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In den Rachen des Todes. So nannte der Fotograf Robert F. Sargent dieses Bild, das aus einem der Landungsboote aufgenommen wurde, die am Morgen des 6. 6. 1944 rund 130000 alliierte Soldaten an die Strände der Normandie brachten.

© picture alliance / dpa

Invasion in der Normandie vor 70 Jahren: D-Day im Zweiten Weltkrieg: Damals Feinde, heute Freunde

Am 6. Juni 1944 stürmte Léon Gautier durch Kugelhagel an den Strand der Normandie. Johannes Börner kämpfte für die Deutschen. Erst Jahrzehnte später lernten sie sich kennen. Ihre Freundschaft ist zum Symbol geworden.

Als sie sich zum ersten Mal begegneten, die Hände schüttelten, war Johannes Börner sehr verlegen. „Wegen meines deutschen Akzents“, sagt er. „Und weil ich ja auf der anderen Seite gekämpft hatte.“ Die Sorge war unbegründet. Léon Gautier begegnete ihm mit äußerster Herzlichkeit.

Seit Jahren hatten die beiden Herren da bereits im kleinen Ort Ouistreham an der französischen Küste gelebt, und natürlich kannten sie sich längst vom Sehen. Doch erst die persönliche Vorstellung war der Beginn einer guten Freundschaft. Johannes Börner, 89 Jahre alt, sagt heute über sich und Léon Gautier, 91: „Wir sind wie Brüder.“ Inzwischen sind die beiden Herren zu einem weit über die Stadt hinaus bekannten „Symbol“ der Aussöhnung geworden – und am 70. Jahrestag der Invasion der Normandie gefragte Gesprächspartner.

Denn vor 70 Jahren waren sie Feinde.

Am 6. Juni 1944 stürmte Léon Gautier durch den Kugelhagel der Deutschen an den Strand der Normandie. Der Franzose gehörte dem Kommando Kieffer an, einem nach seinem Hauptmann benannten Trupp von 177 französischen Marineinfanteristen, die als Teil der Royal Marines am Morgen bei Ouistreham angelandet waren. Tausende der alliierten Soldaten starben, bevor sie ihre Ziele an den Stränden erreichten. „Wenige Meter vor mir schwammen blutüberströmte Körper in den Wellen“, sagt Gautier. „Manche lebten noch, aber mit dem Mund voller Wasser verstummten ihre Schreie.“ Gemeinsam mit seinen Kameraden kämpfte er sich durch Stacheldraht und Minen den Strand hinauf, weiter zu den Brücken über die Orne, zu den britischen Fallschirmjägern.

Bei der Landung des Kommandos ließ der britische Kommandeur den Franzosen den Vortritt. „Es war uns eine Ehre, als Erste unser besetztes Land zu betreten.“ So erinnert sich Gautier in dem Buch „Ennemis et Frères“, in dem er gemeinsam mit Johannes Börner von den Kriegserlebnissen erzählt. Im Kampf direkt gegenüber gestanden haben sich der französische Marineinfanterist und der deutsche Fallschirmjäger damals nicht. Börner, dessen Einheit nach der alliierten Landung in einem Gewaltmarsch aus der Bretagne zur Verstärkung in die Normandie geführt wurde, geriet im August 1944 bei Falaise in kanadische Gefangenschaft. So haben die beiden auch nie aufeinander schießen müssen. Das hat ihnen vermutlich erleichtert, sich viele Jahre später als Veteranen zu umarmen.

Operation Overlord: Wie die Politiker den Tag nutzen

Die Geschichte der Invasion der Normandie ist schon unendlich oft erzählt worden. Wie in der Nacht zum 6. Juni 1944 US-amerikanische Fallschirmspringer über der Halbinsel Cotentin absprangen; wie ein Stoßtrupp der 6. britischen Luftlandedivision die Brücke über den Orne-Kanal in Bénouville bei Caen einnahm; wie, wenige Stunden später, Landungstruppen der Alliierten die Strände der Normandie stürmten. Cornelius Ryan hat sie in seinem Buch „Der längste Tag“ aufgeschrieben. Darryl F. Zanuck hat sie in dem gleichnamigen Film mit John Wayne verewigt. Doch die Liste der Personen, die aus eigenem Erleben über das berichten können, was sich damals zugetragen hat, wird kürzer. Léon Gautier und Johannes Börner gehören noch dazu. Von Zeitungen, vom Rundfunk und Fernsehen wurden die beiden alten Herren in letzter Zeit mit Interviewanfragen überhäuft. Anstrengend sei das gewesen, sagen sie. So anstrengend, dass sie nun lieber am Telefon über den D-Day sprechen als bei einem persönlichen Treffen.

„Die selbst dabei waren, sind alt und gebrechlich. Sie werden immer weniger“, sagt auch Arlette Gondrée mit einem bedauernden Schulterzucken. Die 74-jährige elegante Dame mit dem grauen Haar ist die Eigentümerin des kleinen Cafés an der Pegasus-Brücke in Bénouville. Erst hieß die Brücke wie das Städtchen, später wurde sie dann nach dem geflügelten Pferd im Wappen der britischen Division benannt, die die Brücke einnahm.

Ein Offizier trat die Tür ein - und entschuldigte sich

Als kleines Mädchen hat Arlette Gondrée miterlebt, was damals geschah. Auf der Suche nach feindlichen Schützen trat der britische Anführer, Leutnant Gan Thomas, die Tür des kleinen Hauses am Kanal ein, fand aber nur die verängstigte Familie Gondrée vor. Ganz Gentleman habe sich der Offizier entschuldigt: „Es tut mir leid, gewöhnlich pflege ich vorher anzuklopfen.“

Arlette Gondrées Eltern, die damals das Café betrieben, stellten die Räume damals sofort für die Einrichtung eines Notlazaretts zur Verfügung. Später, nach dem Krieg, kehrten britische Veteranen regelmäßig ein im „ersten befreiten Haus Frankreichs“.

Es sind Geschichten wie die von Gondrée, die das Erlebnis des Schreckens mildern, den die „Operation Overlord“, die größte Landungsoperation der Militärgeschichte, für die beteiligten Soldaten und die betroffene zivile Bevölkerung der Normandie bedeutete. 6900 Schiffe setzten sich am D-Day von Südengland aus Richtung Nordfrankreich in Bewegung, Kreuzer, Zerstörer, Schnellboote, Landungsboote; dazu 11 500 Flugzeuge, Bomber, Jagdflieger, Transportflugzeuge und Lastensegler. 12 000 Tonnen Bomben der Alliierten gingen auf die deutschen Stellungen nieder. 23 000 amerikanische und britische Fallschirmjäger sprangen über der normannischen Küste ab, während 130 000 Soldaten mit Waffen und Fahrzeugen über den Kanal übersetzten. Eine, wie sich erweisen sollte, unaufhaltsame Streitmacht, die für ihren Erfolg jedoch große Opfer bringen musste.

Der Ort der Invasion.
Der Ort der Invasion.

© Tagesspiegel/Klöpfel

Fast 10 000 Tote, Verletzte und Vermisste hatten die Alliierten allein am Abend des 6. Juni 1944 zu beklagen. 2500 zivile Opfer forderten die Bombardements von Städten wie Caen, das in den ersten 24 Stunden zu zwei Drittel zerstört wurde. Am Omaha-Beach, dem Landungsgebiet der 29. US-Infanteriedivision, waren die Verluste so groß, dass der amerikanische General Omar Bradley am Mittag überlegte, die Operation an dem sechs Kilometer breiten Küstenstreifen abzubrechen.

Das Gedenken findet dieses Jahr in Ouistreham statt

Nach Utah und Omaha, den amerikanischen Landungszonen im Westen, wo die Gedenkfeiern an früheren Jahrestagen stattfanden, bestimmte Frankreichs Präsident François Hollande diesmal Ouistreham in der britischen Landungszone Sword im Osten zum Schauplatz der großen internationalen Zeremonie. An diesem Freitag also wird die Welt auf den Strandabschnitt schauen, an dem Léon Gautier damals wieder französischen Boden betrat. Staats- und Regierungschefs der ehemals gegen Deutschland verbündeten Länder sind eingeladen, neben dem US-Präsidenten Barack Obama und der englischen Königin wird auch der russische Präsident Wladimir Putin erwartet. Nach Gerhard Schröder 2004 wird Angela Merkel als zweite deutsche Regierungschefin den zum Verbündeten und Partner gewordenen einstigen Kriegsgegner repräsentieren.

Putins Anwesenheit soll Obamas Missfallen ausgelöst haben. Doch das französische Protokoll werde dafür sorgen, dass beide nicht nebeneinander sitzen werden, hieß es aus dem Elysée-Palast. Und wenn Putin den neuen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, den Hollande nach dessen Wahl kurzfristig noch dazu gebeten hat, absolut nicht sprechen wolle, würde auch dies vom Protokoll diskret geregelt.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, was die 18 Staats- und Regierungschefs vor den 8000 Gästen auf den Tribünen, den Veteranen, Honoratioren und durch Losentscheid bestimmten Leuten aus dem Volk, sowie den Millionen Fernsehzuschauern in aller Welt, zelebrieren wollen. Den Sieg über die Barbarei? Den Geist des Friedens? Den Willen zur Zusammenarbeit in Europa und in der Welt?

Deutsch-Französische Freundschaft: Wie sich die Menschen versöhnen

Mon ami. Ihre jeweiligen Erinnerungen an die Invasion der Normandie im Juni 1944 haben Léon Gautier (rechts) und Johannes Börner inzwischen in einem gemeinsamen Buch verewigt.
Mon ami. Ihre jeweiligen Erinnerungen an die Invasion der Normandie im Juni 1944 haben Léon Gautier (rechts) und Johannes Börner inzwischen in einem gemeinsamen Buch verewigt.

© AFP

Lange Zeit hatten die Politiker in Paris für Erinnerungsfeiern nichts übrig. Die Landung in der Normandie war für sie eine alliierte Militäroperation, von der Frankreich ausgeschlossen war und deren Gedenken damit amerikanischen und britischen Militärs überlassen blieb. 1964 lehnte es Präsident Charles de Gaulle ab, an der Feier zum 20. Jahrestag teilzunehmen. Der General hatte es den Verbündeten nicht vergeben, dass sie ihn 1944 lange Tage hatten warten lassen, bevor er in der normannischen Stadt Bayeux erstmals wieder den Fuß auf französischen Boden setzen konnte. Es war dann Präsident François Mitterrand, der 1984 mit der Einladung an US-Präsident Ronald Reagan der 40-Jahr-Feier einen politischen Sinn gab.

Die Trikolore hängt heute neben der deutschen Flagge

„Die bloße Erinnerung an den Krieg sagt den Leuten nichts mehr“, sagt Romain Bail. Der 29-jährige Geschichtslehrer ist der Bürgermeister von Ouistreham. Der 8000 Einwohner zählende Badeort mit seiner mittelalterlichen Kirche und den vielen Villen aus der Belle Epoque war im Krieg unzerstört geblieben. Bail, Angehöriger der konservativen UMP, blickt nach vorn. „Wir müssen uns im Bewusstsein des Geschehenen der Zukunft stellen“, sagt er. Eine seiner ersten Amtshandlungen nach seinem Sieg bei der Kommunalwahl im März war, die schwarz-rot-goldene deutsche Fahne neben der Trikolore und dem Europa-Banner am Rathaus aufzuziehen. Während die Flaggen der Alliierten Plätze und Straßen der Stadt schmücken, ist die deutsche Flagge die einzige eines Partnerlandes, das das Portal der Mairie ziert. „Die Herausforderung an unsere Generation heißt Europa“, sagt er, „der Schüssel dazu ist die Zusammenarbeit mit Deutschland.“

Léon Gautier war nach dem Krieg zunächst nach England und Afrika gegangen, ehe er nach Frankreich zurückkehrte und sich schließlich in Ouistreham niederließ. Dort kümmert er sich seither um die Vereinigung, die die Erinnerung an seine gefallenen Kameraden vom Kommando Kieffer pflegt.

Johannes Börner hatte sich nach seiner Entlassung aus einem französischen Lager 1948 entschieden, nicht in seine Geburtsstadt Leipzig zurückzukehren, sondern in Frankreich zu bleiben. Er schlug sich als Landarbeiter und dann als Kellner durch und nahm 1956 die französische Staatsbürgerschaft an. 1973 heiratete er. Mit seiner Frau Thérèse, einer Normannin, eröffnete er in Ouistreham das Restaurant „Le Châteaubriand“, das viele Veteranen – auch aus Deutschland – anzog. Und dort stellte sich Gautier nach einem Essen dem heutigen Freund auch erstmals offiziell vor.

"Nie wieder"

„Johannes Börner ist ein aufrechter Mann“, sagt Léon Gautier in ihrem gemeinsamen Buch. „Ich kenne und schätze ihn. Etwas belastet sein Gewissen, aber es ist nicht das Gewissen eines Unredlichen. Es schmerzt ihn, was er getan hat. Das muss man respektieren.“

Gemeinsam haben die beiden schon mit vielen Historiker gesprochen. Vor etlichen Schulklassen traten sie auf. Ihre Botschaft war immer und immer wieder dieselbe: „Nie wieder.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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