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Die Polizei schätzt, dass deutschlandweit 8000 Rocker im kriminellen Milieu aktiv sind.

© Maja Hitij/dpa

Kadir P. und seine Hells Angels vor Gericht: Unter Blutsbrüdern

Seit einem Jahr läuft der Prozess gegen "Hells Angels"-Boss Kadir P. und seine Gefolgsleute. Beobachter sprechen bereits von einer Sensation.

Von wegen Schweigegelübde. Sie unterhalten sich ständig, sie tuscheln und feixen in ihren Sicherheitsboxen aus Panzerglas. Weil die Scheiben auf halber Höhe Aussparungen haben, dringt jedes Wort in den Saal.

Irgendwann reicht es dem Oberstaatsanwalt: „Vielleicht kriegt man die Angeklagten dazu, dass sie wenigstens während der Beweisaufnahme ihre Quatscherei einstellen?“

Darauf der Angeklagte Kadir P.: „Wen meint er denn?“

Der Angeklagte Marcel K.: „Er soll sich mal die Ohren putzen.“

Der Angeklagte Selim B.: „Hehehe.“

Mit ruhiger Stimme sagt der Oberstaatsanwalt dann, dass er keine Lust mehr habe auf diese Frechheiten. Der Richter nickt, unterbricht die Verhandlung für zehn Minuten. Außerdem droht er mit weiteren Pausen, sollten die Angeklagten später immer noch stören. „Dann dauert das hier eben länger“, sagt er in ihre Richtung. „Wenn dies in Ihrem Sinne ist, bitte gern. Das kann ich mir aber nicht vorstellen.“

Er klingt wie ein verzweifelter Lehrer, der seine Problemschüler aus der letzten Bankreihe unter Kontrolle bringen will. Bloß dass dies kein Klassenzimmer ist, sondern der Hochsicherheitssaal 500 im Kriminalgericht Moabit. Und dass die Ermahnten längst dem Schulalter entwachsen sind. Allesamt kräftig bis bullig, die meisten mit kahl rasiertem Schädel, viele tätowiert. Unter T-Shirts zeichnen sich gut trainierte Brustmuskeln ab.

Zehn der elf Angeklagten sind Mitglied bei den „Hells Angels“, weshalb dieses Verfahren, das mittlerweile seit einem Jahr läuft, auch „Rockerprozess“ genannt wird. Es ist ein ganz erstaunlicher Prozess. Beobachter sagen, er sei schon jetzt eine Sensation. Eine, die den Kosmos des organisierten Verbrechens in Berlin nachhaltig verändern könne.

Am 68. Verhandlungstag ist die Pause kaum beendet, da poltert erneut ein Rocker los. Cenkay T., 25, tobt. Er sagt, die Protokollführerin habe ihn dumm angeguckt.

Die Angeklagten haben zwei Dutzend Anwälte

Auf beiden Längsseiten des holzgetäfelten Raums sitzen die Angeklagten, fünf links, sechs rechts. Dazwischen Bankreihen voller Anwälte. Die Rocker, viele offiziell Hartz-IV-Empfänger, beschäftigen zwei Dutzend der renommiertesten Strafverteidiger Berlins.

Neun der Angeklagten sollen im Januar 2014 spätabends ins Wettbüro „Expect“ in der Reinickendorfer Residenzstraße einmarschiert sein und im Hinterzimmer einen Rivalen hingerichtet haben. Acht Schüsse in fünf Sekunden, sechs trafen, jeder einzelne wäre tödlich gewesen. Das Opfer verblutete auf dem Fußboden.

Der mutmaßliche Auftraggeber sitzt vom Richter aus gesehen links ganz vorn: Rockerboss Kadir P., 31, breite Schultern, verschmitztes Lächeln, verheiratet, aufgewachsen in Wedding. Sein Vater kam als türkischer Gastarbeiter zu Osram, Kadir selbst war lange Boxer, besitzt eine Shisha-Bar. Er trägt ein graues Nike-Shirt. Seine Ehefrau ist unter den Zuschauern, er wirft ihr liebe Blicke zu, gelegentlich Kussmünder. Im Nacken hat er die Buchstaben „AFFA“ tätowiert. Angels Forever, Forever Angels.

Der mutmaßliche Drahtzieher gilt als brutal

Den Mord soll Kadir P. angeordnet haben, um Macht zu demonstrieren und Rache zu üben, so steht es in der Anklage. Sogar für Milieuverhältnisse gilt der Mann als brutal. Ein Aussteiger beschrieb ihn als „unberechenbar“ und „größenwahnsinnig“. Vor elf Jahren begann Kadir P. seine Rockerkarriere, erst war er Bandido, dann Hells Angel, bei beiden Gruppen wurde er „Präsident“. Seine Polizeiakten sind so dick wie seine Oberarme. Manche Ermittler nennen ihn „Kadir Capone“, andere lehnen den Spitznamen ab - er sei verniedlichend. Im ersten Prozessjahr hat Kadir P. Contenance bewahrt. Nur einmal im Januar, 16. Prozesstag, sprang er auf, hämmerte gegen das Panzerglas und brüllte. Fortan hatten die Prozessbeobachter eine Ahnung davon, wie bedrohlich dieser Mann wirken kann.

Ein Mord als Machtdemonstration?

Kadir P. sitzt ganz links auf der Anklagebank. Neben ihm ist der Hells Angel Sardar H.
Kadir P. sitzt ganz links auf der Anklagebank. Neben ihm ist der Hells Angel Sardar H.

© dpa

Die Beweisaufnahme läuft schleppend, schon jetzt geht das Gericht von einer Prozessdauer bis mindestens November 2016 aus. Ständig erklären Zeugen, sie könnten sich an nichts erinnern. Heute zum Beispiel Beyram K., 39, der am Tatabend im „Expect“ am Nebentisch saß und einen optimalen Blick hatte. Im Gerichtssaal behauptet er, wenig zur Aufklärung beitragen zu können, er habe eigentlich nur einen einzigen Schuss gehört.

Richter: „Nur einen? Woher kam der?“

Zeuge: „Gute Frage ...“

Richter: „Was haben Sie gesehen?“

Zeuge: „Gar nichts.“

Richter: „Wie gar nichts? Hatten Sie etwa die Augen geschlossen?“

Zeuge: „Ich war doch so fixiert auf mein Kartenspiel.“

Es braucht Minuten des guten Zuredens und Insistierens, bis sich der Zeuge doch wieder an drei Maskierte erinnert, und ja, einer von denen habe möglicherweise eine Pistole in der Hand gehalten.

Andere Zeugen sind so nervös, dass sie keinen vollständigen Satz herausbringen oder sich die Hand vor den Mund halten. Einer antwortet mit „Ich weiß nicht“, bevor der Richter überhaupt seine Frage gestellt hat.

Plötzliche Erinnerungslücken sind bei Rockerprozessen normal

Wertlose Zeugenaussagen und plötzliche Erinnerungslücken sind fester Bestandteil von Rockerprozessen. Der Verdacht liegt nahe, dass Zeugen vor Gericht keine Gruppe belasten wollen, die sich später rächen könnte. Oft bleibt dann nur ein Freispruch aus Mangel an Beweisen. Auch Rockerboss Kadir P. hat in der Vergangenheit massiv von Gedächtnisverlusten Dritter profitiert. Der Türsteher, dem er angeblich mit einem Messer in den Hals zu stechen versuchte? Konnte sich vor Gericht an nichts erinnern. Die beiden Bauarbeiter, denen Kadir P. in einer McDonalds-Filiale mit der Machete hinterhergejagt sein soll? Hatten keine Ahnung mehr. Die mehr als 50 Mal, in denen bisher gegen Kadir P. ermittelt wurde, führten zu lediglich sechs Verurteilungen - unter anderem wegen Beleidigung von Polizeibeamten („Wichser“, „Halt die Fresse, du Affe“) sowie Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Dass er einmal der Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung überführt wurde, verdankt der Rechtsstaat einem Zeugen, dem Gedächtnisverlust naturgemäß fremd ist: Eine Überwachungskamera hatte Kadir P. im Februar 2008 nachts am Spandauer Damm gefilmt, als zwei verfeindete Rocker mit Messern und Baseballschlägern angegriffen wurden. Einem Opfer wäre fast der Unterarm abgetrennt worden. Kadir P. erhielt eine Haftstrafe von einem Jahr auf Bewährung.

Dies ist nur die eine Hälfte der Verteidiger. Die andere sitzt gegenüber.
Dies ist nur die eine Hälfte der Verteidiger. Die andere sitzt gegenüber.

© dpa

Diesmal soll er lebenslang bekommen, und sollte dies gelingen, läge das wesentlich an dem Mann, der in Saal 500 dem Rockerboss genau gegenübersitzt: Kassra Z., 28, Ex-Hells-Angel. Er war einer der Maskierten im „Expect“, packte nach seiner Festnahme aus. Seitdem lebt er im Zeugenschutzprogramm, dem Rockerkodex zufolge ist er vogelfrei. Die Staatsanwaltschaft hält sogar einen Mordversuch im Gericht für realistisch. Auch deswegen sind nur 30 statt der sonst üblichen 60 Zuschauer zugelassen, ist ein Dutzend Justizwachtmeister und Personenschützer im Saal, warten im Nebenraum Polizisten. Kassra Z. stützt seinen Kopf ständig auf der rechten Hand ab, genau so, dass er die Mitangeklagten, die er verraten hat, nicht sieht.

Im Laufe des Prozesses gab er Einblicke ins Innenleben des Klubs, die weit über das hinausgingen, was sich die Ermittler erhofft hatten. Seine Ex-Kumpanen charakterisierte er wenig schmeichelhaft: Sardar H. sei psychisch gestört und triebgesteuert, Selim B. cholerisch und „selbstdarstellungsgeil“, Rami El-S. leichter Analphabet, Marko P. bloß Mitläufer und Lückenbüßer. Der Aussteiger verriet eher unwichtige Details (etwa dass die Lederkutten für 350 Euro bei einem Maßschneider in Charlottenburg bestellt würden) und viele relevantere (etwa dass es eine Klubkasse gebe, aus der die Anwälte bezahlt würden - so sei gesichert, dass sich alle an die Verhandlungstaktik des Chefs hielten). Den Klub insgesamt bezeichnete Kassra Z. als „einen Haufen Krimineller“.

Sind Rocker nicht krimineller als Tischtennisspieler?

Die Argumentionslinien sind seit Jahren dieselben. Ermittler sagen, Rockerklubs seien in Schutzgeld- und Drogengeschäfte, auch Waffen- und Menschenhandel verstrickt. Die Beschuldigten kontern, allenfalls seien einzelne Mitglieder kriminell, doch dieses Phänomen finde man in jeder Berufsgruppe und jedem Tischtennisverein. Wild und rebellisch, aber ehrbar sehen sie sich, und so präsentierte sich auch Kadir P. einen Monat vor seiner Verhaftung in Bushidos Musikvideo „Mitten in der Nacht“. Darin gab er den Boxer, der Regeln befolgt, mit dem man sich besser trotzdem nicht anlegt. Seine Erzfeinde, die Bandidos, bezeichnen sich selbst gar als „Non-Profit-Organisation“. Auch Rocker können Ironie.

Ein wichtiger Zeuge ist abgetaucht

Eine Polizeikontrolle in Charlottenburg.
Eine frühere Polizeikontrolle in Charlottenburg.

© Kai-Uwe Heinrich

Ermittler hoffen, dass durch den jetzigen Prozess nachhaltig Strukturen zerschlagen werden. Ob das gelingt, hängt auch davon ab, wie sehr das Gericht dem jungen Mann glaubt, der rechts ganz außen auf der Anklagebank sitzt: Recep O., 26, freundlicher Typ mit Brille. In einer Prozesspause hat er sich eine Anwaltsrobe stibitzt und umgehängt, das war lustig. Glatt könnte man denken, dieser Mann sitze sicher zu Unrecht auf der Anklagebank. Vielleicht eine Namensverwechslung?

Tatsächlich ist Recep O. derjenige, der beim Überfall im Wettbüro ganz vorn lief und sämtliche Schüsse abgab. Aus dem Gefängnis schrieb er der Polizei einen achtseitigen Brief, in dem er alle Schuld auf sich nahm. Er habe im Alleingang und in Panik gehandelt, niemand sei eingeweiht gewesen. Der Oberstaatsanwaltschaft hält das Geständnis für ein Ablenkungsmanöver - und Recep O. für das auserkorene Bauernopfer.

Die entscheidende Frage lautet deshalb, ob es einen Mordauftrag gab. Beziehungsweise: ob der sich beweisen lässt.

Das Opfer soll einem Hells Angel in die Hand gestochen haben

Kurz nach der Tat wandte sich der beste Freund des Niedergeschossenen an die Polizei. Kadir P. habe ihm mehrfach gesagt, er wolle das spätere Opfer „unter die Erde bringen“, weil es bei einer Schlägerei am Alexanderplatz einem Hells Angel in die Hand gestochen habe. Und dass der Mann „schon so gut wie weg“ sei.

Das Problem: Der Zeuge hat seine Aussage nicht vor Gericht wiederholt, ist stattdessen abgetaucht. Seine Schwester sagte aus, der Druck auf ihren Bruder sei zuletzt unerträglich geworden, ein Anwalt habe ihm Geld geboten, falls er sich vor Gericht anders erinnere als bei der Polizei. Die Schwester bestätigte auch, dass es einen Mordauftrag gegeben habe.

An diesem Dienstag soll sie erneut befragt werden. Aus dem Kreis der Verteidiger heißt es, man werde versuchen, ihre Glaubwürdigkeit zu ruinieren. Unter anderem wollen sie der Frau zahlreiche Männerkontakte vorhalten. Auch Kontakte in die Erotikbranche.

Mehr als 1000 Seiten sind die ProzessUnterlagen inzwischen stark. Um die zu sichten, bekamen die Angeklagten auf Staatskosten Laptops in ihre Zellen geliefert. Ein Verteidiger vermutet, noch keiner im Saal habe alle Dokumente gelesen.

Für die Theorie mit dem Auftragsmord spricht, dass die Polizei schon Wochen vor der Tat entsprechende Hinweise hatte. Ein zuverlässiger Informant des Landeskriminalamts warnte die Ermittler vier Mal, Kadir P. habe angeordnet, den Rivalen umzubringen. Warum die Polizei den Mann nicht informierte, ist bis heute unklar. Innensenator Frank Henkel spricht davon, die „Gefährdungslage“ sei „falsch bewertet“ worden.

Einig sind sich die Ermittler darin, dass die alten Strukturen der Hells Angels noch funktionieren, der Rockerboss auch aus der Untersuchungshaft heraus Anweisungen geben könne. Mehrfach wurden in den Zellen inhaftierter Vertrauter Handys beschlagnahmt.

Gleichzeitig lässt sich eine Machterosion beobachten. Neue Rockerklubs ringen um Marktanteile auf der Straße. Voriges Wochenende trafen sich mehrere hundert Mitglieder der „Osmanen Germania“ in Spandau, sie gelten als Feinde der Hells Angels. Vier Wochen zuvor hatte bereits eine bisher unbekannte Gruppierung namens „Bulldogs MC Berlin“ Kadir P. den Krieg erklärt: An einem Freitagnachmittag fuhren 20 Männer zu dessen Shisha-Bar „Harlem“ in die Weddinger Triftstraße, Treffpunkt der übrig gebliebenen Hells Angels. Unter normalen Umständen würde sich dort keine verfeindete Bande hintrauen. Die Angreifer schlugen auf Kadir P.s Vertraute ein, drei mussten ins Krankenhaus.

Polizei findet Waffen im Rocker-Treffpunkt

Möchte man das eigene Image nicht komplett ruinieren, wäre jetzt, der inneren Branchenlogik entsprechend, dringend ein Vergeltungsschlag nötig. Und zwar einer, bei dem auf gegnerischer Seite mindestens ebenso viel Blut fließt wie im Harlem. Das weiß auch die Polizei, weshalb sie in den Folgewochen wiederholt das Quartier der Hells Angels nach Waffen durchsuchte, mit denen sich zurückschlagen ließe. Sie fand einige.

Auch die größten Optimisten glauben nicht, dass sich mit dem Prozess gegen Kadir P. und seine Gefolgsleute Drogenhandel oder Schutzgelderpressungen in der Stadt beenden lassen. Aber er gilt, so zäh und anstrengend er für alle Beteiligten ist, so kleinteilig selbst um minimale Erkenntnisgewinne gerungen wird, als Lichtblick. Als Beleg für einen wehrhaften Rechtsstaat. Einen, der genügend Zeugen dazu bewegen kann, sich zu trauen.

Der Abtrünnige Kassra Z. will übrigens keinen Mordauftrag mitbekommen haben. Er sagt allerdings auch, dass Kadir P. niemals so dumm wäre, einen solchen Auftrag im großen Kreis, vor vielen Mitwissern, zu erteilen. Außerdem habe der Rockerboss derart autoritär geherrscht - der Alleingang eines Einzelnen wäre ohne Billigung der Führung schlicht undenkbar gewesen.

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