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Heute ist Ikuo Yabushita 89 Jahre alt und einer der letzten Kamikaze-Flieger, die heute noch von ihren Erlebnissen berichten können.

© Lill

Kamikaze-Flieger: Versagt, weil er den Krieg überlebte

Mit 19 wollte Ikuo Yabushita sterben wie ein Held – und durfte nicht. Der 89-Jährige ist einer der letzten lebenden Kamikaze-Piloten.

Es ist der 13. August 1945. Der 19-jährige Ikuo Yabushita reißt seine rechte Hand zum Gruß an die Stirn, strafft seinen Körper und rennt los. Drei Jahre lang hat er für diesen Moment trainiert. Endlich soll Ikuo Yabushita seine finale Mission antreten, sich für sein Vaterland opfern, den Heldentod sterben. Er eilt nach draußen auf die Wiese, raus aus der Kaserne, rupft eine Graswurzel aus dem Boden und steckt sie in die Brusttasche. Zu einer Beerdigung gehört Erde, denkt er.

Wie schon 1000 Piloten vorher kennt Ikuo Yabushita seine Aufgabe: Er soll seinen Sturzkampfbomber Typ Yokosuka D4Y in einen US-amerikanischen Flugzeugträger rammen, von denen sich seit Monaten immer mehr der japanischen Küste nähern. Im August 1945 liegt fast ganz Japan in Trümmern, über Hiroshima und Nagasaki sind zwei Atombomben explodiert. Tokio, fast alle Großstädte, sind durch Luftangriffe zerstört worden. Yabushita und die anderen jungen Männer sollen zumindest den heiligen Kaiserpalast beschützen.

Ikuo Yabushita rennt noch einmal zu seinem Bett in der Kaserne und zieht ein Blatt Papier unterm Kissen hervor. In den letzten Sekunden vor dem Abflug beginnt er einen Brief an die Eltern „Lieber Vater, liebe Mutter…“ Gerade als er die ersten Zeilen geschrieben hat, ruft der General durch den Flur: „Falscher Alarm!“ Was die Späher auf dem Wachturm geortet hatten, war kein Militärschiff. Es war ein Fischerboot. Yabushita fühlt sich erleichtert. Und irgendwie enttäuscht. Zwei Tage später kapituliert das Japanische Kaiserreich. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei. Kein Heldentod.

Flugzeuge, die nicht zurückkommen

Heute ist Ikuo Yabushita 89 Jahre alt und einer der letzten Kamikaze-Flieger, die heute noch von ihren Erlebnissen berichten können. Außerhalb Japans sind die Kamikaze Sinnbild für eine der absurdesten Ausprägungen des Krieges. Japan, das an der Seite von Deutschland und Italien kämpfte, wollte seine Hauptinseln bis zum letzten Mann verteidigen. Die Kamikaze dienten als menschliche Schutzschilde. In den kommenden Tagen will Japan darüber entscheiden, ob die Abschiedsbriefe der Flieger zum Bewerber für das Unesco-Weltkulturerbe erklärt werden sollen. Eine staatlich organisierte Selbstmord-Mission als Teil des Weltgedächtnisses?

In einer Reihe mit der Chinesischen Mauer, dem Fujiyama und der Berliner Museumsinsel? In der Kleinstadt Chiran im Südwesten Japans traten die meisten Flieger ihre letzte Mission an. Auch Ikuo Yabushita trainierte hier. Das „Friedensmuseum“ hat an diesem Ort die Initiative für das Weltkulturerbe gestartet. Wer den Mythos der Selbstmordkommandos ergründen will, sagt Yabushita, muss dorthin gehen. „Nur wer die Ausstellung gesehen hat, kann verstehen, was geschah und warum wir nicht vergessen dürfen.“ Erst nach dem Besuch will er seine eigene Geschichte erzählen. Abgemacht.

Die Gedenkstätte liegt einige Minuten entfernt von einer alten Gartensiedlung der Samurai. Jener sozialen Klasse, die in Japan bis Mitte des 19. Jahrhunderts für Stabilität und moralische Werte stand. Später hoben hier im Stundentakt Flugzeuge ab, die nicht zurückkommen würden. Verführt mit den Tugenden, für die die Samurai einst eintraten. Die Regierung sagte den Männern: „Entweder stirbt eure Familie und das ganze Land geht unter oder nur ihr. Opfert euch, und ihr rettet ganz Japan.“ Wer seinen Auftrag ausführte, wurde posthum befördert.

Verdammt wird der Krieg auch nicht

Auf der alten Startbahn liegt heute ein großer Parkplatz, auf dem Busse mit Touristen halten. Dahinter ist der Eingang des Museums. Dort wartet Takeshi Kawatoko, ein älterer Herr mit kahl rasiertem Kopf und einer locker sitzenden Anzughose. „Sie wollen also lernen“, sagt er und weist den Weg. Kawatoko führt in einen Besprechungssaal mit Beamer und Leinwand, der sonst für Schulklassen genutzt wird. An den Wänden hängen Bilder von Kampfflugzeugen. „Zweimal haben wir schon versucht, Unesco-Weltkulturerbe zu werden. Diesmal stehen unsere Chancen besser“, sagt Kawatoko. Auch der Bürgermeister unterstütze jetzt das Vorhaben.

Kawatoko ist ehemaliger Soldat. Vor 15 Jahren ging er in Pension. Seitdem engagiert sich der 75-Jährige als Tourguide, erzählt die Geschichten der Gefallenen. Gelernt hat er von Überlebenden wie Ikuo Yabushita. „Das Durchschnittsalter der Kamikaze lag bei 21,6 Jahren, viele von ihnen gingen zur Universität“, sagt Kawatoko. Er spricht langsam. „Ihre Geschichten hätten anders verlaufen sollen als das, was Sie hier sehen. Ich selbst war japanischer Soldat in einer Ära des Friedens. Aber meine Vorgänger hatten das Pech, im totalen Krieg zu leben.“ Kawatoko hört einen Moment auf zu reden, als lege er eine Schweigeminute ein.

Das Museum verherrlicht den Krieg nicht. Verdammt wird er aber auch nicht. Ein erhaltenes Kampfflugzeug ist ausgestellt, andere Modelle stehen in nachgebauten Versionen da. Zu sehen sind die braunen Fliegeruniformen, Flaggen verschiedener Divisionen, Handgranaten. Die Beschriftungen sind knapp, erwähnen keine Opferzahlen. An Monitoren laufen Dokumentationen über die Piloten, nach dem immer selben Muster: Die Pflicht rief, junge Männer stellten sich den Zuständen der Welt, Familien verabschiedeten sie in stolzer Trauer. Einige Vitrinen sind den verstorbenen Fliegern gewidmet. Lieutenant Masanobu zum Beispiel. Ein großes Foto zeigt den Familienvater mit Frau und zwei Kindern, dazu eine Beschreibung.

„Liebe Mutter, es tut mir leid"

Seinen Abschiedsbrief habe Masanobu in der einfacheren japanischen Schriftart Katakana verfasst, weil seine damals drei- und fünfjährigen Kinder die schwierigeren Kanji-Schriftzeichen noch nicht erlernt hatten. „Werdet so groß wie euer Vater. Seid nicht neidisch auf die Väter anderer Kinder. Euer Vater ist ein Gott geworden. Vater kann nicht das Pferd sein, auf dem ihr reiten könnt. Ihr müsst für euch gegenseitig sorgen. Vater ist ein glücklicher Mann. Er reitet auf einer Bombe, die unsere Feinde wegfegen wird.“ Kamikaze heißt „göttlicher Wind“. Der 23-jährige Hiroshi Maeda, der am 3. April 1945 vor der Küste Okinawas in einen Flugzeugträger raste, fragte: „Wer wird für mich weinen, wenn ich sterbe?“

Der gleichaltrige Shinpei Sato, der eine Woche vor Maeda seine Mission antrat, schrieb: „Liebe Mutter, es tut mir leid, dass ich von meiner Kindheit an nichts getan habe, als dir Sorgen zu bereiten. Wenn ich meine Augen schließe, denke ich voller Wunder an meine Kindheit.“ Zum Ende seines langen Briefs schrieb Sato: „Nun gut, Mutter, ich werde im Yasukunischrein ruhen, der Schrein mit dem großen Tor, den wir auch schon gemeinsam besuchten.“

Yabushita galt als einer, der versagt hat

Kamikaze-Flieger
Kamikaze-Flieger

© laif

Keines der japanischen Heiligtümer ist umstrittener als dieser Schrein. Im Zentrum Tokios, nicht weit vom Parlament und der Altstadt entfernt, sind auf dem Gelände seit 1869 alle Japaner verewigt, die in Kriegen für ihr Land starben. Neben den 1036 Selbstmordpiloten sind auch 14 verurteilte Kriegsverbrecher der „Klasse A“ dort verewigt. Jener Teil der politisch-militärischen Führungsriege, der wegen „Verbrechen gegen den Frieden“ angeklagt wurde. So gilt der Schrein auch als Wallfahrtsstätte für jene, die an der kriegerischen Vergangenheit des Landes nichts Falsches sehen. Regierungsminister haben den Schrein schon besucht. Vor einigen Monaten auch Shinzo Abe, der Premierminister.

Zum 70. Jahrestag der japanischen Kapitulation hatte Shinzo Abe sich erstmals offiziell zur Kriegsvergangenheit seines Landes positioniert. Abe benutzte bisher unerhörte Begriffe wie „Aggression“, „tiefe Trauer“ und „innige Entschuldigung“. Er nannte auch erstmals Länder beim Namen, die von Japan brutal unterdrückt wurden. Allerdings erwähnte er zunächst die japanischen Opfer. Und wie jedes Jahr gingen Bilder von Ausschreitungen am Yasukunischrein um die Welt, zwischen rechten Pilgern, linken Kritikern und Polizisten. Und nun soll aus dem Friedensmuseum eine ähnlich umstrittene Pilgerstätte werden?

Von den 500000 Museumsbesuchern im Jahr stammen die meisten aus Japan. Große Gruppen kommen auch aus Taiwan und den USA, aber nur fünf Prozent der Besucher sind Ausländer. Dem Museum von Chiran fehlen internationale Kooperationen. Auch in China erinnern mehrere Museen an die Opfer des Zweiten Weltkrieges. Ebenso in den USA, wo auf Pearl Harbor eine riesige Gedenkstätte den japanischen Angriff auf den Militärstützpunkt dokumentiert.

Über Bewerbungen wird bald entschieden

Nahe der südkoreanischen Hauptstadt Seoul ist ein Museum den Frauen gewidmet, die an der japanischen Front Soldaten befriedigen mussten, den sogenannten Trostfrauen, von denen einige Überlebende heute noch für eine Entschädigung vom japanischen Staat kämpfen. Dafür, dass das Museum in Chiran seine Sammlung als Kulturerbe der ganzen Welt verstanden wissen will, ist die Ausrichtung sehr national. „Wir wollen unseren eigenen Beitrag leisten, um an die Opfer zu erinnern“, sagt Takeshi Kawatoko.

In diesen Tagen will Japans Kulturministerium entscheiden, welche von 16 nationalen Bewerbungen es für die internationale Wahl der Unesco nominiert. Die Briefe zählen zu den Favoriten. Takeshi Kawatoko aus dem Museum und Ikuo Yabushita hoffen, dass die Abschiedsbriefe ausgewählt werden. Denn diese würden einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung des brutalsten Kapitels des vergangenen Jahrhunderts leisten. Wenn auch einen einseitigen.

Ikuo Yabushita, der Todespilot, der fliegen wollte, aber nicht durfte, lädt zu sich nach Hause ein. Der 89-Jährige ist erstaunlich fit, steht aus dem Schneidersitz auf, um Fotoordner aus dem Regal zu holen. Sein kleines Haus im Norden von Tokio hat zwei Stockwerke. Auf das Obergeschoss ist er besonders stolz. Es erinnert an das Museum in Chiran. Auch hier hängen an den Wänden Bilder verschiedener Flugzeuge, daneben eines von Yabushita selbst, in Uniform und mit Fliegerbrille.

Politisch ist der Soldat nie gewesen

Anders als der ehemalige Soldat Takeshi Kawatoko, der nie im Krieg war, wollte Yabushita nach 1945 nichts mehr mit dem Militär zu tun haben. Seine Kenntnisse als Mechaniker, die er in der Kamikaze-Ausbildung erlernt hatte, nutzte er, um Schienen zu legen und das Land wiederaufzubauen. Aber an jene Zeit im Krieg, als er sich freiwillig als Flieger meldete, denkt er trotzdem nicht ungern zurück. „Wir Überlebenden treffen uns jedes Jahr und fahren ins Museum“, sagt Yabushita. Dann scherzen die Kameraden: „Ein Flugzeug kostete 45000 Yen. Für den heutigen Wert müsste man das mit dem Faktor 2000 multiplizieren. Deshalb sagten wir uns: Wir haben die teuersten Särge der Welt.“

Politisch sei er nie gewesen, sagt Yabushita. Nur eines sei ihm wichtig: dass Japan nie wieder einen Krieg führt. Von militärischer Aufrüstung hält er nichts. Yabushita geht es damit wie der Mehrheit der Japaner. Trotzdem sieht Ikuo Yabushita viel Gutes in den Kamikaze. „Kameradschaft, Mut, Pflichtgefühl“, zählt er auf. Das seien Tugenden, die bei der jungen Generation von heute fehlten. Ikuo Yabushita schlürft kalten Malztee, schweigt einen Moment und blättert durch eines der Fotoalben, das neben ihm auf der Tatamimatte auf dem Boden liegt. "Der Krieg, das waren andere Zeiten“, sagt er dann. Im Fernsehen gibt es regelmäßig Dokumentationen, die die Courage der Kamikaze-Piloten preisen. „Sie verdienen Respekt“, sagt Yabushita. Das Land dürfe diese mutigen Männer nie vergessen.

Die Schuld, überlebt zu haben

Mut brauchten 1945 aber auch all jene Männer, die sich dem Pilotendienst verweigerten, die nicht mitmachen wollten bei dem Krieg, weil sie ihn für den falschen Weg hielten. Ihnen drohten heftige Strafen. Und bis heute gesellschaftliche Ächtung.

Auch Yabushita galt in den Nachkriegsjahren als einer, der versagt hat. Von seinen Kameraden blieben die Briefe, geschrieben für die Ewigkeit. Ihn quält seit 70 Jahren die Schuld, überlebt zu haben.

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