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Mann mit der Maske. Aus Angst, sonst nicht mehr zur Ruine von Fukushima zurückkehren zu können, arbeitet Kazuto Tatsuta unter Pseudonym.

© Kodansha

Kazuto Tatsuta zeichnet im verstrahlten Gebiet: Im Kern von Fukushima

Kazuto Tatsuta zeigt, was die japanische Regierung lieber verschweigen will: Er zeichnet die Aufräumarbeiten in Fukushima – und verwischt die Grenze zwischen Unterhaltung und Journalismus.

Kazuto Tatsuta war fast pleite als in Japan plötzlich die Erde bebte. Seine Versuche als Mangaka, wie die Zeichner japanischer Comics genannt werden, waren fast alle gescheitert: nur hier und da ein paar Geschichten über Stripclubs und Baseball. Nicht die Genres, mit denen man Anerkennung erringt. „Das Zeichnen hatte ich damals schon fast aufgegeben“, sagt er heute. Er galt in der Szene als Gescheiterter: Mitte 40, keine Familie, keine festen Aufträge, nur reichlich glücklose Anläufe.

Das änderte sich erst an jenem 11. März 2011, als 20 Meter hohe Wellen über der Ostküste der Präfektur Fukushima hereinbrachen. Ein Tsunami, der 20 000 Menschen in den Tod riss, Hunderttausenden ihre Häuser nahm und Japan eine nukleare Katastrophe bescherte, die bis heute nachhallt. Im Atomkraftwerk Fukushima schmolzen drei Reaktorkerne. Für das Land eine Katastrophe, für Tatsuta ein Wendepunkt. Der heute 48-Jährige lehnt sich in seinen Schreibtischstuhl zurück und schlägt die Beine übereinander, als er davon erzählt. Denn es ist der Beginn einer Erfolgsgeschichte – seiner Erfolgsgeschichte.

Sein Büro hat Tatsuta nun in einem südlichen Vorort von Tokio. Früher unerschwinglich für ihn. Neben dem Schreibtisch, auf dem zahllose Pinsel und Stifte und Blätter liegen, stapeln sich Bücher vor einem Fernseher. Seit fast einem Jahr ist Kazuto Tatsuta, ein unscheinbarer Typ mit Lesebrille, einer der gefragtesten Mangaka in ganz Japan. In der Comicserie „Ichi-efu“ versorgt er das Land mit seinen Erfahrungen als Arbeiter auf dem Gelände des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi, zu dem der umstrittene Betreiber Tepco seit vier Jahren den Zugang beschränkt und gemeinsam mit der Regierung systematisch Informationen zurückhält.

Jene Atomruine, aus der täglich Radioaktivität in Grundwasser und Ozean sickert, kennt Kazuto Tatsuta von innen. Vielleicht besser als jeder Journalist. Die Japaner sind begierig auf seine Geschichten. Denn sie liefern ein Bild aus dem Epizentrum der nationalen Angst, das von Politik, Zeitungen und Fernsehen allzu oft kleingeredet wird.

59 Euro gab es für die Arbeit im Katastrophengebiet

Dabei war es anfänglich nur die Aussicht auf ein sicheres Einkommen, die Tatsuta bewog, sich in den Wochen nach der Kernschmelze den Trupps von Hoffnungslosen anzuschließen, die bereit waren auf dem verseuchten Reaktorgelände zu arbeiten. Umgerechnet zwischen 15 und 22 Euro pro Stunde versprach eine Zeitungsannonce. Wochenlang wartete Kazuto Tatsuta in der Nähe von Fukushima-Stadt, 60 Kilometer westlich des Kraftwerks auf seinen Einsatz. Er schlief in einem Sechsquadratmeterzimmer mit drei Hochbetten, für das er nächtlich umgerechnet rund 7,50 Euro aus eigener Tasche bezahlen musste.

An einem späten Nachmittag schließlich bollerte ein Mitarbeiter an die Tür des Hochbettkabuffs. Es folgte eine knappe Einweisung in militärischem Ton, am selben Abend sollte er mit dem Auto ins ärgste Strahlengebiet Japans fahren. Sein erster Job. Für eine ganze Schicht gab es 8000 Yen – rund 59 Euro, deutlich weniger als die Annonce versprochen hatte.

„Von den Reinigungsarbeitern, die aus den Reaktoren kamen, sollte ich mit dem Geigerzähler Strahlungswerte abnehmen. Ich wartete bei der Umkleidekabine auf sie.“ Tatsuta hat die Morgenschicht von sechs bis eins. Weniger als ein Prozent der Messungen, sagt er, überschritten den Grenzwert. Doch wie alle muss auch Tatsuta die mehrschichtigen Schutzanzüge tragen. Von seinem gefederten Schreibtischstuhl steht er auf und macht es noch einmal nach: erst das rechte Bein in den Stiefel mit angeschweißtem Hosenbein, dann das linke, Reißverschluss zu, Handschuhe drüber, Helm auf, Maske festziehen.

Nach ein paar Monaten ging es zum ersten Mal in den Kern des Kraftwerks. In Reaktor 3 sollte Tatsuta leckende Rohre reparieren, unter großer Hitze, in schweren Anzügen, aber für umgerechnet rund 150 Euro am Tag. „Man hielt es nur 60 Minuten da drinnen aus“, erzählt er.

Nach zwei Monaten hat sein Körper 20 Millisievert Strahlung aufgenommen, die maximal erlaubte Radioaktivität pro Jahr. Tatsuta musste nach Hause, doch in seinem Kopf hatten sich nun unzählige unerzählte Geschichten angesammelt. Geschichten, die die japanische Regierung lieber unter Verschluss hält.

Wie die Pressefreiheit in Japan beschnitten wird

Mann mit der Maske. Aus Angst, sonst nicht mehr zur Ruine von Fukushima zurückkehren zu können, arbeitet Kazuto Tatsuta unter Pseudonym.
Mann mit der Maske. Aus Angst, sonst nicht mehr zur Ruine von Fukushima zurückkehren zu können, arbeitet Kazuto Tatsuta unter Pseudonym.

© Kodansha

Ende 2013 wurde unter Premierminister Shinzo Abe ein neues Staatsgeheimnisgesetz verabschiedet. Die Regierung kann nun Informationen als vertraulich einstufen lassen. Journalisten, die dennoch darüber berichten, drohen hohe Haftstrafen. Der Chefposten des öffentlichen Rundfunks wurde mit einem Vertrauten Abes besetzt. In der internationalen Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ ist Japan seit Abes Amtsantritt Ende 2012 um 37 Plätze abgerutscht. Doch das Interesse der Japaner mehr über die Wirklichkeit in der verstrahlten Ruine zu erfahren, ist ungebrochen. Monatelang gingen die Bürger vergeblich auf die Straße, um gegen die Einschnitte in der Pressefreiheit zu demonstrieren. Vor Tatsutas Augen tat sich ein Markt auf, den er nur noch erobern musste.

Der Mangaszene haftet auch in ihrer Heimat Japan ein Ruf des Verschrobenen, Realitätsfernen an. Die japanische Sprache kennt für Fans der Comics einen eigenen Namen: „otaku“ – freundlich gesagt bedeutet das so viel wie „Liebhaber“. Treffender übersetzt aber eher „Freak“.

Doch was, wenn der Freak authentischer berichtet als die Journalisten, die Comicbilder näher an der Wahrheit sind, als die Fernsehbilder? Dann verschwimmt die Grenze zwischen Unterhaltung und investigativer Recherche.

Ich-Geschichten aus dem Alltag

Seit Sommer 2014 zeichnet Tatsuta seine Erlebnisse aus dem Strahlengebiet auf. Kleine Ich-Geschichten aus seinem Arbeitsleben. In ihnen stellt er jedoch nicht die Frage nach dem besten Energiemix oder der kritischen Verbindung zwischen Tepco und der Regierung. Es geht um die Angst der Kraftwerksarbeiter, die Freundschaften, die er mit seinen neuen Kollegen schließt, abrupte Vorbereitungen auf neue Arbeitseinsätze, die schweren Schutzanzüge und die Hierarchien der verschiedenen Subunternehmen auf dem Gelände, die für den Kraftwerksbetreiber die Drecksarbeit machen und denen Verbindungen zur japanischen Mafia nachgesagt werden. Geschichten, die anderswo nicht zu haben waren und die deshalb schnell zu einem riesigen Erfolg wurden. Tatsuta, der Gescheiterte, wurde zum Star.

Allerdings einem anonymem. Kazuto Tatsuta ist ein Künstlername. Nicht einmal seinen engsten Freunden hat er erzählt, was er macht. Die Arbeiter von Fukushima dürfen nur wenig über ihren Job verraten. Wer zu viel redet, kann rausfliegen. Das kann Tatsuta nicht riskieren. Nicht jetzt, da die Katastrophe ihm ermöglicht hat, ein Mangaka zu sein.

Die Anonymität bedauert er nur manchmal. Einmal stand er in einem Buchladen, als Kunden in seinem Buch blätterten und es dann kauften. Tatsuta sah die Begeisterung um sein Werk ruhig mit an, wieder als Beobachter, inkognito, ähnlich wie in der Atomruine „ Das sei eben der Preis des Erfolges“, sagt er.

Tradition des Tabubruchs: Warum Mangas mehr Freiheiten haben

Mann mit der Maske. Aus Angst, sonst nicht mehr zur Ruine von Fukushima zurückkehren zu können, arbeitet Kazuto Tatsuta unter Pseudonym.
Mann mit der Maske. Aus Angst, sonst nicht mehr zur Ruine von Fukushima zurückkehren zu können, arbeitet Kazuto Tatsuta unter Pseudonym.

© Kodansha

Und der Erfolg ist gewaltig. „Bei unseren Lesern ist ,Ichi-efu‘ eine der beliebtesten Serien überhaupt“, sagt Kenichiro Shinohara. Er ist Redakteur des großen japanischen Magazins „Morning“ und war von Beginn an von Tatsutas Material überzeugt. Er war es auch, der die Veröffentlichung als Serie plante. Der Name „Ichi-efu“ ist eigentlich nur die Abkürzung für das Kraftwerk Daiichi in Fukushima. Für hunderttausende Leser ist er zum Synonym geworden für einen Blick in das Innere des nationalen Traumas. „Es freut mich auch, dass wir zeigen können, dass Mangas zu vielem in der Lage sind, was andere Medien nicht können“, sagt Kenichiro Shinohara am Telefon. Allein sein Magazin setzt wöchentlich 500 000 Exemplare ab, und es ist bei Weitem nicht das einzige große Medium. Rund 400 Milliarden Yen (rund 2,97 Milliarden Euro) werden pro Jahr mit Mangamagazinen und -taschenbüchern umgesetzt. Rechnet man all die animierten Filme und Serien sowie Videospiele hinzu, die aus den Mangas entstehen, belaufen sich die jährlichen Umsätze sogar auf drei Billionen Yen (rund 22,3 Milliarden Euro). Mangas sind vor allem dort erfolgreich, wo konventionelle Zeitungen und Fernsehsender zu zögerlich, zu vorsichtig berichten.

300 000 Mangas stehen in ihrer Museums-Bibliothek

„Diese Lücke ist wie für Mangas gemacht“, sagt Jacqueline Berndt. Die gebürtige Jenaerin ist Professorin für Comictheorie an der Manga-Fakultät der Seika Universität in Kyoto. Ihr Büro hat sie im obersten Stockwerk des Mangamuseums in Kyotos Stadtzentrum, gut 500 Kilometer südwestlich vom Kraftwerk in Fukushima. Mit 300 000 Ausstellungsexemplaren auf den Gängen hat Berndt hier Zugriff auf die geballte Geschichte des Genres.

„Es gibt eine lange Tradition, über Themen zu zeichnen, die anderswo tabu sind“, sagt sie. In den 1970er Jahren gelangte etwa „Hadashi no Gen“ („Barfuß durch Hiroshima“) zu Berühmtheit, eine Geschichte über den ängstlichen Umgang mit den Überlebenden der Atombombe von Hiroshima Ende des Zweiten Weltkriegs, die es auch in den Bildungskanon schaffte. Heute füllen Werbeposter mit sich küssenden Jungs die Wände der großen Mangahandlungen, während weder in den Mainstreammedien noch in der Politik wirklich über Homosexualität gesprochen wird.

Jacqueline Berndt, eine Frau mit lässiger Kleidung und einem prüfenden Blick in den Augen, sieht einen Grund dafür gerade in der Geringschätzung, die der Branche entgegengebracht wird. „Die Zeichner sahen sich nie als herkömmliche Künstler, und sie haben mit dem staatsgetragenen Kunstbetrieb auch wenig zu tun.“ Die Art, wie viele Mangas gemacht sind, erlaubt es ihnen, dem staatlichen Einfluss zu entgehen. „Die Geschichten sind meistens an Einzelschicksalen aufgezogen und beschreiben, wie sich der Lebensweg einer Person entwickelt.“ Ein Manga über einen Räumungsarbeiter im havarierten AKW von Fukushima könne man deshalb als Kritik der Umstände vor Ort verstehen und an der Politik, die das zugelassen hat. Oder eben als bloße Biografie einer der Figuren.“

Auch Kazuto Tatsuta will niemanden von den Gefahren der Atomkraft überzeugen. Er sieht sich nicht als Agitator. „Ich will nur, dass die Leute wissen, wie der Alltag im Kraftwerk heute ist. Egal welcher Meinung man ist, die Vorgänge da drinnen sind wichtig für die Zukunft unseres Landes.“

Dann nimmt er einen dünnen Stift, führt ihn in beachtlichem Tempo über das weiße Papier vor ihm. Binnen Minuten hat er sich selbst im Schutzanzug gezeichnet. Laut der Strahlenregulierung darf er in einem Monat wieder aufs Kraftwerksgelände.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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