort. Die beiden Punk-Mädchen schrecken hoch: „Hermannplatz, wir müssen raus!“ Der Bursche mit dem kurzen Haar wuchtet seinen Koffer vom Radkasten und sich selbst hinterher, schnell zum N7 Richtung Schönefeld, Start und Ziel des Easy-Jetsets.

Der Bus leert sich. Karsten Prösgen steuert seinen N8 in die Haltebucht am S-Bahnhof Hermannstraße. Endstation. War ein guter Abend, ohne Schlägereien und ohne dass er Exkremente oder Erbrochenes oder Bier vom Boden wischen musste. Alles schon vorgekommen. Karsten Prösgen schaut auf die Uhr. Halb drei, noch zwei Stunden Schicht, über Buckow zurück nach Kreuzberg. Die Party geht weiter.

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